Hast du eine Allergie? Dann gehörst du zu den 31 Prozent der Menschen in Deutschland, die auf diese Frage mit Ja antworten. Hast du den Eindruck, dass immer mehr Menschen auf eigentlich harmlose Stoffe mit laufender Nase, tränenden Augen, Husten, Hautausschlägen oder Verdauungsbeschwerden reagieren? Damit liegst du richtig. Vor circa 15 Jahren gab nur jede:r fünfte bis vierte Deutsche an, Allergiker:in zu sein. Heute ist es fast jede:r dritte.
Die Zahlen in diesem Absatz stammen aus folgenden Quellen: Gesundheitliche Lage von Erwachsenen in Deutschland aus dem Jahr 2021 und Atlas der Allergieforschung aus dem Jahr 2008.
Damit könnte die Frage von Krautreporter-Leserin Valerie eigentlich schon beantwortet sein. Sie wollte wissen: Nehmen Allergien wirklich zu, Heuschnupfen zum Beispiel? Zahlen aus wissenschaftlichen Untersuchungen sagen uns: Ja, das ist so. Aber hinter dieser Antwort steckt mehr, als es scheint. Erstens, weil gar nicht klar ist, ob alle Menschen, die über allergische Symptome wie etwa Hautausschläge, Übelkeit, Bauchschmerzen oder sogar Luftnot berichten, wirklich eine Allergie haben. Zweitens, weil sogar noch mehr Menschen eine Allergie haben könnten, als bekannt ist. Und drittens, weil in Valeries Frage noch eine zweite steckt, nämlich: Warum sind immer mehr Menschen davon betroffen?
Valerie vermutet, dass Allergien heute vielleicht besser diagnostiziert werden können, als früher und deswegen mehr Menschen diese Diagnose bekommen. Doch dafür konnte ich bei meiner Recherche keine Belege finden. Eher stimmt das Gegenteil: Es wird zu wenig diagnostiziert. Mir fiel auch auf, dass Studien, die der Frage nachgehen, wie viele Menschen in Deutschland von Allergien betroffen sind, sie einfach danach fragen. Etwa so, wie ich dich zu Beginn dieses Artikels nach deinen Allergien gefragt habe, lassen die Forscher:innen Menschen selbst beurteilen, ob die Symptome, die sie haben, allergische sind.
Solche Selbstauskünfte sind aber ziemlich unzuverlässig. Besser wäre es, wenn Forscher:innen die bestätigten Allergien zählen würden, also die Menschen, die eine gesicherte Diagnose erhalten haben. Das müssten sie dann regelmäßig und über einen längeren Zeitraum tun, um die sogenannte Prävalenz zu bestimmen und um zu schauen, wie sie sich über die Zeit verändert. Die Prävalenz gibt Auskunft darüber, wie häufig eine bestimmte Erkrankung in der Bevölkerung vorkommt und wen sie betrifft. Doch Daten zur Zahl der diagnostizierten Allergien konnte ich nur wenige finden.
Das alles sagt einiges darüber, wie Deutschland mit dem Allergieproblem umgeht. Kurz gesagt: nicht professionell.
Viele nehmen Allergien nicht so ernst – das ist ein Fehler
Allergien werden oft unterschätzt. Kein Wunder: Begriffe wie Schnupfen, Husten und tränende Augen verbinden viele Menschen mit harmlosen Erkältungen. Heuschnupfen ist so weit verbreitet, dass die Nachricht vom besten Freund, der seit Kurzem auch einen hat, kaum Mitgefühl auslöst.
Doch der Fall meiner Nachbarin zeigt, dass Allergien die Lebensqualität massiv einschränken. Sie kennt ihren Heuschnupfen seit der Kindheit, aber seit einigen Jahren fangen ihre Augen schon im Februar an zu jucken und die Nase läuft bis November ununterbrochen. Früher ging es ihr höchstens ein halbes Jahr lang schlecht, inzwischen drei Viertel des Jahres. Vor einigen Jahren erlebte sie einen sogenannten Etagenwechsel. Dabei wandert die Symptomatik entlang der Atemwege in die Lunge. Seitdem hat sie allergisches Asthma. Oft fühlt sie sich wie erschlagen.
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Besonders belastend findet sie, dass es kaum Aussicht auf Besserung gibt. Eine Hyposensibilisierung schlug bereits fehl. So nennen sich spezifische Immuntherapien, die den Körper nach und nach an den Auslöser gewöhnen sollen, mit dem Ziel, irgendwann nicht mehr allergisch darauf zu reagieren. Meine Nachbarin nimmt jetzt fast das ganze Jahr hindurch Medikamente, um die Symptome zu lindern. Die frei verkäuflichen aus der Apotheke wirken bei ihr nicht mehr oder haben zu viele Nebenwirkungen, die sie zusätzlich belasten. Deshalb muss sie ständig zum Arzt, um sich Rezepte für Cortisonsprays und Antihistaminika (Medikamente, die die Immunreaktion unterdrücken) zu holen.
