Den Tiefpunkt in meiner neuen Rolle als Hundemama erlebe ich etwa zwei Wochen, nachdem Lio bei uns eingezogen ist. Wir spielen mit einer Art Tau aus Baumwolle, an dem er sich festbeißt und zieht. Lio ist zu diesem Zeitpunkt elf Wochen alt, so groß wie Schweinchen Babe und ein tapsiger Labrador-Appenzeller-Welpe. Einfach süß. Meistens. Aber gerade findet Lio es witzig, sich unterm Bett zu verstecken – und dort auf den Parkettboden zu pinkeln.
Mein Partner ist gerade nicht zu Hause. Und ich? Bin nicht in der Lage, gleichzeitig Lio in Schach zu halten und die Lache wegzuwischen. Also versuche ich, ihn vom Bett fernzuhalten. Aus Angst, dass er gleich nochmal nachlegt. Aber wenn ich ihn festhalte, beißt er mich. Nicht aggressiv, eher ausgelassen. Welpen müssen erst noch lernen, dass sie das nicht dürfen. Die Milchzähnchen sind spitz. Ich habe schon einige offene Stellen an der Hand. Also versuche ich, ihm den Weg zu versperren, hocke mich zwischen Bett und Wand – und heule.
Bevor wir Lio bekamen, habe ich mir ausgemalt, wie es sein würde, einen Hund zu haben. Ich dachte daran, sein weiches Fell zu streicheln, mit ihm durch den Park zu laufen, wieder die wohlige Gemütlichkeit zu spüren, die Haustiere verströmen, wenn sie sich zusammenrollen und schlafen. Jetzt weiß ich: Es ist anders. Irgendwie mehr von allem. Lio hat mich zum Weinen und an meine körperlichen Grenzen gebracht. Ich habe an meinem Erziehungsstil gezweifelt, bin auf eine Art wütend geworden, die ich noch nicht von mir kannte.
Doch wenn ich heute an diese Situation denke, kommt sie mir unwirklich vor. Ich würde anders reagieren. Wahrscheinlich würde es gar nicht so weit kommen. Ich liebe jedes Haar an diesem Hund mehr, als ich mir hätte vorstellen können.
Sieben kleine Schwänzchen wackeln hin und her
Aufgewachsen bin ich mit Katzen. Es gibt ein Foto, darauf bin ich als Baby zu sehen und selbst nur ein bisschen größer als unsere Katze Katinka. Wir liegen nebeneinander und schlafen.
Als mein Partner und ich nun über einen Hund nachdenken, stelle ich ihn mir ein bisschen fordernder und ein bisschen treuer vor als eine Katze. Mein Partner und ich leben seit zwei Jahren zusammen. Er möchte schon lange einen Hund haben, ich eine Katze. Wir entscheiden uns für beides und fangen mit dem Hund an. Wir haben gelesen, dass er die Katze später eher in seinem Rudel annehmen würde, als umgekehrt.
Also googeln wir nach „beste Hunderassen für Anfänger“. Die meisten fallen direkt raus: Golden Retriever – zu lange Haare. Bichon Frisé – zu klein. Mops – kann nicht richtig atmen. Schließlich kommen wir immer wieder auf den Labrador. Er wird als familienfreundlich, gutmütig und leicht zu erziehen beschrieben. Auf Internetportalen sehe ich mir Anzeigen von privaten Züchter:innen an – und finde irgendwann die Anzeige für Labrador-Appenzeller-Mischlinge.
Als ich eine Anfrage schicke, kommt über Whatsapp ein Video zurück. Ich zähle sieben kleine Welpen, die am Bauch ihrer Mama liegen. Einer liegt quer über den anderen, er strampelt mit den Hinterbeinchen, um besser Halt zu finden. Sieben kleine Schwänzchen wackeln hin und her. Aber am süßesten sind die Geräusche. Man kann richtig hören, wie engagiert die Welpen an den Zitzen saugen. Ich sehe das Video wieder und wieder an und schicke es an alle, mit denen ich schon einmal über unsere Hundepläne gesprochen habe. Schließlich fahren wir los.
Als wir bei den Besitzer:innen ankommen, achten wir darauf, wie die Welpen untergebracht sind. Auf einer Seite des Bundeslandwirtschaftsministeriums habe ich unter anderem gelesen, dass die Mutterhündin unbedingt bei den Welpen sein sollte, dass der Wurfbereich sauber sein und es einen Rückzugsort für die Welpen geben sollte. Auch die Hundebesitzer:innen fragen uns aus: Wie wir wohnen, ob wir genug Zeit für einen Welpen haben, ob wir in der Wohnung einen Hund halten dürfen. Wir haben ein gutes Gefühl. Wir dürfen die Welpen hochnehmen. Einer, er trägt ein grünes Halsband, schläft auf dem Schoß meines Partners ein. Er soll einer von den ruhigeren, entspannteren Welpen sein. Wir entscheiden uns für ihn.
Nun heißt es Warten. Noch vier Wochen. Wir entscheiden uns, den Welpen Lio zu nennen. Ich male mir aus, wie Lio neben mir auf der Couch sitzen wird, wenn wir Filme gucken. Wie viel schöner es sein wird, die Gemüsekiste abzuholen, wenn ich nicht allein bin, sondern ein kleiner Hund neben mir läuft. Auf Youtube bingewatchen wir mehrere Staffeln „Der Welpentrainer“, eine Serie, in der Hundetrainer André Vogt ziemlich unterhaltsam erklärt, wie man Welpen erzieht. Bei ihm sieht das alles sehr einfach aus. Ein perfektionistischer Teil von mir nimmt sich vor, in der Erziehung alles richtig zu machen. Natürlich weiß ich, dass Welpen anstrengend sind. Aber vor allem freue ich mich.
Ich bin überfordert – und will es mir nicht eingestehen
Nachdem wir Lio abgeholt haben, ist alles aufregend. Er frisst zum ersten Mal aus seinem Napf. Ich entsorge den ersten Kackhaufen. Wir gehen in die Welpengruppe einer Hundeschule bei uns in der Nähe. Dort kann Lio andere Welpen kennenlernen, mit ihnen spielen und soziales Hundeverhalten lernen. Eine Art Hunde-Kita, nur dass die Eltern dableiben. Die Hundetrainer:innen trennen die Welpen, wenn sie zu wild spielen – zum Beispiel, wenn einer den anderen auf den Boden drückt und nicht mehr aufstehen lässt. Bei den ersten Besuchen ist Lio schüchtern und beobachtet die anderen Tiere, statt mit ihnen zu spielen.
Die Nächte verbringen mein Partner und ich abwechselnd mit Lio im Wohnzimmer, damit wir jede zweite Nacht durchschlafen können. Aber relativ schnell hält er bis zum Morgen durch. Ich hatte mich auf anstrengende Nächte eingestellt. Aber jetzt überfordern mich die Tage.
Der TV-Welpentrainer empfiehlt, den Welpen am Anfang tagsüber alle zwei Stunden rauszubringen und immer an der selben Stelle ins Gras zu setzen. Loben, wenn er pinkelt. Im Idealfall versteht er dann schnell, dass er das nur draußen tun soll. Easy, wenn man in einem Haus mit Garten wohnt. Wir aber tragen Lio drei Stockwerke nach unten und über die Straße zu einem Stück Rasen. Um seine Gelenke zu schonen, soll er noch nicht selbst auf den Treppen laufen. Später, als Lio fast zwanzig Kilo wiegt, werde ich wochenlang Hüftschmerzen haben.
Drinnen lassen wir Lio nie aus den Augen – aus Sorge, er könnte das nächste Stromkabel anknabbern. Wir lernen, dass wir uns sofort von Lio abwenden sollen, wenn er uns beißt. Als mein Daumen zum ersten Mal blutet, fange ich an zu weinen. Ich merke, dass ich gestresst und überfordert bin und will es mir gleichzeitig nicht eingestehen. Sollte nicht alles wunderbar sein, jetzt wo Lio da ist? Immerhin kann er keine zehn Minuten den Bürgersteig entlang tapsen, ohne ein Kompliment oder zumindest dahinschmelzende Blicke zu ernten.
Nach und nach verändert sich etwas. Lio wird immer weniger der süße Welpe mit den auffallend blauen Augen – und mehr Lio, ein Familienmitglied. Es klingt vielleicht kitschig, aber ich denke in dieser Zeit immer wieder an den Fuchs und den kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry. Da sagt der Fuchs: „Du bist für mich nur ein kleiner Junge, ein kleiner Junge wie hunderttausend andere auch. Ich brauche dich nicht. Und du brauchst mich auch nicht. Ich bin für dich ein Fuchs unter Hundertausenden von Füchsen. Aber wenn du mich zähmst, dann werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzigartig sein. Und ich werde für dich einzigartig sein in der ganzen Welt.“
Wir tragen ihn in immer größeren Abständen die Treppe hinunter und trotzdem passiert immer seltener ein Missgeschick. In der Welpengruppe spielt er ausgelassen mit den anderen Welpen. Ich kann wieder durchatmen und merke, wie sehr ich mich an diesen kleinen Hund gewöhnt habe. Wenn wir auf der Couch sitzen und meine Finger durch Lios Fell fahren, ist es genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich sehe Lio an und entdecke den kleinen Wirbel an seinem Ellbogen, wo das Fell aus verschiedenen Richtungen zusammenläuft. Ich höre das Flap-Flap von Lios Schwanz, wenn ich näher komme, weil er sich auf meine Zuwendung freut. Ich höre, wie Lio im Schlaf schmatzt. Wenn er lange gelegen hat, streckt er erst das eine Hinterbein – den Fußrücken auf dem Boden, wie bei einer Ballerina – und dann das andere. Ich entdecke, dass Lio tatsächlich verschlafen aussieht, wenn er gerade aufgewacht ist.
Ich kann ihn kaum noch halten
Als Lio zu alt wird für die Welpengruppe, besuchen wir den Erziehungskurs der Hundeschule. Ich erfahre, dass nach dem Zahnwechsel (den wir abgesehen von ein paar Bissspuren am Palettensofa gut überstehen) bald die Pubertät losgeht. Zur Vorbereitung schauen wir uns ein paar Folgen „Trouble Teenies“ mit dem Welpentrainer an. Wir überlegen, wer wohl mit ihm draußen ist, wenn Lio das erste Mal sein Bein hebt.
Als wir in den Sommerurlaub fahren, ist Lio ein gutes halbes Jahr alt. Anstatt wie sonst nach einem Ort zu suchen, der uns gefällt, googeln wir „Campingplatz mit Hundestrand Italien“. Am Ende fahren wir nicht an den spärlich bevölkerten Strand, den ich mir ausgemalt hatte, sondern in einen Ort, in dem sich ein Restaurant an das andere reiht und ein Sonnenschirm an den nächsten. Und auch der Urlaub wird weniger entspannt, als ich mir erhofft hatte.
In keinem der Artikel über anfängerfreundliche Labradore stand, dass die Rasse auch dafür bekannt ist, besonders viel Energie zu haben und entsprechend aufgeregt auf eigentlich alles zu reagieren. Als wir uns bei einer Eisdiele hinsetzen wollen, zieht Lio so stark an der Leine, dass er fast den Tisch umwirft. Wir müssen wieder gehen. Am Strand führen Holzbretter wie ein Laufsteg zwischen den Handtüchern und Sonnenschirmen zum Meer. Das Wasser zu erreichen, ist wie eine Challenge bei „Germany’s Next Topmodel“: Links und rechts sitzen überall Hunde und Lio, gutmütig und energiegeladen, will sie unbedingt kennenlernen. Weil ich unseren aufgeregten Hund kaum noch halten kann, muss diesen Spießrutenlauf immer mein Partner übernehmen.
Anstatt mit einem Buch am Strand zu liegen, verbringen wir den größten Teil des Tages in unserem Bungalow. Erst am Abend, wenn es leerer geworden ist, wagen wir uns ans Meer. Mir wird klar, dass meine Urlaube von jetzt an anders sein werden als früher. Aber dann sehe ich, wie Lio durch die Wellen springt, seinem Ball hinterher und wie er das erste Mal schwimmt, ganz von allein. Und ich weiß wieder, warum es für mich zwar anstregend, aber vor allem schön ist, einen Hund zu haben.
Manchmal steigt eine hilflose, verzweifelte Wut in mir hoch
Ich bin es, bei der Lio das erste Mal das Bein hebt. Da gehe ich gerade im Wald spazieren mit meiner Mutter. „Hast du das gesehen?“, rufe ich ganz aufgeregt. Wenn ich mit Lio an der Leine laufe, ist es inzwischen eher so, als würden wir im Stau stehen: Stop and Go. Wir laufen ein paar Meter, dann erschnüffelt Lio etwas Spannendes – Pipi von anderen Hunden oder ein Stück Breze, das ein Kind fallen gelassen hat – und zerrt an der Leine. Ich stelle meinen ganzen Körper schräg, um inzwischen fast 30 Kilo Hunde-Euphorie etwas entgegenzusetzen. Ich warte. Dann gehen wir weiter, ein paar Meter, bis Lio sich wieder in die Leine wirft und ich versuche gegenzuhalten. So haben wir es im Erziehungskurs gelernt und so steht es in den Büchern, die ich gelesen habe.
Manchmal komme ich nach einem Spaziergang völlig gestresst nach Hause. Wenn Lio so stark an der Leine zieht, dass meine Finger mehr weh tun, als nach dem Bouldern, steigt die Wut in mir hoch. Eine hilflose, verzweifelte Wut, weil ich nicht mehr weiterweiß. Ich sehe, dass Lio bei meinem Partner weniger zieht und frage mich, ob ich strenger sein muss, konsequenter. Aber wenn ich wirklich bei jedem Ziehen stehen bleibe, kann ich die Spaziergänge kaum noch genießen.
Ich bekomme einen Tipp von einer Bekannten und vereinbare eine Einzelstunde bei einer Hundetrainerin. Wir gehen zusammen raus und ich sehe, wie viel sie mit Lio spricht. Sie sagt, dass das Ziehen normal sei für sein Alter. Lio ist jetzt ein gutes Jahr alt und mitten in der Pubertät. Die Trainerin sagt mir auch, dass es okay ist, nicht jedes Mal stehen zu bleiben. Im schlimmsten Fall würde das nicht nur mich frustrieren, sondern auch den Hund.
Bei den nächsten Spaziergängen beobachte ich Lio viel aufmerksamer als bisher. Ich merke, dass er besonders stark zieht, nachdem er anderen Hunden begegnet ist. Anstatt hinter den Hunden herzulaufen, drehe ich manchmal um und merke, dass es Lio dann leichter fällt, an der Leine zu laufen. Ich lasse ihm mehr Zeit, um Dinge zu verarbeiten, bleibe minutenlang stehen, während er beobachtet und merke, wie ich dadurch auch selbst ruhiger werde.
Ich bekomme mehr und mehr Vertrauen in den Prozess. Fange an zu glauben, dass ich das schon ganz gut machen werde, dass Lio irgendwann ruhiger wird, wir entspannter spazieren können. Ich gestehe mir zu, dass ich eine gute Hundemama sein kann. Auch ohne perfekte Erziehungsskills.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert