Wer heute über Psychotherapie spricht, hat meistens die Betroffenen im Blick. Menschen mit Depressionen, Suchterkrankungen oder Angststörungen sitzen auf der sogenannten Couch und benötigen Hilfe, meistens dringend.
Aber was ist mit denen, die auf der anderen Seite sitzen? Die sich jeden Tag die traumatischen Erlebnisse, Ängste und Sorgen anhören und deren Job es ist, zu helfen? Sie hören zu, stellen Fragen und begleiten den oft langwierigen Genesungsprozess. Sich davon professionell abzugrenzen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe.
Denn auch Psychotherapeut:innen haben Bedürfnisse, Ängste und Sorgen. Diese bleiben in der Regel in ihren Köpfen, weil sie in den Sitzungen fehl am Platz wären.
Mich interessiert, was in Therapeut:innen neben der eigentlichen Behandlung vorgeht, was sie persönlich herausfordert und wie sie ihre Patient:innen betrachten. Deshalb habe ich vor zwei Wochen eine Umfrage gestartet, an der 90 Therapeut:innen teilgenommen und mir ihre Geschichten für diesen Text anvertraut haben.
Die Umfrage hat gezeigt: Es ist sowohl für Betroffene und Angehörige, als auch für die Gesellschaft wichtig zu verstehen, dass Psychotherapie mehr ist als die rohe Behandlung von Symptomen. Denn hier sitzen sich nicht zwei Roboter gegenüber, sondern Menschen mit validen Bedürfnissen. Über die der Psychotherapeut:innen wissen wir viel zu wenig.
Die Erfahrungen habe ich anonymisiert und zur besseren Lesbarkeit redigiert.
Auch Psychotherapeut:innen sind nicht immer glücklich
Ihnen geht es gerade besser als mir.
– Harald
Heute kann ich mich kaum konzentrieren, aber ich reiße mich zusammen.
– Figen
Ich muss dringend auf die Toilette.
– Melanie
Patient:innen können herausfordernd sein
Manche Patienten haben sehr wenig Wahrnehmung für andere, sind ganz schön feindselig und anspruchsvoll, wollen sehr versorgt werden. Traumatisierte Menschen sind oft zu gestresst, um wirklich freundlich, großherzig und rücksichtsvoll zu sein, denken das allerdings durchaus von sich.
– Elena
Die privilegierten Patienten jammern am meisten. Und wenn nichts besser wird, ist die Therapie schuld. Die meisten sehr schwer kranken Patienten, ohne Privilegien, mit furchtbaren Ereignissen in ihrer Lebensgeschichte, diese Patienten jammern nicht. Die kämpfen, arbeiten an sich und profitieren von der Therapie.
– Tanja
Als ich einem Corona-Leugner erzählte, dass ein Familienmitglied von mir sechs Wochen wegen der Delta-Variante im Koma lag, behauptete er, dass ich ihn anlüge.
– Miriam
Insbesondere depressive Patienten neigen oft zu extremer Schwarzmalerei bei gleichzeitigem Gefühl „das liegt bestimmt an mir“. Das führt zu einer düsteren Ich-Bezogenheit, die sehr anstrengend sein kann, sodass ich manchmal schon denke: „Mensch, zieh doch mal deinen Kopf aus deinem Arsch.“ Sagen würde ich das aber niemals, auch der Gedanke ist unfair, denn diese Art zu denken, ist nun mal Teil der Erkrankung.
– Julia
Verständnis für die Situation der Patient:innen
Du hattest richtige scheiß Eltern, und am liebsten würde ich sie zur Rechenschaft ziehen für das, was sie dir angetan haben.
– Angelika
Ich habe eine Patientin auf dem Weg zu ihrer ADHS-Diagnose begleitet, kurz nachdem ich meine eigene bekommen habe.
– Sabine
Wenn es um sexualisierte Gewalt, Depressionen, Panikattacken, Essstörungen geht: Ich bin auch betroffen. Ich kann nachvollziehen, was die Person erlebt und weiß, dass es besser werden kann.
– Josephine
Wenn Nähe entsteht
Ach, ich würde gerade richtig gern mit Ihnen ein Bier trinken gehen.
– Florian
Ich sage ihnen nicht, dass ich mich privat in sie vielleicht verliebt hätte.
– Clara
Sie sind echt hot!
– Jutta
Manchmal erleben Therapeut:innen absurde Situationen
Ich habe eine sich anbahnende Liebesgeschichte zwischen zwei Patient:innen in der Klinik erlebt, die beide bei mir über die andere Person sprachen und sehr kontroverse Ideen über die Beziehung zueinander hatten. Ich durfte aber nichts dazu sagen.
– Pia
Ein Patient hat seine Wertsachen aus den Taschen geholt und auf dem Tisch abgelegt: Handy, Geldbeutel, Knarre.
– Patricia
Eine Patientin kam auf Speed zur Sitzung und war unter der Substanz sehr persönlichkeitsverändert. Sitzung abbrechen oder therapeutisch nutzen? Schwierige Entscheidung. Hab Letzteres getan.
– Annalena
Ein Patient hat unter dem Tisch onaniert, als er mir gegenübersaß.
– Franziska
Meine Patientin meinte: „Mein Mann hat mir gesagt, er habe eine Überraschung für mich zu meinem Geburtstag. Dann hat er mich in ein Bordell gefahren und wollte einen Dreier haben. Finden Sie, ich war undankbar, weil ich nein gesagt habe?“ Manchmal weiß ich auch nicht weiter.
– Katja
Redaktion: Tarek Barkouni, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert