Stau in Stuttgart

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Klimakrise und Lösungen

Vor 60 Jahren hat dieser Text den Verkehrskollaps prophezeit

Politiker:innen, die heute mehr Parkplätze in Innenstädten fordern, sollten lesen, was ein Autor schon 1963 über Autos in Städten schrieb.

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Reporter für das digitale Leben

Trotz Klimakrise wächst die Zahl der Autos in Deutschland seit Jahren. 66,1 Millionen Fahrzeuge waren am 1. Januar 2021 laut Kraftfahrt-Bundesamt in Deutschland gemeldet. Und die Innenstädte leiden darunter: extrem volle Straßen, die Fahrten innerhalb der Stadt unübersichtlich, gefährlich und am Ende auch schlicht unbequem machen. Trotzdem sind die öffentlichen Verkehrsmittel oder das Fahrrad für viele keine Alternative.

Und die Politik streitet: Die einen wollen weniger Verkehr in die Innenstädte. Die anderen, die Innenstädte autofreundlicher machen.

Dieser Text ist am 18. Mai 1963 in der Stuttgarter Zeitung erschienen und zeigt: Schon seit den 1960er Jahren zeigte sich, dass den Städten ein Verkehrskollaps bevorsteht.


Der Traum vom Autofahren in der Stadt

Von Erich Peter aus der Stuttgarter Zeitung vom 18.5.1963

Das leidige Verkehrschaos in den Großstädten zwingt die Verkehrsplaner zu immer neuen Überlegungen. Die Schwierigkeiten sind überall die gleichen: wenig Platz und zu viele Autos. Niemand hat bisher den Stein der Weisen finden können; der Grund dafür ist einfach: Es gibt ihn nämlich nicht. Was auch immer getan wird, es läuft auf einen Kompromiss hinaus, der niemals alle Verkehrsteilnehmer befriedigen kann. Die Frage ist allerdings, auf welche Weise die Planer die Bedürfnisse der Verkehrsteilnehmer aufeinander abzustimmen gedenken. Soll der Versuch gemacht werden, die verstopften Innenstädte dem motorisierten Verkehr zu erschließen; oder soll der motorisierte Verkehr in den Zentren eingedämmt werden?

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Zu den Experimenten, die Innenstadt vom Autoverkehr zu entlasten, gehört das sogenannte Park-and-Ride-System. Sinngemäß übersetzt bedeutet dieser Slogan amerikanischer Verkehrsfachleute „Fahren und Gefahrenwerden“, was heißt, dass Autofahrer, die die Verstopfungen der City fürchten, bis an das Stadtzentrum heranfahren, dort auf eigens für sie angelegten Plätzen parken und dann in die öffentlichen Verkehrsmittel umsteigen. Funktionierte dieses System, dann ließe sich auch ein zweites Gebrechen des innerstädtischen Verkehrs heilen: die Dauerparker, die des Morgens ihren Wagen auf den ohnehin zu engen Straßen und Plätzen des Zentrums abstellen und sie erst wieder am Abend, bei der Fahrt nach Hause, benützen, könnten dazu verlockt werden. Die tägliche mühsame Suche nach einem Parkplatz aufzugeben und ihren Wagen an der Peripherie der Innenstadt zu parken.

So ideal dieser Plan zu sein scheint, er hat doch einen Haken. Offenbar lässt er sich erst dann verwirklichen, wenn es in der Innenstadt wirklich keinen Parkplatz mehr gibt. Diese Erfahrung haben jedenfalls zwei deutsche Großstädte, Hamburg und Frankfurt, machen müssen. Frankfurt hatte in der Weihnachtszeit das Park-and-Ride-System groß angekündigt und nach Kräften propagiert. Auf zwei bis drei Kilometer vom Zentrum entfernten Parkplätze war so viel Platz, dass auch Anfänger bequem parken konnten. Alle fünf Minuten fuhren dort in der Zeit von 9 Uhr bis 20 Uhr Omnibusse ab, auch dann, wenn nur ein Fahrgast darin saß, was vorkam. Und das Ergebnis? An vier Samstagen waren es weniger als dreitausend Autofahrer, die von dem Angebot Gebrauch machten. Alle anderen zogen es vor, sich in das Gewühl der Innenstadt zu stürzen. Ähnlich enttäuscht wurden vor einigen Jahren die Verkehrsdezernenten Hamburgs, wo die Einrichtung der Citybusse keine Gegenliebe fand.

Pläne ohne Geld

Der Gedanke, die totale Überfüllung der Innenstadt getrost herbeikommen zu lassen, schreckt indessen viele Verkehrsplaner. Sie träumen von Lösungen, den motorisierten Verkehr auch im Zentrum flüssig zu halten. Solche Gedanken setzen allerdings gravierende städtebauliche Eingriffe voraus. Breitere Straßen, mehr Parkgaragen, Unterführungen, Hochstraßen sind die Konsequenz. In alten Stadtkernen müssen solche Operationen schwere Wunden hinterlassen. Freilich wiegen in einer Zeit, in der das Neue schon deshalb gut ist, weil es einfach neu ist, Bedenken solcher Art nicht allzu schwer; mit Abreißen und Neubauen ist man heute schnell zur Hand. Doch erheben sich auch schwerwiegende finanzielle Fragen. Die Generalverkehrspläne der meisten Großstädte haben ein finanzielles Volumen, das in die Milliarden geht, die Kassen der Städte sind aber nicht so gefüllt, dass diese Träume aus eigener Kraft erfüllt werden können. Zwar verkünden die Oberbürgermeister der Großstädte bei jeder Gelegenheit, dass Bund und Länder nicht abseitsstehen könnten, und sie haben ausgezeichnete Argumente für ihre Geldwünsche. Tatsächlich rollt der weitaus größte Teil des motorisierten Verkehrs auf den Straßen der Städte, die von den Abgaben des Kraftverkehrs direkt keinen Pfennig erhalten. Aber wer kann glauben, dass der Bund angesichts seiner Schwierigkeiten, den Haushalt auszugleichen, in Zukunft erheblich mehr Mittel als bisher für die städtischen Verkehrspläne zur Verfügung stellen wird?

Vor allem aber: Was wären die Folgen einer solchen „verkehrsgerechten“ Erschließung der Innenstädte? Die Amerikaner haben für den Versuch, dem Verkehr in den Stadtzentren Bahn zu brechen, bitteres Lehrgeld zahlen müssen. Der großzügig zur Verfügung gestellte Verkehrsraum brachte keineswegs die gewünschte Entlastung, er wirkte im Gegenteil wie ein Sog, und die Verkehrsverstopfungen nahmen groteske Formen an. Viele Stadtkerne zeigten alarmierende Zeichen der Verödung. Die Fußgänger flüchteten und die Geschäftsumsätze gingen zurück, so in Los Angeles von 1950 bis 1959 um 40 Prozent, in Dallas um 38 Prozent und in Chicago um 26 Prozent. Die Verkehrsplaner erkannten, dass es unmöglich ist, jedem Autofahrer, der es wünscht, in der Stadt Platz zu verschaffen. Sie kehrten zu der Straßenbahn zurück. Wer die Kurve der deutschen Motorisierung verfolgt, kann sich an den fünf Fingern abzählen, dass die Entwicklung hierzulande nicht anders sein wird.

Überfüllt werden die Stadtzentren in Zukunft immer sein

Weshalb dann erst den – vergeblichen – Versuch machen, das Zentrum dem motorisierten Verkehr anzupassen? Überfüllt werden die Stadtzentren in Zukunft immer sein, aber muss zuvor die Innenstadt in ein Verkehrskarussell verwandelt werden? Der motorisierte Verkehr in einer Stadt ist nicht alles, er ist kein Selbstzweck, er ist – zum Beispiel – nicht wichtiger als der Schulbau (der in Stuttgart wegen des Generalverkehrsplans beschnitten wurde). Er ist nur eine Funktion des städtischen Lebens, eine höchst bedeutsame, die lange genug von vielen Stadtverwaltungen erstaunlich unterschätzt worden ist, aber nicht das höchste Ziel. Sonst heißt es eines Tages auch bei uns „Verkehr fließt – Stadt tot“.

Konsequenterweise muss deshalb die städtische Verkehrspolitik auf eine Eindämmung des individuellen motorisierten Verkehrs in den Zentren gerichtet sein. Der Fußgänger muss dort Bewegungsfreiheit haben, das Stadtzentrum muss der Kristallationspunkt des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens bleiben. Dazu gehört selbstverständlich die Aufrechterhaltung des Wirtschaftsverkehrs. Für die Masse des Personenverkehrs muss indessen der Grundsatz gelten, dass überall dort, wo nicht genügend Verkehrsraum zur Verfügung steht, den öffentlichen Verkehrsmitteln der Vorrang gebührt. Die Leistungsfähigkeit der verschiedenen Verkehrssysteme liefert dafür überzeugende Gründe. Die Untergrundbahn vermag mit acht Wagenzügen 40.000 Menschen je Stunde und Fahrspur zu bewältigen, die Unterpflasterbahn mit ihren zwei bis drei Wagen 20.000, Omnibusse 7.000 und Einzelwagen 1.000 bis 2.000.

Zu voll, zu teuer, zu langsam

Voraussetzung ist allerdings, dass die öffentlichen Verkehrsmittel funktionieren, was sie heute durchweg nicht tun. Was dem „Fahrgast“ heute in den überfüllten Straßenbahnen zugemutet wird – und nicht nur ihm, sondern auch dem Schaffner – ist grotesk. Sie sind unbequem, langsam und teuer: Neukonstruktionen sind für ältere Leute wegen ihrer Fahrweise sogar gefährlich. Das ist nicht die Schuld der Verwaltungen dieser Betriebe, verantwortlich dafür ist eine falsche städtische Verkehrspolitik. Jahrelang hat man auf die Rentierlichkeit der öffentlichen Verkehrsmittel gestarrt und gleichzeitig Millionenbeträge für Straßenumbauten ausgegeben, die sich nach wenigen Jahren als unzureichend erwiesen. Solange die Straßenbahn keinen eigenen, vom motorisierten Verkehr weitgehend unabhängigen Gleiskörper hat, wird sie an den stockenden motorisierten Verkehr gebunden sein. Raschere Zugfolgen und damit mehr Bequemlichkeit für den Fahrgast sowie größere Schnelligkeit müssen so lange eine Illusion bleiben. Ein rascher und großzügiger Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel in den Zentren der Städte ist daher dringender als alle Straßenbaupläne, die darauf abzielen, die dreifache oder gar vierfache Fahrzeugmenge in der City aufzufangen.


Redaktion: Tarek Barkouni, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger

Vor 60 Jahren hat dieser Text den Verkehrskollaps prophezeit

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