In diesem Newsletter beantworte ich eure großen Fragen zum Ukraine-Krieg. KR-Mitglied Christina fragt: „Warum gibt es gerade im Osten Deutschlands so viele Putin-Versteher und Russlandfreunde, während wiederum in nahezu allen anderen ehemals okkupierten Staaten wie Estland oder Polen diese Stimmen eine Minderheit darstellen?
Ich bin in Sachsen geboren und lebe hier, meine Mutter ist in Estland geboren. Niemand von uns kann nachvollziehen, woher diese Liebe zu Russland und die Abneigung gegen die Ukraine kommt.“
Ostdeutsche haben mehr Sympathien für Russland als Westdeutsche – das ist kein Klischee. In der kürzlich erschienenen Doku „Russland, Putin und wir Ostdeutsche“ sagt ein Mann über Russland: „Warum soll ich jetzt hassen, was ich nie gehasst habe?“ Und ein ehemaliger Offizier der Nationalen Volksarmee, also der DDR-Streitkräfte, sagt: „Russland ist für uns symbolisch der Garant des Friedens.“
Mit dieser Meinung sind sie in Ostdeutschland nicht allein. Laut einer Umfrage von vergangenem Oktober fühlt sich ein Viertel der Ostdeutschen kulturell eher zu Russland hingezogen als zu den USA, während es in Westdeutschland nur sieben Prozent sind. Außerdem findet ein Drittel der Ostdeutschen, dass deutsche Medien zu negativ über Russland berichten. In Westdeutschland sind es weniger, nämlich 23 Prozent.
Warum ist das so? Und warum ticken die Menschen in Polen, Estland oder der Slowakei ganz anders, obwohl sie doch ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie Menschen in der DDR?
Für die Antwort muss ich erstmal mit einem Mythos aufräumen, nämlich dass die meisten Menschen in der DDR an der Revolution von 1989/90 beteiligt waren. Die Losung „Wir sind das Volk“ hatte bei mir bisher den Eindruck erweckt, dass zu dieser Zeit die große Mehrheit der DDR-Bevölkerung gegen das SED-Regime gekämpft hat. Aber das stimmt gar nicht.
Für viele Menschen war die DDR keine Diktatur
Für die Recherche habe ich mit Ilko-Sascha Kowalczuk telefoniert, er ist Historiker mit dem Schwerpunkt Aufarbeitung der SED-Diktatur. Er hat mir gesagt: „Es war keine Mehrheit, die sich damals engagiert hat, sondern eine große Minderheit.“ Der Großteil der Bevölkerung habe sich angepasst und versucht zu überleben. „Viele Menschen haben die DDR nicht als Diktatur wahrgenommen“, sagt Kowalczuk. Und das habe auch Einfluss darauf, wie die Menschen heute das Putin-Regime wahrnehmen.
In anderen Ländern, zum Beispiel in Litauen oder Polen, engagierte sich dagegen eine große Mehrheit für ihre Unabhängigkeit. Das hängt mit der „doppelten Besetzung“ zusammen, die die Menschen dort erleben mussten. 1939 marschierten Sowjets und Deutsche gleichzeitig in Polen ein und ermordeten allein zwischen 1939 und 1941 rund 200.000 Pol:innen. Im selben Zeitraum annektierte die Sowjetunion die baltischen Staaten und errichtete ein Terrorregime. 1941 griff Nazideutschland die Sowjetunion an, besetzte die baltischen Staaten und ermordete systematisch Menschen. Anders ausgedrückt: Hitler und Stalin sind für die Menschen dort gleich schlimm.
Dagegen konnte die Sowjetunion den Menschen in der DDR sagen: Ihr habt uns zuerst überfallen und jetzt haben wir euch vom Faschismus befreit. Laut dem Historiker Kowalczuk, der 1967 in der DDR geboren wurde, hält sich diese Erzählung bis heute in den Köpfen der Menschen. Es habe nämlich geheißen: Kommunismus bedeutet Frieden und wer gegen Frieden ist, der ist für Faschismus. Ein Narrativ, das man sich am Abendbrottisch erzähle und deshalb auch junge Menschen beeinflusse. „Man kann sich von dieser Ideologie nur befreien, wenn man sich aktiv mit ihr auseinandersetzt“, sagt Kowalczuk.
“Die Russen” waren in der DDR unbeliebt
Übrigens, so Kowalczuk, sei es ziemlicher Quatsch, dass Ostdeutsche Russland besser verstehen, weil sie in der Schule Russisch gelernt und ein paar sowjetische Autor:innen gelesen haben. Die meisten saßen ihre Zeit im Russischunterricht einfach nur ab. Eine in der DDR geborene Bekannte erzählte mir einmal, das einzige russische Wort, an das sie sich erinnern könne, sei „Dostoprimetschatjelnost“. Das heißt „Sehenswürdigkeit“ und ist solch ein Zungenbrecher, dass es nicht gerade Lust macht, sowjetische Literatur auf Russisch zu lesen.
Außerdem waren „die Russen“, wie Personen aus der Sowjetunion bezeichnet wurden, ziemlich unbeliebt. Kowalczuk hat ukrainische Wurzeln und das hört man seinem Namen an. Als Kind sei er oft als „Russe“ beschimpft worden. „Viel Schlimmeres ging auf dem Schulhof nicht“, sagt er.
Die Sympathie für Russland kam also erst später. Und natürlich spielt die Wende dabei eine entscheidende Rolle.
„Nirgendwo war der Schock über die Transformation so stark wie in Ostdeutschland“, sagt Kowalczuk. Die Einführung der D-Mark am 1. Juli 1990 bedeutete einen radikalen Umbruch für Ostdeutschland. Die Wirtschaft kollabierte, die Preise stiegen und die Menschen fanden keine Arbeit mehr. Dazu kommen noch Existenzängste, weil Berufsabschlüsse plötzlich nichts mehr wert waren. Gleichzeitig war die soziale Abfederung nirgendwo so weich wie in Ostdeutschland – was viele aber als selbstverständlich wahrnahmen und deshalb nicht wertschätzten.
Die Auswirkungen der Transformation sind bis heute zu spüren: Ostdeutsche sind in den Chefetagen von deutschen Bundesbehörden unterrepräsentiert, die Arbeitslosenquote ist in Ostdeutschland höher und die Löhne sind deutlich niedriger.
Also kein Happy End nach der Wiedervereinigung? Kowalczuk sagt: Kommt darauf an, mit wem man sich vergleicht. Und hier sind wir bei einem weiteren großen Unterschied zwischen Ostdeutschland und anderen europäischen Ländern des ehemaligen Ostblocks.
Länder wie Ungarn oder Tschechien messen die Veränderung an sich selbst. Sie fragen sich also: Geht es mir heute besser als vor zehn Jahren? Und können diese Frage meist mit Ja beantworten. Ostdeutschland dagegen misst sich immer mit Westdeutschland. Und dieser Vergleich geht eben oft nicht gut für Ostdeutschland aus.
Russland ist Projektionsfläche
Wenn Demonstrierende Verständnis für Russland zeigen oder gar Russland-Flaggen schwenken, wie es vergangenen November in mehreren ostdeutschen Städten passierte, sind diese Menschen nicht unbedingt echte Russland-Fans. Jörg Ganzenmüller ist Professor für Europäischen Diktaturenvergleich in Jena und hat mir gesagt: „Ich interpretiere das so, dass diese Menschen ihre Sympathie für Putin und das autoritäre System zum Ausdruck bringen wollen.“
Das wiederum hänge mit zwei Faktoren zusammen: Antiamerikanismus und Enttäuschung von Demokratie. Im Osten fühlten sich viele Menschen zu Recht benachteiligt und politisch ohnmächtig, sagt Ganzenmüller. „Diese Erfahrung der Benachteiligung führt zu einer Solidarität mit Putins Russland, das auch immer behauptet, vom Westen betrogen worden zu sein.“
Dazu kommt noch eine wirtschaftliche Komponente: Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland betreffen Ostdeutschland stärker als Westdeutschland. Die Nord-Stream-Pipelines enden in Lubmin bei Greifswald, in Schwedt und Leuna stehen Raffinerien, die lange von russischem Öl abhängig waren. „Ich sehe das auch hier in Jena, wo der Mittelstand sehr stark ist und traditionell viele Wirtschaftsbeziehungen nach Russland hat“, sagt Ganzenmüller. Bei einigen Menschen sei das Gefühl entstanden, dass westliche Eliten Wirtschaftssanktionen beschließen, die wiederum mittelständischen Unternehmen in Ostdeutschland schaden.
Für Ganzenmüller würde mehr Verständnis in dieser Debatte helfen: „Es ist höchste Zeit, dass sich der Westen selbstkritisch mit der Transformationszeit auseinandersetzt. Dann gäbe es auch mehr Verständnis für die Befindlichkeiten in Ostdeutschland, die auch ihre Berechtigung haben.“
Ich interpretiere das so: Wenn Westdeutsche verstehen würden, wie heftig die Wende für Ostdeutsche war, dann könnten auch Ostdeutsche verstehen, dass Russland selbst mit der größten Sympathie kein „Garant des Friedens“ ist. Die Debatte über Russland-Sympathien im Osten ist eben auch eine Debatte über das Verständnis zwischen Ost- und Westdeutschland. Es ist in erster Linie eine innerdeutsche Debatte.
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Redaktion: Rico Grimm, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert