Das innere Kind lauert überall. Auf Focus Online wird mir gesagt, Blockaden wären Teil meines ungeheilten inneren Kindes. Spotify zeigt mir Podcasts mit geführten Meditationen zum inneren Kind an. Beim Magazin Brigitte finde ich drei Wege, wie ich meinem inneren Kind etwas Gutes tun kann.
Seit Stefanie Stahls Buch „Das Kind in dir muss Heimat finden“ 2016 erschien (das mittlerweile in der 390. Woche! auf der Spiegel-Bestsellerliste steht), taucht der Begriff überall auf. Manche Psychotherapeut:innen arbeiten damit und natürlich auch Coaches.
Als Reporter für psychische Gesundheit beschäftige ich mich immer wieder mit verschiedenen Lösungsansätzen und -versprechen, mit denen persönliche Krisen und psychische Erkrankungen bekämpft werden sollen. Ich habe untersucht, ob Stromschläge oder LSD meine Depressionen heilen können und wie Antidepressiva wirken.
Kaum ein Versprechen scheint dabei so groß zu sein wie das des inneren Kindes. Die Idee: Wenn wir als Erwachsene unser inneres Kind besser verstehen, können wir besser mit unseren Gefühlen umgehen. Das innere Kind stehe dabei für die Emotionen, Erinnerungen und Erfahrungen aus der eigenen Kindheit. Und weil Kindheiten nicht immer reibungslos verlaufen, geht es auch um negative Erfahrungen. Ein liebevoller Umgang mit dem inneren Kind verspricht: Heilung.
Vor einigen Wochen entschied ich mich, diesem Versprechen nachzugehen. Ich wollte wissen: Wie seriös ist die Arbeit mit dem inneren Kind? Wer macht das eigentlich? Und kann das wirklich helfen? Meine Suche führte mich in ein Online-Seminar, an dem schon mehr als 30.000 Menschen teilgenommen haben sollen. Und mitten hinein in die fragwürdigen Methoden der deutschen Coachingszene.
Das habe ich gesucht: ein Kurs zur Heilung meines „inneren Kindes“
Ich möchte verstehen, ob die Beschäftigung mit dem inneren Kind wirklich helfen kann. Also beginne ich bei denjenigen, die genau das versprechen. Über Instagram finde ich das Profil von Markus Asano. Er nennt seinen Account „inneres_kind_heilen“, hat einen eigenen Podcast zum inneren Kind, mit nach seinen Angaben über einer Million Downloads. Asano betreibt eine Facebook-Gruppe mit über 25.000 Mitgliedern und bietet auf seiner Webseite ein siebenwöchiges Transformationsprogramm für 590 Euro an. Er ist derjenige, den ich gesucht habe.
Die Teilnehmer:innen seines Transformationsprogramms scheinen begeistert zu sein. Asano hat auf seiner Webseite Screenshots mit Rezensionen veröffentlicht. Jemand habe das erste Mal seit vielen Jahren Therapie nicht nur Handwerkszeug bekommen, sondern konnte Veränderungen erreichen. Auf einem weiteren Screenshot schreibt jemand, die Workshops und Meditationen hätten ihm oder ihr mehr gebracht als psychotherapeutische Sitzungen.
Ich werde hellhörig, denn: Seit meiner Kindheit kämpfe ich mit rezidivierenden, also wiederholt auftretenden Depressionen, muss ungefähr alle zweieinhalb Jahre in die Psychiatrie und bin seit 2017 in psychotherapeutischer Begleitung. Auch ich suche nach Lösungen, denn diese Krankheit ist nicht nur gefährlich, sondern sie verhindert auch, dass ich Liebesbeziehungen führen kann. In den FAQs von Asanos Webseite steht zwar, jegliche Inhalte seien nicht dazu bestimmt, einen Arzt/eine Ärztin, Therapeuten/Therapeutin oder ähnliches zu ersetzen. Die von ihm ausgewählten Rezensionen suggerieren mir aber: Genau das ist möglich.
Da ich mir sein 590-Euro-Programm nicht leisten kann, suche ich auf Asanos Webseite nach kostenlosen Angeboten und finde einen Onlinekurs: „Dein Inneres Kind heilen“. Die Teilnehmer:innenzahl sei begrenzt, steht auf der Seite, und das Seminar habe eigentlich einen Wert von 90 Euro. Über 30.000 Teilnehmer:innen seien begeistert. In diesem Kurs werde ich die geheimen Schlüssel erfahren, um mein „Inneres Kind“ zu heilen. Jackpot.