Am besten wäre es, sie würde die auslösenden Stoffe (Allergene) vermeiden. Doch wie soll das gehen, wenn Gräser- und Baumpollen durch die Luft fliegen, sich in den Haaren festsetzen, sich dadurch auf ihrem Kopfkissen verteilen und so auch nachts bei geschlossenen Fenstern in die Atemwege gelangen? Für sie ist klar: Ihre Allergie ist der reinste Psychoterror.
Allergien betreffen unterschiedliche Menschen unterschiedlich
So wie meiner Nachbarin geht es sehr vielen Menschen. Circa 15 Prozent der Erwachsenen berichten, einen Heuschnupfen zu haben, meist schon seit ihrer Schulzeit. Immer mehr Kinder leiden darunter. Von knapp neun Prozent im Jahr 2008 (KIGGS-Basiserhebung Allergie )stieg der Anteil innerhalb von zehn Jahren auf elf Prozent (KIGGS Welle 2). Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen, Kinder in den westlichen Bundesländern häufiger als Kinder in den östlichen, Kinder aus der Mittel- oder Oberschicht häufiger als Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen.
Die aktuellen Zahlen für andere allergische Erkrankungen bei Kindern unterscheiden sich von denen für Heuschnupfen: Asthma sechs Prozent, Neurodermitis knapp 13 Prozent und allergisches Kontaktekzem circa drei Prozent. Bei den Erwachsenen sind die Zahlen für die jeweiligen Allergieformen wieder andere. So sind zum Beispiel häufiger Frauen mit höheren Bildungsabschlüssen von Heuschnupfen betroffen. Wer in einer Großstadt lebt, hat ebenfalls ein höheres Risiko für eine Allergie.
Insgesamt sind Allergien so verbreitet, dass sie als Volkskrankheit gelten. Interessant ist aber, dass die Zahl der diagnostizierten Allergien seit einigen Jahren nicht weiter steigt (Quelle: Verbreitung von Allergien, 2016). Das klingt paradox, hat aber wohl vor allem mit dem Gesundheitswesen und seinen Problemen zu tun. Dazu kommen wir gleich noch.
Es ist nicht abschließend geklärt, warum jede:r Dritte im Laufe seines Lebens eine Allergie bekommt, aber es gibt eine Reihe von begünstigenden Faktoren.
Allergie ist, wenn das Immunsystem etwas anderes tut, als es soll
Das Wort stammt aus dem Griechischen und bedeutet „andere Tätigkeit“. Gemeint ist das Immunsystem. Es tut bei einer Allergie etwas anderes als es soll. Warum das passiert, ist immer noch nicht vollständig geklärt.
Grob gesagt hat das Immunsystem die Aufgabe, körperfremde Moleküle von körpereigenen zu unterscheiden und schädliche unschädlich zu machen. Dazu stehen ihm verschiedene Waffen in Form von Immunzellen und anderen körpereigenen Substanzen zur Verfügung. Bei einer Allergie setzt es diese Waffen leider gegen harmlose Stoffe ein. Sie sind die Auslöser (Allergene) einer überschießenden Immunreaktion. Dabei verläuft der erste Kontakt mit dem Allergen für die Betroffenen noch unauffällig, obwohl schon zu diesem Zeitpunkt das Immunsystem alarmiert wird: Es bildet auf das Allergen passende Antikörper der Klasse E (IgE). Das nennt sich Sensibilisierung, man kann sie durch Blutuntersuchungen feststellen. Bei circa der Hälfte der Menschen fand man bei einer Untersuchung im Jahr 2016 eine solche Sensibilisierung. Aber nicht alle Menschen, die sensibilisiert sind, zeigen allergische Symptome. Sie können auch erst bei einem der späteren Kontakte mit dem Allergen auftreten, manchmal auch erst bei einem Kontakt nach vielen Jahren. Oder auch: gar nicht.
Wichtig: Ein Bluttest allein reicht nicht, um eine Allergie zu diagnostizieren. Er sagt lediglich etwas über die generelle Allergiebereitschaft aus. Das heißt: Findet man dabei keine IgE, kann man eine Allergie ausschließen; findet man welche, ist das aber noch kein Beleg für eine Allergie.
Eine Allergie festzustellen, ist aufwändig
Die Allergie-Diagnostik besteht aus vier Elementen und stützt sich auf die individuelle Krankengeschichte (Anamnese). Deshalb ist es eine gute Idee, bei Symptomen ein Allergietagebuch zu führen (zum Beispiel ein Heuschnupfentagebuch)und es beim Arztbesuch dabei zu haben. Bei einem Hauttest werden verschiedene Auslöser auf die Haut aufgetragen und mit einer kleinen Nadel in die Haut gestochen (Prick-Test). Wird die Haut nach einigen Minuten rot oder bildet sich eine Quaddel, zeigt sich anhand des Ausmaßes der Reaktion, wie allergiebereit der Körper bei einem Kontakt mit dem Allergen ist. Es gibt auch noch andere Hauttests, aber dieser ist der gängigste. Schließlich zeigt ein Provokationstest, ob die betroffenen Organe wirklich auf das vermutete Allergen reagieren oder ob ihre Probleme andere Ursachen haben.
Pollen sind nicht die einzigen Auslöser für Allergien. Auch Schimmelpilze, Hausstaubmilben, Haustierhaare oder -speichel, Insektengift, Nahrungsmittel, Medikamente oder andere Stoffe, wie zum Beispiel Duftstoffe oder Metalle, können zu einer Allergie führen.
Warum nehmen Allergien zu?
Diese Frage verdient eigentlich einen eigenen Artikel. Auf einen Satz zusammengedampft: Wenn genetische Anfälligkeit mit einer Zunahme von Einflussfaktoren zusammentrifft, steigt das Allergierisiko. Eine Reihe von Umweltfaktoren begünstigen Allergien.
Dazu gehören Faktoren, die mit dem Lebenswandel in modernen Industrienationen zu tun haben: Luftschadstoffe (Dieselruß, Ozon, Stickoxide, Tabak), übertriebene Hygiene, zu wenig Vielfalt bei Nahrungsmitteln, ungesunde Lebensmittelbestandteile, zu wenig Kontakt mit bestimmten Bakterien in der Kindheit (vor allem im ersten Lebensjahr, zum Beispiel durch eine Kaiserschnittgeburt), verändertes Mikrobiom des Darms, der Lunge und der Haut (zum Beispiel durch zu viele Antibiotika in der Kindheit).
Andere Faktoren hängen mit dem Klimawandel zusammen, wie zum Beispiel einer verlängerten Pollenflugsaison, Einwanderung von neuen Pflanzenarten (zum Beispiel Ambrosia), steigenden Temperaturen oder abnehmender Biodiversität.
Aber auch das Wissensdefizit spielt eine Rolle. Bei bekannter Allergieneigung in der Familie kann man für Babys und Kleinkinder einiges tun, um ihr Risiko für eine Allergie zu senken. Das ist in dieser Leitlinie zusammengefasst. Der wesentliche Punkt: möglichst früh Kontakt zu Allergenen suchen. Dafür brauchen Kinder, vor allem in den Städten, mehr sichere und möglichst naturnahe Spielumgebungen und eine möglichst vielfältige Ernährung. Das hilft dem Immunsystem, sich gesund zu entwickeln.
Was Deutschland (nicht) gegen Allergien tut
Prävention, Diagnostik und Behandlung von Allergien sind in Deutschland lange vernachlässigt worden. Nur zehn Prozent der Betroffenen werden gemäß der aktuellen medizinischen Leitlinien behandelt. Es gab in den letzten Jahren einige Initiativen, dies zu ändern. 2020 stellte zum Beispiel die Grünen-Fraktion im Bundestag einen Antrag (der sehr lesenswert ist), in dem sie (vergeblich) ein Aktionsprogramm forderten. Denn Allergien haben nicht nur einen hohen Preis für die Betroffenen, sondern sind auch teuer für alle anderen. 1,2 Milliarden Euro geben die Krankenkassen allein für die Behandlung von Heuschnupfen im Jahr aus. Dazu kommen weitere 400 Millionen Euro, die durch den Arbeitsausfall der Betroffenen entstehen. Ähnlich sieht es bei Neurodermitis und Asthma aus.
Ein großes Problem ist, dass Allergien oft zu spät diagnostiziert werden. Das verkompliziert die Behandlung und verschlechtert die Prognose. Spezielle Fachärzt:innen für Allergologie gibt es nicht überall und Allgemeinärzt:innen können meist nicht die vollständige Allergiediagnostik anbieten. Dazu kommt, dass die Allergenlösungen für die Diagnostik seit etwa 20 Jahren strengere Qualitätskriterien erfüllen müssen. Für die Hersteller lohnt sich die Produktion oft nicht mehr und sie beantragen immer weniger Zulassungen dafür.
Gleichzeitig stagniert die Vergütung für Ärzt:innen, die Allergien diagnostizieren und immer weniger machen eine entsprechende Fachweiterbildung. Für diese Weiterbildung wurden 2018 auch noch die Rahmenbedingungen verändert, was dazu führt, dass die Ausbildung inzwischen kürzer ist und nach Ansicht der Fachgesellschaften weniger gut für die Aufgabe qualifiziert. Damit geht Deutschland einen Sonderweg, denn in vielen anderen Ländern ist die Weiterbildung für Allergolog:innen auf drei Jahre angelegt.
All das sind keine guten Nachrichten für Allergiker:innen. Und wird wohl dazu beitragen, dass ihre Zahl weiter steigt.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert