Charlotte M. Raven arbeitet als Unternehmensberaterin, ist angehende Psychologin und klärt auf ihrem Instagramkanal über das manipulative Marketing und übergriffige Verhalten vieler Coaches auf. Ihre eigenen Erfahrungen hat sie in ihrem Buch „Nicht noch ein Coaching-Buch!“ festgehalten. Im Gespräch erklärt sie, warum Menschen mit psychischen Erkrankungen besonders anfällig für deren Inhalte sind und wie sie es schaffte, aus der Szene auszusteigen.
Ich habe neulich einen vierstündigen Kurs bei Laura Malina Seiler gemacht und darüber geschrieben, warum ich wütend und traurig wurde. Schaden Coaches mehr als sie heilen?
Belege gibt es dafür nicht, aber von Psychotherapeut:innen erfahre ich immer wieder, dass Menschen aus der Coaching-Szene und von spirituellen Berater:innen mit Depressionen, Panikstörungen und Re-Traumatisierungen bei ihnen in die Praxis kommen. Ich glaube auch, dass die Häufigkeit psychischer Erkrankungen bei Menschen, die von Internet-Coaches angesprochen werden, extrem hoch ist.
Warum?
Es geht meistens nicht um ein paar Ziele, die man sich steckt. Wenn du Heilung oder Wunder brauchst, dann bist du meist sehr verzweifelt und hast enormen Leidensdruck.
Diesen Leidensdruck kenne ich. Ich habe wiederholt auftretende Depressionen.
Problematisch finde ich, wenn Coaches und Anbieter:innen die Psychotherapie immer wieder herunterspielen und so darstellen, als sei das alles niedrig schwingender Shit. Neulich habe ich eine selbsternannte Heilerin auf Instagram gesehen, die auf energetischer Ebene mit Opfern von Vergewaltigung arbeitet. Sie betont in ihren Videos, Psychotherapie sei totaler Quatsch.
Ich bin seit Jahren in psychotherapeutischer Behandlung. Ich würde sagen, das hat mir das Leben gerettet.
Eben. Ich glaube nicht, dass alle Coaches, die mittlerweile viel auf Insta, Tiktok, Youtube und Linkedin unterwegs sind, toxisch sind. An vielen Inhalten ist tatsächlich, zumindest ein bisschen was dran. Allerdings wird um dieses kleine bisschen Wahrheit eine ganze Menge an Motivationssprüchen und wissenschaftlich unhaltbaren Claims herumgebastelt.
Zum Beispiel?
Sie kennen bestimmt das Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung. Wenn du permanent denkst, dass ein Vorhaben schiefgehen wird, dann kann es dir passieren, dass das auch eintritt. Weil du neben deinen Gedanken auch dein Handeln danach ausrichtest.
Ich sabotiere das Gelingen quasi selbst.
Genau. Viele Coaches dehnen dieses Konzept aber aus und verbreiten das sogenannte Gesetz der Anziehung, eine in spirituellen Kreisen weitverbreitete Ideologie. Sie besagt, dass du alles, was du denkst und fühlst, energetisch in dein Leben ziehst. Wenn sich also dein Partner von dir trennt, deine Wohnung überschwemmt oder du plötzlich erwerbslos wirst, hat das demnach nichts mit äußeren Faktoren zu tun, sondern nur mit deinem Denken. Das ist wissenschaftlich überhaupt nicht haltbar.
Sie sind den Motivationssprüchen und Claims selbst einmal verfallen und sprechen in Ihrem Buch von einem Kult. Wie sind Sie da hineingeraten?
Alles begann auch bei mir damit, dass es mir körperlich, emotional und mental miserabel ging und ich das Leben nicht mehr ertragen konnte. Ich litt unter einer Angststörung, Depressionen und einer Essstörung. Ich erinnere mich noch daran, wie ich im Bett lag und dachte: „Wenn es da oben etwas gibt, dann ist jetzt der Zeitpunkt, mir etwas zuzusenden.“
Kurz darauf stieß ich auf eine Werbeanzeige für eine Meditations-App. Ich dachte mir: warum nicht? Ich gab dem Meditieren eine Chance. Meditation ist aber nicht für alle Menschen gleichermaßen geeignet und kann sogar hinderlich sein, zum Beispiel bei psychischen Krankheiten. So auch bei mir, da ich einen sehr starken inneren Dialog habe, der umso schlimmer wird, je mehr ich versuche, mich auf mich selbst zu konzentrieren. Auch, wenn die Mediation per se nicht schädlich war.
Aber?