Auf der Webseite führt Asano aus, an wen sich sein Kurs richtet. Zum Beispiel:
- wer sich selbst oft kritisiere oder mit anderen vergleiche
- wer versuche, es allen recht zu machen
- wer an seinen Fähigkeiten zweifele
Ich frage mich: Auf wen trifft das eigentlich nicht zu? All das seien Folgen von Verletzungen in der Kindheit, schreibt Asano weiter. Und all das könne sein Kurs auflösen. Endlich! Ich melde mich an, für den nächsten Tag sind nur noch drei Plätze frei.
Markus Asano berührt die Herzen der inneren Kinder
Am nächsten Tag öffne ich den Laptop und atme tief ein, als ich auf den Einladungslink klicke. Ich habe ausgeschlafen, die Sommerhitze wird durch das leise Brummen meines Ventilators aufgelockert und ich bin gespannt, ob die Arbeit mit dem inneren Kind ein weiteres Puzzlestück im Umgang mit psychischen Erkrankungen sein kann.
Auf meinem Bildschirm startet ein Timer, noch zwei Minuten bis zur großen Transformation. Die letzten Sekunden laufen ab und Verena sitzt vor mir. Sie trägt einen Pulli, auf dem steht: „#transformation ist möglich“. Im Chat begrüßen mich Charlotte aus Trier und Anja aus München. Ganze 167 Teilnehmer:innen sind zusammengekommen. Ich grüße erstmal nicht aus Berlin zurück.
Verena spricht nicht von sich, sondern von Markus, den sie unter anderem so vorstellt: „Er berührt die Herzen der Menschen und die der inneren Kinder.“ Ich finde es seltsam, dass mein inneres Kind ein Herz haben soll. Asano habe Philosophie und Psychologie studiert. Seit mehr als 19 Jahren würde er sich intensiv mit der Inneres-Kind-Arbeit beschäftigen.
In seinen Seminaren und Einzelcoachings habe Asano Tausende Menschen in ein glückliches und zufriedenes Leben begleitet. Verena kündigt eine gemeinsame Transformationsmeditation an: „Das ist eine magische Reise, auf die dich Markus mitnimmt, auf der du deinem inneren Kind begegnen kannst.“ Eine magische Reise? Das erinnert mich an den Kurs, den ich bei Laura Malina Seiler gemacht habe, einer der bekanntesten Influencer:innen der spirituellen Szene. Auch bei ihr sind Dinge öfter magic. Aber die Menschen im Livechat, Gabriele, Ralf und Elisabeth, scheinen ready und voller Vorfreude.
Der Star ist da!
Markus Asano trägt Mütze, Bart und schwarze Kleidung. Eigentlich sieht er aus wie ich. Ich sei hier richtig, wenn ich belastende Gefühle auflösen möchte, wie zum Beispiel Angst, Wut, Trauer, Einsamkeit, Selbstzweifel oder Schuldgefühle, sagt er. Heute ginge es darum, wie ich aufhören könne, negativ über mich selbst zu denken. All das möchte ich – eigentlich schon immer.
Höher hätte Asano seinen Kurs nicht hängen können. Schließlich hat er alle Gefühle aufgezählt, die Menschen Schwierigkeiten bereiten und macht Hoffnung, all das auflösen zu können.
Markus erzählt seine eigene Geschichte, und berichtet von seiner persönlichen Lebenskrise vor 19 Jahren, in der eine Beziehung endete, er wenig Selbstwertgefühl hatte und in einer sehr depressiven Stimmung war. Eine Minute später setzt Asano noch einen drauf, er wäre wirklich „komplett depressiv“ gewesen und hätte nicht mehr weitergewusst.
Wenn jemand diese Worte in den Mund nimmt, höre ich genauer hin. Denn eine Depression ist kein Mückenstich, sondern eine ernsthafte, potenziell tödliche Erkrankung, die ärztlich diagnostiziert werden muss und Menschen monatelang lahmlegen kann.
Allerdings spricht Asano darüber nicht in einer Selbsthilfegruppe, sondern in seinem Kurs, in dem er atemberaubende Heilsversprechen macht. Er habe dann eine Therapie und ein Coaching gemacht und meditiert. „Bin aber auch sehr schnell zur inneren Kinderarbeit gekommen, wo ich heute sehr, sehr dankbar bin dafür.“
Im Chat schreibt Sophie, ihr Neffe sei gerade drei Monate alt, sie wolle als Tante ein gutes Vorbild sein, weil bei ihr viel falsch gemacht wurde als Kind. Ich frage nach: „Oh nein. Geht es dir heute gut?“ Sophie antwortet mir nicht.
„Vermutlich, wenn du jetzt hier in dem Seminar bist, bist du zumindest nah dran an dem Moment, dass du auch bereit bist, bei dir hinzugucken“, sagt Markus Asano. „Weil sonst wärst du nicht in einem Innere-Kind-Seminar. Das setzt ja schon voraus, dass man sich zumindest in Gedanken öffnet, dass seine Probleme etwas mit der eigenen Kindheit zu tun haben könnten.“ Die Menschen im Chat stimmen zu.
Ich aber habe meine Kindheit unzählige Male reflektiert und analysiert, und ich weiß längst, dass meine Erkrankung ihren Ursprung auch in meiner Kindheit hat. Das Konzept des inneren Kindes brauchte ich dafür bisher nicht. Hätte es mir geholfen?
Nach 20 Minuten erklärt Asano endlich, was er mit dem inneren Kind meint: Die verletzten Anteile in uns selbst, denen wir begegnen. Ich stehe auf und mache mir in der Küche eine neue Tasse Kaffee. Ich denke an die Menschen, die sich für dieses Seminar anmelden und das nicht aus journalistischem Interesse tun. Die wegen des Versprechens, Angst, Wut, Trauer, Einsamkeit, Selbstzweifel oder Schuldgefühle aufzulösen, große Hoffnungen haben. Die in ihrer Kindheit traumatisiert wurden, vielleicht sogar psychisch krank sind und die Rezensionen auf der Webseite gesehen haben.
Zurück am Schreibtisch spricht Asano darüber, wie sehr uns Kindheitserlebnisse im Erwachsenenleben prägen. Er benutzt dafür das Bild eines Eisberges als Metapher für die menschliche Psyche, bei dem nur die Spitze über das Wasser ragt, das, was wir bewusst erleben, aber der Großteil – unsere Prägungen, das Unterbewusste – unter Wasser ist.
Asano stellt eine unhaltbare Behauptung auf
Asano bringt ein Beispiel: Es geht um Claudia, die zwischen 30 und 40 Jahre alt sei und eigentlich gerne „Nein“ sagen wolle. Wenn in ihrem Bewusstsein noch eine kleine Claudia sitze, die Angst habe, nein zu sagen, weil dann etwas ganz Schlimmes passiere, dann würde das innere Kind die Entscheidungen treffen. Ich muss mir den letzten Satz auf der Zunge zergehen lassen. Asano hat gerade unsere Prägungen und unser Unterbewusstsein mit dem inneren Kind gleichgesetzt und dem sogar Entscheidungsgewalt zugesprochen.
Mir ist klar, dass die Erfahrungen in der Vergangenheit mein heutiges Handeln beeinflussen. All das aber wortwörtlich mit einem Kind gleichzusetzen, das in mir sitzt, geht mir persönlich zu weit. Und dann kommt, wie soll ich es anders nennen, der Hammer. Und damit der auch den Nagel auf den Kopf trifft, lässt Asano die Lektion anzeigen:
„95 Prozent. Fast alle Gefühle, negative, unangenehme Gefühle, die du heute als Erwachsener hast, kommen aus deinem inneren Kind“, sagt Asano. „Aber du siehst auch das enorme Potenzial, was hier drinsteckt. Weil, wie wäre denn dein Leben, wenn diese 95 Prozent der negativen Gefühle einfach verschwunden wären?“
95 fucking Prozent? Verschwinden lassen? Einfach so? Mein Leben wäre ein absoluter Traum! Asano sagt das so locker nebenher, mit der Gewissheit eines Wissenschaftlers, der gerade eine Studie mit über 10.000 Proband:innen gemacht hat und diesen Anteil herausgefunden und kompliziert berechnet hat. Allerdings ist er kein Wissenschaftler, und es gibt diese Studie nicht.
Mit der suggestiven Frage, wie es wäre, wenn diese negativen Gefühle „einfach verschwinden“ würden, preist Asano seine Methode an. Ich schreie laut „FUCK“, denn ich erinnere mich an das, was mir die Autorin Charlotte Raven im Interview gesagt hat: „Mit den Hoffnungen, Träumen und innersten Wünschen von Menschen lässt sich hervorragend Geld verdienen. Diese Supercoaches sind nicht erfolgreich, weil sie Menschen so toll helfen, sondern weil sie ein Businessmodell geschaffen haben, das funktioniert.“
Gilt das auch für Markus Asano? Was steckt hinter seinem Businessmodell? Das innere Kind rückt in meinem Kopf immer mehr in den Hintergrund.
Im Kurs macht Asano die ganz großen Versprechen: „Ich kann dir sagen, dann sind Wunder möglich. Viel, viel mehr, als du dir heute vorstellen kannst, wenn die beiden Teile deines Eisbergs, deiner Psyche vereint miteinander, dein Erwachsenen-Ich Hand in Hand mit deinem inneren Kind beide in die gleiche Richtung gehen wollen. Dann kannst du dir das erschaffen, wovon du schon immer geträumt hast.“
Nein. Das kannst du nicht. Dieses Versprechen in der spirituellen Szene, dieses DU KANNST ALLES SCHAFFEN, wenn du nur XY machst (meistens einen sehr teuren Kurs buchen), ist eine große, fette Lüge und ein Geschäftsmodell. Aber Menschen mit einer kaputten Kindheit sehnen sich nach Lösungen. Und wenn du ein Leben lang mit Kindheitstraumata kämpfst, weil dich dein Vater missbraucht hat oder du im Schulsport jahrelang gemobbt wurdest, dann bist zu verzweifelt. Und meldest dich für einen Kurs an, der dir verspricht, all das aufzulösen.
Ich lege den Kopf auf die Schreibtischplatte und lasse Asano reden. Ich höre zwar noch zu, aber als die „Innere-Kind-Reise“ beginnt, eine Meditation, in der ich mein inneres Kind an einem Strand treffen und mit ihm reden soll, höre ich bewusst weg.
Ich atme wieder tief ein und mache das, was ich immer mache, wenn mich etwas stresst. Ich lasse es zu und akzeptiere dieses Gefühl, so wie es ist. Ich sage ganz bewusst „Okay“ zu mir selbst, zu dem, was das alles mit mir macht. Zu meiner Ratlosigkeit, meinem Genervtsein, zu meiner Wut auf diesen Typen. Ich wollte wissen, wie seriös die Arbeit mit dem inneren Kind sein kann und frage mich, ob ich zu naiv an die Sache herangegangen bin. Langsam beruhige ich mich. Ich habe Lust zu chatten.
Im Chat sind immer noch 167 Teilnehmer:innen. Niemand ist bisher abgesprungen. Was für eine Erfolgsquote! Ich habe noch nie einen Kurs besucht, bei dem nicht ab und zu jemand verschwindet oder jemand Neues dazu kommt. Die inneren Kinder hören offensichtlich gespannt zu.
Irgendwas stimmt mit diesem Chat nicht
Die Beiträge im Chat sind sehr einheitlich. Asano bekommt immer Zustimmung, und gelegentlich stellt jemand eine Nachfrage. Kritik scheint es unter den 167 Teilnehmer:innen nicht zu geben, alles passt schön friedlich zusammen. Zu friedlich? Etwas stimmt hier nicht, notiere ich.
Auf der Webseite war angekündigt, dass manche Seminare nicht live gehalten werden können, dass es sich um eine Aufzeichnung handeln kann. Aber ein Chat, in den ich schreiben kann und in dem die Nachrichten anderer auftauchen, macht den Anschein, dass das alles jetzt gerade passiert. Die Teilnehmer:innen-Zahl war schließlich begrenzt und ich habe noch einen der letzten drei Plätze bekommen.
Das Seminar endet. Ich bin am Ende. Und mich überkommt ein Gefühl, ein Verdacht, den ich überprüfen muss. Ich schließe das Fenster, melde mich aber noch einmal beim Kurs an. Unter anderem Namen. Mein Glück: Am nächsten Tag sind noch elf Plätze frei!
Ich finde das Seminar-Tool aus der Hölle
Am nächsten Tag konzentriere ich mich exklusiv auf den Chat. Nach wenigen Minuten begrüßt mich Charlotte aus Trier – schon wieder. Und dann: Anja aus München. Die kenne ich auch schon. Wieder schreibt Sophie, ihr Neffe sei gerade drei Monate alt, sie wolle als Tante ein gutes Vorbild sein, weil bei ihr viel falsch gemacht wurde als Kind. Ich schreibe: „Hallo! Gehts dir immer noch schlecht? Wie gestern?”
Ich lache hysterisch auf, als ich sehe, dass der komplette Chat genauso abläuft wie einen Tag zuvor. Dieselben Menschen mit denselben Namen schreiben dieselben Nachrichten. Und es sind wieder 167 Leute da! Ich mache einen Screenshot. Links siehst du die Kommentare vom Vortag, rechts die vom Tag danach.
Google Chrome hat ein Entwicklertool. Mit ihm bekommt man Einblick in den Code, den Webseiten nutzen. Ich versuche herauszufinden, mit welcher Software das Seminar ausgestrahlt wird. Im Code finde ich Webinaris, eine Plattform, die unterschiedliche Programme für Webinare, also Onlineseminare anbietet.
Ich klicke mich durch das Sortiment von Webinaris und finde eine Anwendung für „automatisierte Webinare“. Der Nutzen dieser Anwendung ist, dass Nutzer:innen ihr Seminar einmal aufnehmen und dann immer wieder abspielen. Allerdings ist das Ziel von Webinaris, den Besucher:innen der Seminare absichtlich das Gefühl zu geben, dass sie einer Live-Veranstaltung beiwohnen.
Deshalb kann man zum Beispiel das Video nicht downloaden – das wird als ein Vorteil angepriesen. Warum? „Bei Webinaris sind die Webinar-Videos nicht durch einen einfachen Rechtsklick ins Video herunterladbar – denn dann wüsste ja jeder, dass es nicht live ist.“
Habe ich mich gerade verlesen? Ich schaue mir den Satz nochmal an und lese jedes Wort, aber langsam. Dann scrolle ich weiter nach unten und muss mir in den Arm zwicken, um sicherzustellen, dass ich nicht träume:
„Webinaris kann dir dabei helfen, einen 100 % Live-Charakter bei deinen automatisierten Webinaren zu erzeugen – wenn du das denn willst. So kannst du beispielsweise mit Umfragen arbeiten, erfundene Teilnehmer in den Webinarraum einführen und diese sogar mit von dir vorgefertigten Chat-Nachrichten miteinander chatten lassen.“
Erfundene Teinehmer:innen, die mit vorgefertigten Nachrichten miteinander chatten. Genauso hat sich dieses Seminar für mich angefühlt.
Ich versuche zu begreifen, was hier vor meinen Augen stattfindet: Werden mir in diesem Kurs, in dem mir ein Coach etwas vom Gesundwerden und glücklichen Leben und dem Loswerden von 95 Prozent der negativen Gefühle erzählt, die anderen Teilnehmer:innen, die das alles total super finden, nur vorgegaukelt? Xenia, Ruth, Ralf, Sybille, Sophie und ihr Neffe – Menschen, denen es scheinbar genauso geht wie mir und die davon im Chat erzählen. Ist am Ende niemand von denen echt? Lese ich hier einen aufgezeichneten Live-Chat, der weder live ist, noch ein Chat?
All das wollte ich von Markus Asano wissen. Mehrere Anfragen von mir blieben aber bis heute unbeantwortet.
Natürlich wirft das weitere Fragen auf: War ich am Ende der Einzige, der an diesem Seminar teilgenommen hat, obwohl „nur“ noch drei Plätze frei waren? Oder umgekehrt: Wie viele von den, laut Asano, über 30.000 begeisterten Teilnehmer:innen waren vorgefertigte Bots? Zählen die auch zu denen, die Asano in ein glückliches Leben geführt hat?
Wenn ich über Jahre hinweg ein vorgefertigtes Seminar im Netz abspielen lasse und jeden Tag mehrmals 167 Teilnehmer:innen anwesend sind, dann habe ich nach nur 180 Kursen die 30.000 Teilnehmer:innen erreicht.
Meine Recherche hat gerade begonnen
Charlotte Raven hatte es mir bereits gesagt: Um das kleine bisschen Wahrheit, das in den Inhalten der Coaches auf Instagram stecke, werde eine ganze Menge an Motivationssprüchen und wissenschaftlich unhaltbaren Claims herumgebastelt. Deshalb war ich von Asanos Behauptungen irritiert, aber nicht überrascht.
Meine Suche nach dem inneren Kind hat zwar in diesem Seminar begonnen. Aber sie ist keinen Schritt vorangekommen. Kein Konzept der Welt, ob LSD, Stromstöße, nicht einmal Psychotherapie kann die Versprechen einhalten, die in diesem Kurs gemacht wurden.
Ich muss also weitersuchen. Ich frage mich immer noch: Wie konnte das innere Kind so populär werden? Und was sagt eigentlich die Wissenschaft dazu? Ich werde weiter recherchieren – außerhalb der Coaching-Szene. In den kommenden Wochen möchte ich mit Expert:innen sprechen und der Idee des inneren Kindes auf den Grund gehen. Wenn du meine Analyse nicht verpassen willst, kannst du hier gerne meinen Newsletter abonnieren.
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger