Weißt du, wie schnell sich der Geschützturm eines französischen Leclerc-Kampfpanzers dreht? Wenn ja, würdest du diese geheime Information mit dem Internet teilen, um eine Diskussion zu gewinnen? Das hat zumindest der Soldat gemacht, der sich im Internet RED_CROSS nennt. Und damit ist er nicht alleine.
Mindestens sechs Mal haben Männer (ja, es sind immer Männer!), Militärgeheimnisse im Internet veröffentlicht, nur um Recht zu behalten. Dies ist eine kurze Geschichte dieser Menschen. Sie münden in den Discord-Leaks, die vor drei Wochen die Militärwelt aufgeschreckt haben, weil ein junger Mann dort sehr sensible Informationen zum Krieg in der Ukraine verbreitet hat.
So weitreichend waren die anderen Leaks der vergangenen vier Jahre eher nicht. Aber sie passieren immer in der gleichen Community und basieren immer auf dem gleichen Hintergrund: „To make a point!“ Also einen Punkt zu machen.
Videospiele als Einstiegsdroge für Landesverrat
Der erste Fall ereignete sich schon 2011 und hat mit einem Spiel zu tun: Der Digital Combat Simulator (DCS) ist ein kostenloser Flugsimulator, der erstmals 2008 veröffentlicht wurde und von Eagle Dynamics, einem russischen Studio, entwickelt wird. Das Spiel ist so realitätsnah, dass selbst Armeen es zu Trainingszwecken verwenden. Woher die Entwickler:innen die Informationen zu den Flugzeugen bekommen? Das ist nicht ganz klar. Aber der Entwickler Oleg Mikhaylovich Tishchenko suchte einfach im Internet und wurde auf Ebay fündig – jup, dieses „3, 2, 1… meins“-Ebay. Dort kauft er eine Anleitung für den F-16 Fighting Falcon Kampfjet. Alles nur, um das Spiel möglichst realistisch zu gestalten. Später verkaufte er die Dokumente weiter und versuchte noch weitere geheime Dokumente zu bekommen, sodass er schlussendlich gefasst und 2019 in den USA zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde. Das Flugzeug gibt es übrigens bis heute nicht im Spiel. Dafür aber die F-16C Viper. Sie kostet im Spiel knapp 80 Euro.
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Weiter ging es 2021, wegen eines Streits um eine Platte, die am Geschützrohr des britischen Challenger 2 Panzers befestigt ist. Diesmal geht es um das Videospiel War Thunder (merke dir diesen Namen!), in dem Spieler:innen Panzergefechte gegeneinander austragen. Viele Spieler:innen diskutieren die Panzer in dem Forum, das der Hersteller zur Verfügung stellt. Dort hat der Nutzer Fear_Naught einen Streit angezettelt, weil die Platte zwar visuell korrekt sei, aber in den Spieldateien zu dünn (!!!) sei und deswegen einen unrealistischen Schwachpunkt des Panzers bilde. Weil andere das bezweifelten, griff Fear_Naught, der laut eigener Aussage selbst mit diesem Panzer arbeitete, zu einer einfachen Lösung: Er hat Bilder dieser Platte, die gerade einer Routinewartung unterzogen wurde, sowie Teile der Challenger 2-Schaltpläne in ein öffentliches Forum gestellt. Fear_Naught mag damit zwar den Streit gewonnen haben, sein Panzer wurde im Spiel trotzdem nicht stärker. Der Hersteller darf diese Informationen nämlich nicht verwenden.
Kommen wir nun zu dem Geschützturm des Leclerc-Panzers. Die Geschichte spielte sich etwas später im Jahr 2021 ab. Und wieder ist es das Forum von War Thunder. Die Diskussion um die Drehgeschwindigkeit des Turms eskalierte, als der Nutzer LeGrandSarrazin auf öffentlich verfügbare Daten verwies. Das konnte RED_CROSS natürlich nicht auf sich sitzen lassen und schrieb: „Der Panzer, in dem ich saß!“ An den Kommentar hängte er geheime Dokumente als Beweis an. Die Moderator:innen reagierten auf den Post so: „Leute, es ist nicht lustig, geheime Dokumente über moderne Ausrüstung weiterzugeben.“ Und löschten die Informationen.
Auch das chinesische Militär ist nicht sicher
Vielleicht siehst du ja auch die Gemeinsamkeit. Aber hier ist noch nicht das Ende erreicht. Knapp ein Jahr später trifft es das chinesische Militär. Und natürlich findet der Leak im War-Thunder-Forum statt. Um die Entwickler:innen zu überzeugen, die Anti-Panzer-Munition DTC10-125 zu verändern, postet ein Nutzer, wie sich später herausstellte, ein chinesischer Soldat, schlicht ein Foto des Geschosses mit Teilen der Anleitung. Zwar sagt ein Militäranalyst der Washington Post, dass die Anleitung in Militärkreisen relativ weit verbreitet sei, aber es handelt sich immer noch um als geheim eingestufte Informationen. Deswegen auch hier: Der Nutzer mag Recht behalten, das Spiel verändert er damit trotzdem nicht.
Um das Jahr 2023 gebührend zu empfangen, hat sich der Nutzer spacenavy90 entschieden, etwas „Recherche“ zu betreiben. Und hat Dokumente zur Bewaffnung des amerikanischen F-16A Jets gefunden. Die postet er – natürlich – im War-Thunder-Forum, wo prompt eine Diskussion ausbrach. Einerseits natürlich um die Informationen, schließlich hat spacenavy90 Recht. Aber auch darüber, ob die Informationen überhaupt als geheim eingestuft sind. Der Status des Handbuchs als „Verschlusssache“ sei zwar abgelaufen, so die Nutzer des Forums, aber die Verbreitung des Handbuchs sei nach wie vor eingeschränkt und werde es auch in absehbarer Zukunft bleiben.
Beste Freunde dank Militärgeheimnissen
Als Mitte April schließlich sensible Dokumente auf Discord auftauchten, vermuteten viele zunächst Hacker hinter den Leaks. Am Ende stellte sich heraus: Es war ein 21-jähriger Soldat namens Jack Teixeira. Kein Hacker mit Kapuzenpullover und Sturmmaske, sondern einfach ein Mitarbeiter, der die Geheimnisse mit Kumpels auf seinem Discord-Server geteilt hat. Laut Washington Post auch, um seine Mitspieler:innen zu beeindrucken.
Zwei Sachen faszinieren mich an all den Geschichten: Augenscheinlich hat keiner der Leaker Böses im Sinn gehabt. Alle wollten entweder nur Recht behalten. Im Fall von Teixeira war es, „der beste Freund“ von jemandem zu werden. So hat es zumindest einer derjenigen auch nach der Festnahme ohne zu zögern formuliert, wie es im Bericht der Washington Post heißt: „He was my best friend.“
Das zweite ist der unbedingte Wille, das Lieblingsspiel realistischer machen. Klar, es mag Spaß machen, das „Echte“ ohne Gefahren nachzuspielen, aber war es nicht auch ein Versprechen von Videospielen, der Realität zumindest zeitweise zu entfliehen? Wobei: Ich lebe in dem Land, aus dem der Farming Simulator stammt, einem Spiel, in dem Menschen nach der Arbeit stundenlang virtuelle Felder bestellen und sich über den realistischen Klang der Landmaschinen austauschen.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert