Eine ruhige Wohngegend in Köln-Sürth, ein Reihenhaus steht sauber neben dem nächsten. In einem von ihnen öffnet sich jetzt eine Tür. Hier wohnt KR-Leserin Chrissie, 36, mit ihrer Zwillingsschwester. Von außen sieht das Leben der beiden so normal aus wie ihr Reihenhaus. Aber Chrissie weiß, wie besonders das Lebensmodell ist, das sie sich ausgesucht hat: zwei Frauen, zwei Kinder – kein Mann. Denn Chrissie ist zwar Mutter, von Nele nämlich, die mittlerweile sieben Monate alt ist. Aber es gibt keinen Vater dazu. Nur einen Samenspender, den Chrissie privat im Internet fand. Auch ihre Zwillingsschwester zieht ihre dreijährige Tochter Lua ohne Mann groß. Zusammen bilden die vier eine Seltenheit, nicht nur in Köln-Sürth, wo die klassische Hetero-Familie die Norm setzt.
Ich habe Chrissie zum Interview getroffen, weil ich von ihr wissen wollte: Wieso hat sie sich für dieses Lebensmodell entschieden? Wie lebt es sich als freiwillig Alleinerziehende? Und hat sie keine Skrupel, ihrer Tochter gegenüber, weil die ohne Vater aufwächst?
Chrissie, du hast dein Kind freiwillig ohne Partner bekommen und ziehst es auch ohne groß. Im Vorgespräch sagtest du zu mir: „Es ist genau richtig so – vielleicht sogar besser als mit Partner.“ Was ist so schlimm an der Kleinfamilie?
Nicht falsch verstehen: Ich habe nichts gegen dieses Konzept. Wenn es funktioniert, freue ich mich. Bloß gibt es für mich mehr als die Kleinfamilie. Und ich kenne eben viele Beispiele, in denen es mit Mann, Frau und Kind nicht gut funktioniert. Was dann entsteht, ist für niemanden schön. Oft brechen Familien auseinander. Und selbst wenn eine Familie hält, liegt oftmals vieles im Argen.
Aber bei vielen Menschen geht das Konzept auf: Sie sind glücklich als Familie.
Ich persönlich habe nicht allzu viel Vertrauen in dieses Konzept – wenn es denn funktioniert. Oft entsteht aber eine Ungleichheit, so dass ein Part sich ungerecht behandelt fühlt. Meistens ist es die Frau. Als ich mich für die Solo-Mutterschaft entschied, dachte ich: „Ich habe einen akuten Kinderwunsch. Und es gibt keine Garantie, dass die klassische Konstellation von Mann, Frau, Kind hinhaut. Dann kann ichs auch von Anfang an allein durchziehen.“
Was heißt Familie für dich?
Die Definition hat sich bei mir extrem geöffnet in den vergangenen Jahren. Mann-Frau, Frau-Frau, Mann-Mann, ein Erwachsener mit Kind: Das ist alles Familie für mich. Mittlerweile denke ich sogar darüber nach, ob man nicht auch als ganz alleinstehende Person eine Familie sein kann. Wieso eigentlich nicht? Warum sollte nicht auch eine solche Person das Recht haben, eine Familie zu sein?
Der Verbund mit deiner Schwester, deren Tochter, dir und deiner Tochter – seid ihr eine Familie?
Wir sind ja Zwillingsschwestern, natürlich ist das für mich Familie. Aber unser Zusammenleben betrachte ich eher wie zwei Familien, die in einer Art WG zusammen wohnen: eben sie mit ihrer Tochter und ich mit meiner.
Du stellst mit dem Konzept Solo-Mutterschaft einen Gegenentwurf zu dem Klischee dar, das an dem Wort „Alleinerziehende“ klebt. Eine Frau, die alleinerziehend ist, gilt in der Regel als einsam, chronisch überfordert und armutsgefährdet. Lass uns diese drei Charakteristika doch mal durchgehen. Erstens: Fühlst du dich einsam?
Nee.
Obwohl da kein Mann ist? Und auch kein Vater für deine Tochter?
Zu Beginn meiner Reise als Solo-Mama habe ich immer gedacht: „Na gut, dann kriege ich erstmal das Kind allein, und ein Mann kommt später vielleicht noch dazu.“ Mittlerweile denke ich: Wenn kein Mann mehr kommt, ist das auch völlig in Ordnung. Eine Partnerschaft fehlt mir momentan nicht. Ich denke nicht mehr, dass ich einen Mann brauche, um mich gut fühlen zu können oder vollständig zu sein. Diese Vorstellung, auch das romantische Ideal, habe ich total losgelassen. Aber ich will auf keinen Fall ausschließen, dass irgendwann nochmal ein Partner in mein Leben tritt.
Über das Loslassen möchte ich gern später noch ausführlicher sprechen, kommen wir aber jetzt erstmal zu dem zweiten Klischee, das Alleinerziehenden so gern angeheftet wird: Fühlst du dich chronisch überfordert als Solo-Mama?
Nee, auch nicht, und wahrscheinlich werden mich dafür jetzt alle Mamas da draußen hassen (lacht)! Ich glaube, dass ich mich nicht überfordert fühle, hängt mit zwei Faktoren zusammen: Mit meiner eigenen Erwartungshaltung und mit dem Kind. Ich erwarte nicht, dass mein Kind nach Stechuhr funktioniert. Ich glaube, wenn man mit zu starren Erwartungen an die Sache herangeht, kann man nur frustriert sein. So habe ich aber nie gedacht.
Sondern?
Ich habe mich von Beginn an an den Bedürfnissen meiner Tochter orientiert. Sie schläft, wann sie will. Sie muss nachts alle zwei Stunden gestillt werden. Anfangs hat sie jede halbe Stunde getrunken. Natürlich ist das anstrengend. Aber so ist es eben. Plus: Ich hatte mir ja sehr genau überlegt, ob ich Solo-Mama werden will. Ich hatte mir dieses Kind jahrelang gewünscht. Ich war dann so dankbar, als es klappte. Das ist vielleicht ein Unterschied zu Alleinerziehenden, die unfreiwillig in die Situation rutschen, ein Kind oder mehrere Kinder allein großziehen zu müssen. Ich wusste genau, worauf ich mich einlasse.
Du hast dein Kind angesprochen als weiteren Faktor. Was meinst du damit?
Ich glaube, wenn man ganz ehrlich ist, entscheidet zum größten Teil das Baby, ob man sich als Mutter überfordert fühlt oder nicht. Schon als ich mit Nele schwanger war, dachte ich immer: „Die hat das alles schonmal gemacht, die weiß, wie der Hase läuft!“ Weil alles so reibungslos ablief. Auch vor der Geburt dachte ich: „Nele wird schon gut rauskommmen!“ (lacht).
Kommen wir zu Punkt drei: Lebst du am Rande des finanziellen Existenzminimums?
Vor der Schwangerschaft habe ich Vollzeit als Senior Marketing Manager E-Commerce gearbeitet und sehr gut verdient, ich konnte Geld zurücklegen. Das Elterngeld ist generell auf 1.800 Euro monatlich gedeckelt. Deswegen lebe ich momentan zusätzlich von meinen Ersparnissen, die ich eigentlich für die Altersvorsorge angedacht hatte. Also nein, ich lebe nicht am Rande des Existenzminimums. Aber ohne meine Ersparnisse wüsste ich nicht, wie ich es allein mit Kind wuppen sollte. Dass das Elterngeld gedeckelt ist, regt mich sehr auf. Dass man mit 1.800 Euro vom Staat offenbar schon als so wohlhabend angesehen wird.
Du passt nicht in das Bild, das die Gesellschaft sich gern von einer Alleinerziehenden macht.
Nee. Ich finde mich in diesem Begriff auch nicht wieder. Weswegen ich auch lieber „Solo-Mama“ sage.
Braucht man heute als Frau noch einen Mann, um eine Familie zu gründen?
Nö. Und ich muss auch ehrlich sagen: In den ersten Monaten, als Nele auf der Welt war, hätte ich sie gar nicht mit einem anderen Menschen teilen wollen (lacht).
Das klingt bis hierhin ja alles sehr modern und empowernd. Nach dem Motto: Selbst ist die Frau. Aber man muss auch ehrlich sagen: Nicht jede Frau hat zufällig eine Schwester, die zufällig alleinerziehend ist, der man zufällig nahesteht und mit der man zufällig zusammenziehen kann.
Das höre ich oft. Aber dazu kann ich nur sagen: Mit der eigenen Zwillingsschwester und zwei kleinen Kindern zusammenzuziehen, ist wirklich die am wenigsten komfortable Situation!
Was? Wieso das denn?
Ich glaube, mit jeder anderen dahergelaufenen Person würde es besser funktionieren als mit zwei Schwestern!
Im Ernst?
Ja, total! Bei Geschwistern kommt ungefiltert alles raus, jede Laune. Man kennt sich zu gut. Schon allein dadurch entstehen Konflikte. Unter Geschwistern nimmt jeder eine bestimmte Rolle ein in der Familie, meistens stehen die unterschiedlichen Rollen sich konträr gegenüber. So ist das bei uns auch. Wir wohnen jetzt seit einem Jahr zusammen. Mittlerweile sind wir an dem Punkt, an dem wir die größten Konflikte für uns gelöst haben. Aber das war auch viel Arbeit.
Was sind das genau für Konflikte, die ihr aushandeln musstet?
Hauptsächlich sind das Banalitäten. Wer bringt den Müll raus? Wieso stehen die Schuhe wieder im Flur herum? Alltagsprobleme, die die meisten Menschen kennen, die nicht allein leben.
Ihr seid zwei Frauen zuhause. Teilt ihr euch die Care-Arbeit gerecht auf? Oder macht eine mehr und die andere weniger?
Bei uns hat jede die komplette Mental Load einer Alleinerziehenden. Dadurch, dass jede erwachsene Person ein Kind hat, ist ja klar, dass auch jede sich drum kümmern muss. Ich passe ein-, zweimal die Woche auf Lua auf – und das erwarte ich im Gegenzug auch von meiner Schwester. Das funktioniert; man kann auch mit zwei kleinen Kindern noch Zeit rechts und links haben, wenn beide sich kümmern. Meine Schwester und ich haben eine Aufgabenverteilung im Haushalt. Bis die stand, haben wir auch viel diskutiert, das ist nicht anders als bei einem Paar. Ich glaube aber, wenn ich mit einem Partner ein gemeinsames Kind hätte, wären das Zusammenleben und die Kindererziehung viel, viel mehr Diskussion und Streit. Ich glaube, es ist sehr schwer, dann auch noch eine Romantik als Paar aufrechtzuerhalten.
Und wie habt ihr euer Zusammenleben finanziell gelöst?
Jede ist finanziell komplett für sich zuständig. Wir teilen größere Anschaffungen hälftig, auch die Miete fürs Haus und die Nebenkosten. Aber wir haben kein gemeinsames Konto. Sofie arbeitet, ich werde in sieben Monaten, wenn meine Elternzeit vorbei ist, auch wieder in meinen alten Job zurückkehren, erstmal 20 bis 25 Stunden pro Woche.
Du bist jetzt 36 Jahre alt, sitzt hier und wirkst sehr zufrieden ohne Mann und ohne Vater deines Kindes. Aber welche Zukunftsvorstellung hattest du mit, sagen wir, Ende 20?
Ich hatte meinen ersten Job und wohnte damals noch in Berlin. Am Wochenende war ich viel unterwegs, habe Party gemacht. Ich war Single, hatte aber eine große Sehnsucht nach einem Partner und natürlich die ganz normale, klassische Vorstellung: Mit Mitte 30 würde ich verheiratet sein und mit meinem Mann Kinder haben. Dieses Szenario war für mich sehr lange das einzig vorstellbare Bild.
Passt jetzt nicht wirklich zu der zufriedenen Solo-Mama. Was ist in den Jahren dazwischen passiert?
Mit 33 Jahren machte ich eine Wende in meinem Leben durch. Ich war zu diesem Zeitpunkt in Berlin sehr unglücklich, genervt von der Stadt, die mich stresste, mit diesem ständigen Druck, immer was erleben zu müssen, mit dem Lärm, all den hippen Menschen. Ich wusste aber auch nicht genau, wohin. Ich hing in der Luft. Ich überlegte, entweder zurück in die Heimat zu ziehen, also in die Nähe von Weimar, oder nach Köln, weil meine Zwillingsschwester dort lebte. Aber eine Entscheidung zu treffen, gelang mir nicht. Als meine Schwester mich mitten in dieser Zeit anrief, um mir zu sagen, sie sei schwanger, stand für mich fest: „Alles klar, hier werde ich gebraucht!“ Zwei Monate später kündigte ich und zog nach Köln.
Wie sah es in dieser Zeit mit Männern aus? Hattest du einen Partner?
Nein. Ich hatte Dates, weil ich eine feste Beziehung suchte, aber keine von diesen Begegnungen funktionierte für länger. Ich hatte Beziehungen in meinem Leben, die stabilste dauerte zwei Jahre. Aber die längste Zeit war ich Single. Obwohl ich nie Single sein wollte.
Was hat der Umzug nach Köln damals verändert?
Berlin war für mich immer ein Wettlauf gewesen: Wer ist cooler? Wer erlebt mehr? Wer hat den besseren Job? In Köln hatte ich dieses Gefühl nicht. Ich konnte entschleunigen und besser in mich reinhorchen: Was sind eigentlich meine Bedürfnisse? Hinzu kam die Geburt meiner Nichte, die meinen Kinderwunsch nochmal krass verstärkte. Was aber auch dazu führte, dass ich mich von meiner biologischen Uhr noch gestresster fühlte. Also nahm ich mir vor: „Ich treffe nur noch gute Typen!“ Zum Beispiel die, die auf einer Datingplattform schon angeben, dass sie auch eine feste Partnerschaft suchen. Aber dann kam Corona, mit all den Beschränkungen. Man konnte nicht sehr gut neue Leute kennenlernen, sich abends nicht entspannt irgendwo auf einen Wein treffen. Irgendwann dachte ich: „Wer weiß, wie lange das noch geht?! So klappts erst recht nicht mit nem Mann!“
Und während alle wegen Corona zuhause saßen, wuchs in dir die Panik wegen der Zeit, die dir verloren ging?
Genau. Und dann trennte sich meine Schwester vom Vater ihres Kindes. Das war eine schlimme Zeit, die ich sehr nah miterlebte. Sofie und ich wohnten damals nah beieinander, ich war sehr oft bei ihr drüben. Wir haben die Babyzeit eigentlich gemeinsam gestemmt. Also dachte ich: „Wenn ich mal schwanger werde, habe ich in ihr auch eine Unterstützung.“ Das hat mich ermutigt. Und so wuchs irgendwann, erst ganz leise, die Frage in mir: Was, wenn ich es wirklich ohne Partner mache? (Chrissie blättert jetzt in ihrem Tagebuch, das neben ihr liegt.) „Ohne Mann und Ärger ist es manchmal einfacher“, habe ich notiert. Im Sinne von: Manchmal ist es leichter, Entscheidungen allein zu treffen.
Wann genau hast du das notiert?
Am 14.11.2020.
Was steht da noch zu diesem Tag in deinem Tagebuch?
„Das Thema [Solo-Mamaschaft] wird immer gesellschaftsfähiger.“ Das hatte ich so nebenbei aufgeschnappt. Im Fernsehen lief immer mal wieder ein Beitrag über eine Frau, die die Mutterschaft allein durchzog, bei „Taff“ oder so.
Kannst du rekonstruieren, wie viel Zeit ungefähr vergangen ist von dem Moment an, als du den Gedanken der Solo-Mutterschaft zum ersten Mal hattest bis zu der Entscheidung, diesen Weg wirklich zu gehen?
Etwa ein Dreivierteljahr. Von Anfang 2020 bis Ende 2020. Und dann sind nochmal rund zwei Jahre vergangen, bis ich schwanger geworden bin.
Was mir unglaublich geholfen hat, war, mich intensiv und lange über das Thema zu informieren und mich damit auseinanderzusetzen. Das hat mir viel Angst genommen.
Solo-Mama Chrissie, 36
War diese Entscheidungsfindung schmerzhaft?
Ja. Weil sie ein Mega-Abschied war von dieser schönen Papa-Mama-Kind-Familienvorstellung. Das war richtig traurig. Daran habe ich ein paar Monate gedanklich geknabbert, also um loslassen zu können. Aber als ich die Entscheidung für mich einmal getroffen und die andere Vorstellung losgelassen hatte, spürte ich auch ein Gefühl der Befreiung. Weil ich wusste: Ich habe es nun selbst in der Hand. Ich muss nicht mehr auf „den Richtigen“ warten, tindern und daten und hoffen und bangen. Ich habe selbst die Entscheidungsgewalt und muss nur noch den Weg gehen.
Du sagst, der Abschied von der perfekten Kleinfamilie als Abziehbild eines Lebens war sehr schmerzhaft. Wie hast du es geschafft, sie überhaupt loszulassen?
Was mir unglaublich geholfen hat, war, mich intensiv und lange über das Thema zu informieren und mich damit auseinanderzusetzen. Das hat mir viel Angst genommen. Je mehr ich mich informierte, umso vertrauter wurde ich mit anderen Familienformen und konnte mir ein alternatives Konzept mehr und mehr vorstellen.
Nachdem du die Entscheidung getroffen hattest: Wie bist du an den Mann gekommen? Also an den Erzeuger deines Kindes?
Von der Entscheidung „Ich mache das!“ bis zu meinem positiven Schwangerschaftstest sind schon nochmal zwei Jahre vergangen. Es war eine lange Reise (lacht)! Zu Beginn wusste ich nur von der Methode der offiziellen Spende über eine Samenbank. Also dachte ich, diesen Weg würde ich gehen. Ich begann zu recherchieren, klapperte verschiedene Kinderwunschkliniken in Köln und Umgebung ab. Für mich war der Gedanke, ich lasse mir in einer dieser Kliniken ein Kind machen, höchst emotional. Da sollte für mich alles passen, ich wollte mich wohlfühlen. Aber das fiel mir sehr schwer.
Warum?
Eine Frauenärztin, bei der ich damals war, um mich zu informieren, sagte in etwa: „Hier haben Sie die Adresse der Samenbank, da können Sie bestellen. Der Samen kommt dann hierher, dann kommen Sie auch, zum Zeitpunkt des Eisprungs, wir spritzen den Samen rein, das wars.“ Für mich war das ein totaler Abturner, ich war fassungslos. Weil ich dachte: „Es geht doch hier um das Leben eines Kindes! Das kann man doch nicht behandeln wie eine Amazon-Bestellung!“ Bei den Samenbanken war es ähnlich kühl.
Wie muss ich mir das vorstellen: Man sitzt am Laptop, scrollt sich durch einen Katalog an Männern und wählt dann irgendeinen aus? So ähnlich wie auf einer Dating-Plattform?
Ich habe mir das gar nicht so genau angeschaut. Weil ich gleich so abgeschreckt war. Wenn ich mich richtig erinnere, gab es bei der Samenbank, die ich mir ganz kurz online ansah, sogar einen Filter, bei dem man Charakteristika wie Augenfarbe oder Nationalität auswählen konnte. Für alles weitere musste man dann eine Mitgliedschaft bezahlen.
Krass!
Ja, total. Für mich brach damit erneut eine Welt zusammen. Denn nachdem ich den Weg der klassischen Familie ja schon losgelassen hatte, war jetzt klar: Die Idee der offiziellen Samenspende haut auch nicht hin. Es war ein herber Rückschlag. Ich habe wochenlang geheult.
Wie ging es weiter?
Ein paar Monate später saß ich bei meinem Frauenarzt zu einem regulären Termin, da las ich im Wartezimmer in irgendeiner Zeitschrift einen Text über eine Solo-Mama. Und in diesem Text kam eine Frau vor, die sich einen privaten Spender gesucht hatte. Ich dachte sofort: „Was, wie? Privater Spender?!“ Ich hatte davon noch nie gehört und begann sofort, im Netz zu recherchieren. Und ich fand heraus: Es gibt massenhaft Portale, bei denen Männer sich als private Spender anbieten.
Das Thema private Samenspende ist wirklich mit Vorsicht zu genießen, das will ich an dieser Stelle einmal ganz klar sagen. Man muss sehr aufpassen! Und darf als Frau auf keinen Fall naiv sein.
Solo-Mama Chrissie, 36
Was sind das für Männer?
Mich haben die Portale zunächst sehr abgeschreckt, auch zurecht. Da tummeln sich viele Freaks und schwarze Schafe.
Warum haben die dich abgeschreckt?
Weil manche Männer, die sich zum Beispiel bei spermaspender.de oder wunschkind4you.com anbieten, sehr aufdringlich sind. Bei manchen Spendern, die sich in diesen Foren anbieten, kann man echt denken, die machen das hauptberuflich!
Was heißt das? Die wollen Geld für ihre Samenspende?
Ja. Aber das sind noch die harmlosen. Manche wollen Sex und sind nur deswegen auf den Plattformen unterwegs. Das Thema private Samenspende ist wirklich mit Vorsicht zu genießen, das will ich an dieser Stelle einmal ganz klar sagen. Man muss sehr aufpassen! Und darf als Frau auf keinen Fall naiv sein. Je informierter man ist, desto besser.
Was war letztlich für dich ausschlaggebend, sich für den Weg der Solo-Mutterschaft über eine private Samenspende zu entscheiden?
Ich mochte den Gedanken, dass ich den Spender kontaktieren und kennenlernen konnte, bevor es zur Spende kommen würde. Neles Erzeuger und ich hatten ein Dreivierteljahr lang Kontakt, bevor ich mich für ihn entschied. Ich hatte mich im Rahmen meiner Recherche außerdem viel mit dem Thema Spender-Kinder auseinandergesetzt. Ich lernte, dass es wichtig für Menschen ist zu wissen, wo sie herkommen, also Kontakt zu ihren biologischen Eltern aufnehmen zu können. Mit einem privaten Spender war das möglich und auch einfacher als bei einer offiziellen Samenspende.
Und wieso hast du dich für diesen Samenspender entschieden?
Bauchgefühl. Als ich ihn fand, hatte ich schon rund ein ganzes Jahr Recherche in diesen Foren hinter mir. Ich wusste mittlerweile sehr genau, was ich wollte, was meine Anforderungen waren. Er meinte: „Ja, das kann ich mir alles gut vorstellen.“ Wir trafen uns viermal, hatten aber auch abseits der Treffen Kontakt. Es passte einfach.
Welche Rechte hat jeder von euch? Kann der Erzeuger Nele einfach kontaktieren?
Der Erzeuger und ich haben eine individuelle Vereinbarung getroffen. Die besagt zum Beispiel, dass Nele immer den Kontakt herstellen kann, sobald sie den Wunsch verspürt. Das wollte ich meinem Kind unbedingt ermöglichen. Die Vereinbarung besagt auch, dass Nele und ich darüber entscheiden, ob es Kontakt geben wird – und falls ja, in welcher Form. Rechtlich safe ist das alles aber nicht.
Was heißt das?
Unsere Vereinbarung hätte vor Gericht keinen Bestand. Weil dort gilt das Familienrecht. Neles Erzeuger hat zum Beispiel in der Theorie Recht auf Umgang. Weil er der biologische Vater ist. Ich wiederum habe Recht auf Unterhalt von ihm. Weil er der biologische Vater ist.
Was? Wirklich?
Ja. Das war auch meine größte Sorge: Dass der Spender sich einmischen würde. Aber ein Gericht orientiert sich grundsätzlich am Kindeswohl. Das heißt: Selbst wenn der biologische Erzeuger plötzlich das Sorgerecht einfordern würde, wäre es aus meiner Sicht sehr unwahrscheinlich, dass ein Gericht dieser Forderung nachgeben würde. Deswegen macht mir das keine Angst mehr. Neles biologischer Vater und ich waren uns außerdem von Anfang an sehr einig darüber, wie unsere „Zusammenarbeit“ aussehen soll. Er hat mir zugesichert, dass er sein Recht auf Umgang nicht einfordert - und ich habe ihm versichert, dass ich keinen Unterhalt von ihm will.
Machst du dir keine Sorgen darüber, was alles schiefgehen könnte? Denn auch diese Vereinbarung, die ihr getroffen habt, sichert dich ja nicht wirklich ab.
Das ist mir klar, natürlich. Aber meine Angst ist nicht mehr so groß. Und hinter all meinen Überlegungen stand die Verzweiflung, am Ende trotz meines starken Kinderwunsches kinderlos zu bleiben. Meine Entscheidung war die eines geringeren Übels. Wenn es zum Beispiel aus medizinischen Gründen mit der privaten Spende nicht geklappt hätte, hätte ich es auch noch über eine offizielle Samenspende versucht. Ich verurteile diesen Weg auch gar nicht – rechtlich ist es ja sogar der sicherere.
Und irgendwann warst du dann tatsächlich schwanger. Erinnerst du dich noch an den Moment, als du den positiven Test in der Hand hieltst?
Ich machte mehrere Schwangerschafts-Früherkennungstests. Einen sechs Tage, bevor meine Periode kommen sollte, und nochmal einen drei Tage vor der Periode. Beide waren negativ. Aber weil ich gar nicht davon ausgegangen war, dass es direkt beim ersten Versuch klappen würde, war ich nicht allzu enttäuscht. Bei dem Test, den ich dann zwei Tage vor dem regulären Beginn meiner Periode machte, zeichnete sich eine hauchdünne zweite Linie ab.
Was war das für eine Situation, in der du den Test gemacht hast?
Morgens vor der Arbeit, zuhause. Am nächsten Tag habe ich noch einen Test gemacht, zur Sicherheit. Der zweite Streifen war wieder zu sehen. Und damit stand für mich fest: „Ich bin schwanger, krass!“ Ich konnte das gar nicht fassen. Ehrlich gesagt war ich ziemlich überrascht, auch überrumpelt. Aber ich freute mich natürlich total! Ich musste morgens mein Auto in die Werkstatt bringen, den Rückweg bin ich im Sonnenschein nach Hause spaziert.
Was hast du an diesem Tag in dein Tagebuch geschrieben?
(Chrissie blättert in ihrem Tagebuch). „Ich weinte vor Freude und laufe schon den ganzen Tag mit einem Lächeln auf den Lippen rum. Aber ja, man muss sich ja schon etwas bremsen. Die ersten Wochen sind sehr fragil. Aber deswegen darf man sich ja trotzdem freuen. Ich werde die Tage noch weitere Tests machen, um sicher zu sein. Ich bete jede Minute, dass es klappt. Und vor allem auch, dass es so bleibt. Das ist noch ein harter Weg, aber ich bin sehr positiv. Anscheinend will hier jemand unbedingt schwanger werden und auch bleiben.”
Wie schön!
Ja. Und dann war ich schwanger. (Chrissie lächelt sehr breit und versonnen)
Wie war die Schwangerschaft?
Super! Ich habs geliebt. Alle Untersuchungen waren top, mir gings zu keinem Zeitpunkt wirklich schlecht, ich war die meiste Zeit der Schwangerschaft fit; im sechsten Monat sind wir ja sogar noch umgezogen in unser neues Zuhause. Nur arbeiten, das ging irgendwann nicht mehr so gut.
Apropos, Arbeit: Wie hat dein Umfeld reagiert, als du plötzlich schwanger warst, zum Beispiel die Kolleg:innen?
Bevor ich schwanger war, habe ich mir sehr viele Gedanken darum gemacht: Was werden die Kolleg:innen denken? Wie wird die Familie reagieren? Bis auf Sofie wusste ja niemand von meinem Plan. Heute denke ich: Ich habe mir völlig umsonst so viele Gedanken gemacht. Alle in meinem Umfeld haben meine Schwangerschaft positiv aufgefasst.
Wie hast du es erzählt? Dass du ohne Mann ein Kind bekommen wirst?
Ich sagte einfach ganz klar: „Ich bin schwanger. Ich habe mich dazu entschieden, alleine meinen Kinderwunsch umzusetzen.“ Mehr sagte ich nicht. Bis heute habe ich keinen einzigen negativen Kommentar dazu gehört. Auch nicht von meiner Familie, die hat sich auch total gefreut, selbst meine Oma! Das hat mich sehr positiv überrascht.
Es wird trotzdem Kritiker:innen am Konzept der Solo-Mutterschaft geben. Menschen, die zum Beispiel sagen: „Ich finde diesen Weg trotz aller Reflexion unverantwortlich. Weil ein Kind beide Eltern braucht, eine Mutter und einen Vater.“ Was antwortest du?
„Woher weißt du das?“, würde ich fragen. „Wer hat das bestimmt?“ Ich habe mich mit dem Thema Bindung und Kindern sehr stark auseinandergesetzt. Nach allem, was ich gelesen habe und weiß, gibt es wissenschaftlich keinen Hinweis darauf, dass Kinder aus Ein-Elternfamilien in ihrem Leben dadurch Nachteile erfahren oder Defizite haben. Am besten hat ein Kind mehrere enge Bezugspersonen. Das ist mir auch wichtig. Aber wer das ist, ist schnuppe, finde ich. Nele wächst hier in einem sehr liebevollen Umfeld auf, sie hat ihre Mama, sie hat Sofie, sie hat sogar sowas wie ein Geschwisterkind. Ich glaube nicht, dass ihr was fehlt.
Redaktion: Lisa McMinn, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert
Die Namen der Kinder wurden auf Chrissies Wunsch im Text geändert.