Mal abgesehen davon, dass sie für mich nicht geeignet war, wurden mir durch das Klicken auf diesen Link vermehrt Werbeanzeigen angezeigt, in denen Lebensberater:innen sagten, körperliches Unwohlsein sei ein Weckruf der Seele. Leider hatte ich damals einen übergriffigen Psychotherapeuten, der mir Avancen machte und versuchte, sich körperlich zu nähern. Also brach ich die Therapie ab. Ich beschloss stattdessen, Coachings und sogenannte Heilungen bei kleineren Anbieter:innen zu buchen und lernte eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Coachingszene kennen, bei der ich das Gefühl hatte: Wenn eine mich heilen kann, dann sie.
Sie haben mir vor dem Interview gesagt, dass Sie hier keine Namen nennen wollen, weil Sie sonst Post von Anwält:innen bekommen.
Ja, leider schalten viele Coaches bei der kleinsten öffentlichen Kritik und negativen Erfahrungsberichten schnell mal Anwaltskanzleien ein. Das hatte ich schon viel zu oft und ich möchte an dieser Stelle nicht ins Detail gehen, weil ich weiß, dass jedes Wort von mir gegen mich verwendet werden kann.
Der Punkt ist: Die versprochene Heilung ist nie eingetreten. Gleichzeitig fand ich über soziale Netzwerke Anschluss an ihre Community und fühlte mich sofort wohl.
Warum das?
Ich hatte mein ganzes Leben lang Mobbing und Ausgrenzung erfahren und deshalb stets das Gefühl, entweder zu viel oder zu wenig zu sein. Doch jetzt war ich umgeben von Menschen, die mich verstanden. Ich habe mein ganzes Leben dort offenbart, genauso wie viele andere auch – und so wusste ich: Charlotte, hier bist du mit deinen Problemen nicht allein.
Klingt eigentlich gut! Mit dem Versprechen, dass die Leute nicht allein sind, habe ich einen ganzen Newsletter aufgebaut. Wir sprechen aber ja gerade nicht, weil Ihre Erfahrungen so toll waren.
Später mischten sich viele ungefragt in mein Leben ein. Sie glaubten zu wissen, was ich brauche und gaben mir ständig Ratschläge wie: „Geh unbedingt zu dieser Heilerin oder Coachin, die hat mir auch geholfen.“ Doch von Beginn an habe ich auch kritische Gedanken geäußert. Das kam in der Community nicht gut an.
Zum Beispiel?
Ich fragte in einem Post: „Wie kann es sein, dass beim Manifestieren der Fokus nur auf das Gute gelegt wird? Was ist mit den Menschen, denen Unrecht geschieht?“ Sofort kommentierten andere, ich sei noch nicht erleuchtet, und wie ich denn darauf käme, hier „so feindselig“ zu sein.
Ich habe mich dann bei jedem kritischen Gedanken gefragt, ob ich ihn äußern soll, weil ich befürchtete, Freunde zu verlieren und ausgeschlossen zu werden. Gleichzeitig beobachtete ich, wie zunehmend Posts gelöscht wurden, in denen andere Communitymitglieder politische oder gesellschaftskritische Meinungen äußerten.
Sie sind aber trotzdem dabei geblieben.
Ich habe dann ein Programm bei der Coachin für über 300 Euro gemacht, bei dem ich ein Arbeitsbuch mit täglichen Inputs bekam. Das Thema war die Heilung des inneren Kindes und das Manifestieren von Wundern. In Live-Sessions ging die Anbieterin des Programms auf einzelne Fragen der bis zu 10.000 Teilnehmer:innen ein.
An einem Tag sollte ich eine imaginäre Reise in meine Kindheit machen. Die Aufgabe war, sich an schöne Momente der Kindheit zu erinnern, um daraus Kraft zu ziehen, was bei mir aber genau das Gegenteil auslöste. Stattdessen sah ich schmerzvolle Szenen, die ich jahrelang verdrängt und weggeschlossen hatte. Für mich war das kaum auszuhalten. So sehr, dass meine suizidalen Gedanken wieder hochkamen.
Das klingt grob fahrlässig. Wie sind Sie damit umgegangen?
In meiner Not wendete ich mich an die Community und fragte, wie es eigentlich sein kann, dass Menschen in diesem Modul mit möglichen traumatischen Kindheitserinnerungen – ohne professionelle Begleitung – allein gelassen werden. Die Reaktion der Community war fürchterlich. Was mir einfallen würde, das Programm der Coachin zu kritisieren, schließlich sei all das mein eigenes Problem!
Als ich frustriert den Support der Coachin kontaktierte, vertröstete mich eine Mitarbeiterin per Mail, im nächsten Modul in zwei Wochen würde ich lernen, wie ich mit solchen Situationen umgehen könne und dass dies ein notweniger Prozess sei. Was eine glatte Lüge war.
Ein Jahr später versuchte ich ein zweites Mal, das Programm durchzuarbeiten, denn ich dachte, der Fehler läge möglicherweise bei mir. Ich scheiterte erneut und beschäftigte mich gleichzeitig mit den Büchern von Dr. Joe Dispenza, einem US-amerikanischen Autor. Er sagt sinngemäß: „Du kannst dir alles manifestieren, was du willst.“ Auch die Heilung schwerer Erkrankungen. Ich war in dieser Zeit schwanger und versuchte, mir eine schmerzfreie Geburt zu manifestieren.
Hat das geklappt?
Nein, überhaupt nicht. Die Geburt war ein Höllenritt und anschließend hatte ich dieses Kind auf dem Arm, das sich wochenlang nicht ablegen ließ, nicht aufhörte zu schreien und nur auf mir schlafen konnte. Das war der Moment, in dem ich einen Schlussstrich gezogen und mich von der ganzen Szene distanziert habe. Dadurch verlor ich alle Freund:innen und einige blockierten mich sofort. 2021 begann ich, ohne Namen zu nennen, über meine Erfahrungen auf Instagram zu schreiben, was dazu führte, dass mein Account innerhalb eines Jahres von 300 auf 10.000 Follower:innen wuchs.
Mir selbst kommt Instagram immer mehr wie eine Coaching- und nicht mehr wie eine Fotoplattform vor.
Das stimmt. Die Entwicklung hat mit der Natur von Social Media zu tun, weil wir es hier nicht mit sozialen Medien zu tun haben, sondern mit einem knallharten Business. Plattformen wie Instagram finanzieren sich über Werbung. Das nutzen viele Coaches für sich, denn am Ende des Tages haben sie nur ein Ziel: Werbung zu schalten. Für ihr eigenes Produkt, das sie verkaufen wollen.
Das funktioniert beides zusammen erstaunlich gut. Mit den Hoffnungen, Träumen und innersten Wünschen von Menschen lässt sich hervorragend Geld verdienen. Diese Supercoaches sind nicht erfolgreich, weil sie Menschen so toll helfen, sondern weil sie ein Businessmodell geschaffen haben, das funktioniert.
Sie nennen dieses Businessmodell in „Nicht noch ein Coaching-Buch!“ auch eine „künstliche Bedarfsproduktion“. Wie genau funktioniert das?
Ich habe das gerade bei einer Coachin beobachtet. In ihren Videos, Newslettern und Posts hat sie mehrere Wochen immer wieder betont, dass Nine-to-five-Jobs mittelmäßig sind und keine echte Freiheit bieten. Wir bräuchten stattdessen heute viel mehr Coaches. Das sei ein so wichtiger Job. Anschließend warb sie für die Möglichkeit, ab sofort bei ihr eine Coachingausbildung zu absolvieren.
So eine Überraschung!
Hier wird kein Produkt gemacht, das die tatsächlichen Probleme von Menschen löst, sondern zuerst wird ein neues Problem geschaffen, für das diese Coaches dann die perfekte Lösung anbieten. Vorher gab es diesen Bedarf überhaupt nicht, aber jetzt ist er plötzlich da. Du bekommst, wenn du dir diese Posts immer wieder ansiehst, ein schlechtes Gefühl, wenn du in einem einfachen Angestelltenverhältnis bist.
Stimmt, wer braucht schon Erzieher:innen, Handwerker:innen oder Pflegekräfte! Aber würdest du im Umkehrschluss sagen, dass es für diese Coaches überhaupt keinen Bedarf gibt?
Nein, so radikal würde ich das nicht sagen. Aber ich glaube, dass es diese Masse an Coaches, die Heilung, Erfolg und Wunder versprechen, nicht braucht. Denn viele, die von vorn anfangen, weil ihnen das Blaue vom Himmel versprochen wurde, krebsen mit 300 Followern herum, stecken enorm viele Ressourcen in ihr Business, können nicht davon leben und fühlen sich schlecht, weil sie einfach nicht weiterkommen. Der Markt ist mehr als gesättigt.
Wir brauchen eher weniger solcher Coaches und dafür mehr präventive Angebote vernünftig ausgebildeter Coaches und vor allem mehr Psychotherapieplätze und Kassensitze für Psychotherapeut:innen. Denn viele Menschen, die diese Angebote aufsuchen, haben psychische Probleme – oder bekommen sie sogar, nachdem sie bei bestimmten Coaches waren.
Was zeichnet gute Coaches aus?
Gute Coaches machen keine Erfolgs- und Heilsversprechen. Stattdessen verpflichten sie sich dazu, integer zu handeln, offen zu kommunizieren, zuzuhören, aber auch abzusagen, wenn es ihnen selbst nicht gutgeht. Sie kennen ihre Grenzen und sagen dir von vornherein: „Das mache ich, und das mache ich nicht.“ Außerdem stülpen sie dir nicht ihr Weltbild über und geben dir vor, was du zu tun und zu glauben hast. Sondern lassen sich auf dich, deine Situation und Bedürfnisse ein.
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert