Deutschland gehört zu den reichsten Ländern der Welt. Trotzdem senden die Tafeln SOS. Seitdem die Lebensmittelpreise gestiegen sind, kommen immer mehr Menschen nicht über die Runden. Etwa zwei Millionen stellen sich bei den Tafeln an, um genug zu essen zu haben – so viele wie nie zuvor. Jeder fünfte Mensch in Deutschland ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.
Das müsste nicht so sein. Wir könnten als Gesellschaft beschließen, dass alle genug haben sollen. Anlass dafür gäbe es genug.
Erst die Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine und die steigenden Energiepreise – und neben allem die Klimakrise. Wir sehen immer häufiger, was passiert, wenn wir mit Krisen und Katastrophen konfrontiert sind. Der Staat zahlt Corona-Hilfen, führt für drei Monate ein 9-Euro-Ticket ein und später eine Gas- und Strompreisbremse. Es brennt und der Staat versucht zu löschen.
Aber immer wieder scheint das gar nicht so einfach zu sein. Studierende warteten monatelang auf die Energiepreispauschale. Das Klimageld, das den steigenden CO₂-Preis ausgleichen soll, scheitert bisher daran, dass die Regierung keinen Weg findet, Geld an alle Bürger:innen zu überweisen. Und selbst wenn das alles funktioniert, sind Hilfen zu knapp bemessen, Menschen rutschen durch das soziale Netz – und die Tafeln versuchen aufzufangen, was eigentlich der Sozialstaat lösen sollte.
Ein Vorschlag kommt nun aus der Degrowth-Bewegung, um es besser zu machen: eine bedingungslose Grundversorgung für alle – auf Englisch „Universal Basic Services“. Das klingt ein bisschen wie das bedingungslose Grundeinkommen. Und der Grundgedanke ist ähnlich: Jeder Mensch soll das haben, was er zum Leben braucht. Während der Staat beim bedingungslosen Grundeinkommen Geld an alle verteilt, würde die bedingungslose Grundversorgung dazu führen, dass alle weniger Geld brauchen. Weil sie ihre Wohnung günstiger mieten können und kein Geld für Wasser, Strom oder Internet zahlen.
Der Vorschlag einer bedingungslosen Grundversorgung ist deshalb interessant, weil er sich aus einer Debatte entwickelt hat, die nicht fragt: Worauf müssen wir den Feuerlöscher als Nächstes richten? Sondern: Wie kann ein System aussehen, in dem alle genug haben und wir gleichzeitig unsere Lebensgrundlagen erhalten?
Wie sieht eine Wirtschaft aus, die nicht wachsen muss?
Zu Beginn der Debatte über Degrowth haben sich Forschende vor allem mit verschiedenen Formen der Wachstumskritik beschäftigt. Sie haben ausgearbeitet, was eigentlich das Problem an Wirtschaftswachstum ist. Inzwischen dreht sich die Debatte auch immer stärker darum, wie Alternativen aussehen könnten. Die Idee der bedingungslosen Grundversorgung haben Forschende des „Institute for Global Prosperity“ 2017 entwickelt. Das Institut ist am University College London angesiedelt und erforscht, wie Wohlstand im 21. Jahrhundert aussehen kann.
Wissenschaftler:innen wie der Wirtschaftsanthropologe Jason Hickel oder Julia Steinberger, Professorin für ökologische Ökonomie, sehen die bedingungslose Grundversorgung als Baustein für eine Wirtschaft, die nicht wachsen muss, damit wir unsere Grundbedürfnisse erfüllen können. Denn wenn der Staat diese Basics für alle bereitstellen würde, wären einzelne weniger auf ein Gehalt angewiesen. Wir könnten offener darüber sprechen, welche Branchen in der Klimakrise noch einen Platz haben und welche nicht.
Was brauchen wir, um unsere Grundbedürfnisse zu decken?
Wie könnte so eine bedingungslose Grundversorgung konkret aussehen? Eine wichtige Sache vorweg: Was Menschen brauchen, um ihre Grundbedürfnisse zu decken, würden nicht Politiker:innen von oben herab entscheiden. Ähnlich wie bei den Klima-Bürger:innenräten könnten sich zufällig geloste Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft mit Expert:innen zusammensetzen und Vorschläge erarbeiten – sowohl zur Grundversorgung als auch zu deren Finanzierung. Ideen, was alles zur bedingungslosen Grundversorgung gehören sollte, gibt es natürlich trotzdem. Dazu gehören kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung. Weil es die in vielen Ländern schon auf die eine oder andere Weise gibt, gehe ich hier nicht weiter darauf ein, sondern stelle ein paar andere Punkte vor:
1. Keine Angst mehr vor der Heizkostenabrechnung
Im vergangenen Jahr stiegen die Energiepreise wegen des Kriegs in der Ukraine massiv an. Menschen hatten Angst vor der Heizkostenabrechnung in ihrem Briefkasten. Die Regierung führte eine Härtefallregelung ein, senkte Steuern, zahlte Einmalzuschüsse. Seit März 2023 gibt es eine Gas- und Strompreisbremse.
Was wäre also, wenn der Staat direkt einen bestimmten Anteil der Heizkosten-, Strom- und Wasserrechnung übernimmt? Das könnte so viel sein, dass es für die Grundbedürfnisse reicht. Wer zusätzlich sein Auto waschen, den Garten bewässern, ein Rechenzentrum im Keller betreiben möchte, zahlt selbst. Der Staat könnte etwa Strom direkt von den Energieunternehmen kaufen – und die würden dafür den Betrag von der Rechnung streichen.
2. Günstigere Mieten in öffentlichen Wohnungen
Kostenlos wohnen ließe sich wohl kaum umsetzen – günstiger schon. Wirtschaftsanthropologe Jason Hickel schlägt in einem Blogbeitrag vor, die Zahl der Mietwohnungen, die ein Mensch oder eine Firma besitzen darf, zu begrenzen. Wer über dieser Grenze liegt, muss die restlichen Wohnungen verkaufen. Auf einen Schlag würde dann viel Wohnraum auf den Markt kommen, dadurch würden die Marktpreise günstiger. Einerseits würde das heißen: Mehr Menschen als heute könnten es sich leisten, eine Wohnung zu kaufen. Viel wichtiger: Auch der Staat könnte günstiger Wohnungen kaufen und sie zu niedrigeren Preisen vermieten.
Ein anderes Problem ließe sich dann auch leichter lösen: Wie schaffen wir es, Millionen Häuser zu dämmen und auf erneuerbare Wärme umzurüsten? Anstatt die Eigentümer:innen mit Förderungen zum Sanieren zu bewegen, könnte der Staat selbst eine große Dämm-Offensive starten.
3. Kostenlos telefonieren und im Internet surfen
Manchmal halte ich inne und frage mich, wie Journalist:innen vor 30 Jahren ihren Job gemacht haben, als es noch kein Internet gab. Suchmaschinen, Onlinemedien und Messenger-Apps gehören heute zur Grundversorgung, genauso wie ein Smartphone oder Tablet. Jede Wohnung könnte einen kostenlosen Internetanschluss bekommen, außerdem jeder Mensch ab einem bestimmten Alter ein Handy-Basispaket mit Freiminuten und Datenvolumen. Ein fair produziertes, gut reparierbares Smartphone könnte in dem Paket enthalten sein.
Während heute Techniker:innen von O2, Vodafone und 1&1 zum gleichen Mehrfamilienhaus fahren und wir bei jedem Umzug Internetrouter hin- und herschicken, könnte der Staat Ausschreibungen für ganze Wohnviertel machen, um die sich dann ein Anbieter kümmert. Dadurch wäre die Versorgung effizienter und günstiger.
4. Das 9-Euro-Ticket – schon fast bedingungslose Grundversorgung
„Ich finde, das Paradebeispiel für soziale Klimapolitik ist das 9-Euro-Ticket in Deutschland“, sagt die österreichische Journalistin Johanna Hirzberger im vierten Teil ihrer Radioreihe zu Klima und Klassismus. In dem Beitrag erzählt zum Beispiel Heike, Aktivistin und Armutsbetroffene, dass sie nicht zu Klimademos außerhalb ihres Heimatortes gehen kann, obwohl sie das gerne möchte. Durch das 9-Euro-Ticket wurde das zeitweise möglich. Als Lützerath geräumt wurde, kaufte ihr ein anderer Aktivist ein Ticket, damit sie hinfahren konnte.
Für die öffentlichen Verkehrsmittel gibt es unterschiedliche Vorschläge: einen komplett kostenlosen Nahverkehr, ein bestimmtes Kontingent an freien Fahrten pro Monat oder eben günstig Bus und Bahn fahren, wie beim 9-Euro-Ticket. Mobilitätsforscher Andreas Knie fordert zumindest ein 29-Euro-Ticket, das aber auch für Fernzüge und auf dem Land für das Taxi vom Bahnhof nach Hause gelten würde.
Bei Klimareporter rechnet er vor, wie sich das finanzieren ließe: „Ein solches Angebot würde wahrscheinlich rund 14 Milliarden Euro jährlich zusätzlich zur Finanzierung des bisherigen öffentlichen Verkehrs kosten. Wenn man die Entfernungspauschale für die Autofahrenden sowie das steuerliche Privileg privat genutzter Dienstwagen sowie die permanente Dieselsubvention streichen würde, dann hätte man rund 16 Milliarden gespart.“
5. Gute, günstige Betreuung für Kinder und Erwachsene
Kinder zu betreuen oder Angehörige zu pflegen, ist nicht nur Privatsache. Deshalb zählen Anna Coote von der britischen New Economics Foundation und Andrew Percy vom Londoner Social Prosperity Network in ihrem Buch über Universal Basic Services auch Kinderbetreuung und Unterstützung für Erwachsene zur Grundversorgung.
Momentan zahlen Eltern in Deutschland unterschiedlich viel für die Betreuung, je nach Bundesland, Einkommen und Alter des Kindes. Mit einer bedingungslosen Grundversorgung könnte die Betreuung sehr günstig oder kostenlos sein, wie das zum Beispiel in Berlin schon jetzt der Fall ist. Eltern könnten zusammen mit Erzieher:innen und anderen Expert:innen Vorschläge erarbeiten: Ab welchem Alter sollte es eine allgemeine Betreuung geben? Wie lang? Sollten Menschen, die abends oder nachts arbeiten, Anspruch auf eine:n Babysitter:in haben? Wie sehen faire Arbeitsbedingungen für die Erzieher:innen aus?
Ähnliche Diskussionen bräuchte es für Erwachsene. Wie können wir Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen gut unterstützen? Wie kann eine gute allgemeine Pflege für alte Menschen aussehen, die Hilfe brauchen? Und wie gute Arbeitsbedingungen für Pfleger:innen? Außerdem bräuchte es neue Konzepte, um pflegende Angehörige zu unterstützen – zum Beispiel eine flexible, kostenlose Kurzzeitpflege, damit überlastete Angehörige Urlaub machen können oder einen finanziellen Ausgleich, wenn man weniger arbeiten kann.
Die Ökonomin Corinna Dengler nannte bei einer Konferenz im EU-Parlament zwei Wege, wie eine bedingungslose Grundversorgung Carearbeit aufwerten könnte. Zum einen brauchen Menschen weniger Geld, wenn der Staat ihre Grundbedürfnisse deckt. Dadurch haben sie mehr Zeit, sodass insbesondere Männer sich stärker an der Carearbeit beteiligen könnten. Zum anderen bietet ein staatliches Angebot zumindest die Möglichkeit, allgemein gute Arbeitsbedingungen für professionelle Carearbeitende durchzusetzen. Denn bei der Idee der bedingungslosen Grundversorgung geht es auch darum, das Wohl von Menschen in den Mittelpunkt der Wirtschaft zu stellen. Statt auf dem Balkon zu klatschen, bedeutet das auch, Geld in die Hand zu nehmen und zu gucken, was Carearbeitende brauchen, um gut arbeiten zu können.
6. Mindesteinkommen, Grundeinkommen oder Care-Einkommen?
Selbst wenn eine bedingungslose Grundversorgung viele Bedürfnisse abdeckt, ist klar, dass wir weiterhin Geld brauchen, um Essen und Kleidung zu kaufen, Fußballschuhe, Skateboards oder Netflix-Abos. Die Autor:innen Coote und Percy schlagen deshalb eine soziale Sicherung vor, ähnlich wie das Bürgergeld, allerdings höher und ohne Sanktionen. Etwas in der Art gibt es zum Beispiel in der brasilianischen Stadt Maricá. Wer seit mindestens drei Jahren in Maricá gemeldet ist und ein Familieneinkommen von weniger als drei Mindestlöhnen hat, bekommt ein Grundeinkommen in einer lokalen, virtuellen Währung.
Umweltsozialwissenschaftlerin Milena Büchs schlägt vor, eine bedingungslose Grundversorgung mit einem bedingungslosen Grundeinkommen zu kombinieren. Das könnte dann natürlich deutlich niedriger sein als ohne bedingungslose Grundversorgung, weil viele Bedürfnisse schon gedeckt sind.
Einen dritten Vorschlag befürwortet zum Beispiel Giacomo D’Alisa, der an der Autonomen Universität Barcelona zu politischer Ökologie und ökologischer Ökonomie forscht, und zwar ein bedingungsloses Careeinkommen. Das würde sich vom bedingungslosen Grundeinkommen vor allem auf zwei Arten unterscheiden. Zum einen liegt dem bedingungslosen Careeinkommen ein anderer Gedanke zugrunde: Wir würden nicht Geld bekommen, einfach, weil wir Menschen sind. Sondern, weil wir zu einer gelingenden Gesellschaft beitragen, weil wir uns um Kinder kümmern, um unsere Freund:innen, Arbeitskolleg:innen und Fußballkamerad:innen, genauso wie um die Natur. Um das nicht falsch zu verstehen: Wir würden nicht anfangen, Stunden zu zählen. Das Geld würden alle bekommen, die Begründung ist eine andere. Aber, zweiter Unterschied: Weil Frauen nachweislich mehr Sorgearbeit leisten und auch historisch geleistet haben, würden sie ein höheres Careeinkommen erhalten als Männer.
Das klingt ja alles sehr schön, aber wie bezahlen wir das?
Finanziert werden würde die bedingungslose Grundversorgung über Steuern. Wer mehr verdient, zahlt höhere Steuern. Weil alle die gleiche Grundversorgung bekommen, profitieren die ärmeren stärker. Außerdem könnten wir höhere Erbschaftssteuern einführen oder Vermögen stärker besteuern. Dafür gibt es gute Argumente. Vermögensforscher Martin Schürz erläutert im Interview mit meiner Kollegin Rebecca Kelber, wieso er zu viel Reichtum für gefährlich hält.
Forschende des „Institute for Global Prosperity“ argumentieren zudem, dass eine bedingungslose Grundversorgung an anderer Stelle Kosten einsparen würde. Weniger finanzielle Sorgen, genug Geld, um gesundes Essen zu kaufen und Dinge mit Freund:innen zu unternehmen und mehr Zeit für Erholung könnten etwa dazu führen, dass Menschen weniger krank werden.
Weil die Idee der bedingungslosen Grundversorgung noch recht jung ist, gibt es bisher nur wenige Rechnungen dazu, wie viel so etwas kosten würde – zum Beispiel für einzelne Teile in Großbritannien. Für Deutschland gibt es keine Rechnungen.
Es braucht mehr als nur das Nötigste, damit Menschen teilhaben können
Das wahrscheinlich wichtigste Argument für eine bedingungslose Grundversorgung: Sie wäre fair. Unser jetziges System ist nicht darauf ausgelegt, dass alle Menschen auf gleiche Weise am Leben teilhaben können. Das Bürgergeld zum Beispiel ist gerade so hoch, dass Menschen das Nötigste kaufen können. Die Journalistin Anna Mayr beschreibt das in ihrem Buch „Die Elenden“ am Beispiel des sogenannten Bildungs- und Teilhabepakets. Damit Kinder zum Beispiel im Verein Fußball spielen können, zahlt der Staat 15 Euro pro Monat zusätzlich. „Man kann damit keine Fußballschuhe bezahlen, kein Trikot des Lieblingsvereins, keine neue Sporthose, wenn das Kind plötzlich wächst“, schreibt Mayr. „All diese Ausgaben wären essenziell, wenn es wirklich um die Teilhabe eines Kindes ginge.“
Wir haben ein System geschaffen, das einigen all ihre materiellen Wünsche erfüllt, während andere sich die Zugfahrt zur Demo nicht leisten können oder einen neuen Kühlschrank, wenn der alte kaputtgeht.
Man könnte fragen, wieso ein neues System einführen, anstatt einfach den Sozialstaat besser zu machen? Doch eine bedingungslose Grundversorgung wäre eine andere Herangehensweise. Sie verabschiedet sich von dem Leistungsgedanken, auf dem die soziale Sicherung aufbaut. Sie erkennt an, dass Reichtum nicht aus dem Nichts entsteht. Dass es keine Rechtfertigung dafür gibt, dass einige so viel mehr haben als andere. Sie wäre keine Reform des Sozialsystems, sondern eine Revolution in der Art, wie wir in einer Gesellschaft füreinander sorgen.
Eine bedingungslose Grundversorgung ist nicht nur eine Antwort auf die soziale Frage, sondern auch eine auf die ökologische. Denn sie könnte auch ein Puzzleteil in der riesigen Herausforderung sein, unsere Wirtschaft so umzubauen, dass sie nicht weiter den Planeten zerstört. Andere Puzzleteile könnten eine Jobgarantie, kürzere Arbeitszeiten und ein Mindest- und Maximaleinkommen sein. Wie immer, wenn man ein System komplett umkrempelt, sind dabei noch viele Fragen offen. Aber an Ideen, das ist eindeutig, mangelt es nicht.
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos