In der Türkei wird also gewählt – aber Erdoğan gewinnt doch sowieso wieder, oder nicht?! Ist doch glasklar!
Ich habe keine Glaskugel, in die ich hineinschauen und das Wahlergebnis voraussagen kann. Aber eines kann ich mit Sicherheit sagen: Der Ausgang der anstehenden Wahl ist so ungewiss – und daher auch so spannend – wie die vergangenen 20 Jahre nicht. Das hat gleich mehrere Ursachen: Um die sechs Millionen junge Menschen werden zum ersten Mal wählen gehen. Die Gesellschaft ist so gespalten wie noch nie. Und die Türkei befindet sich in einer der schwersten Wirtschaftskrisen der vergangenen 20 Jahre.
Uff, das klingt schlimm.
Ist es auch. Vor allem aber machen diese Faktoren es unmöglich, eine valide Vorhersage über das Wahlergebnis zu treffen. Entscheidend werden meiner Meinung nach die AKP-Wähler:innen sein. Und zwar jene, die so unzufrieden sind mit der AKP als Regierungspartei, dass sie ihr einen Denkzettel verpassen und sie abstrafen wollen. Klassiker. Zum Beispiel wegen der hohen Inflation im Land.
Du sprichst die Inflation an: Wie nah steht das Land am wirtschaftlichen Abgrund?
Der Türkei geht es wirtschaftlich sehr schlecht: Als ich vor wenigen Monaten in Istanbul unterwegs war, musste ich feststellen, dass ich jegliches Gefühl für die Preise dort verloren hatte. Von Lebensmitteln bis zu Mieten war alles so teuer geworden, dass ich ständig versuchte, die Preise in Euro zu berechnen, um herauszufinden, ob sie noch angemessen sind oder nicht. Und als ich für eine Kurzstrecke in Istanbul mit dem Taxi mehr als in Berlin bezahlen musste, habe ich die Welt nicht mehr verstanden. Für dieselbe Strecke hätte ich in Berlin etwa zehn Euro bezahlt – in Istanbul kostete sie umgerechnet 15 Euro.
Vielleicht täuscht dich dein Eindruck ja. Was sagen die offiziellen Wirtschaftsdaten?
Offizielle Zahlen und Fakten bestätigen mein Gefühl, was die Preise in der Türkei betrifft: Laut offiziellen Angaben des Statistikamtes sind die Verbraucherpreise im März 2023 gegenüber dem Vorjahresmonat um 50,5 Prozent gestiegen. Unabhängige Expert:innen der Forschergruppe ENAG sprechen sogar von 112,51 Prozent! Eine türkische Lira entspricht 0,048 Euro. Einen solchen Kurs habe ich noch nie erlebt.
112,51 Prozent?!
Es liest sich unglaublich, ist aber die Wahrheit. Mir kommt die momentane Situation so vor, als würde das ganze Land in einem Fußballstadion sitzen und auf den Spielbeginn warten. Die Fronten in diesem Spiel sind klar definiert. Beide Seiten rufen einander zu: „Wir gegen euch!“ Wenn man nun bedenkt, dass Politik auch mit Gefühlen zu tun hat, genauer gesagt mit einem Gefühl der Partei-Zugehörigkeit, stellt sich in Bezug auf die AKP-Wähler die Frage: Wie würden sich Fußballfans verhalten, wenn sie auf den Trainer sauer wären? Würden sie kurz vorm Spiel die Mannschaft wechseln?
Wie viele Erdoğan-Fans aufgrund der wirtschaftlichen Misere der AKP-Regierung einen Denkzettel verpassen wollen, genau das ist die Eine-Millionen-Dollar-Frage. Fest steht: Die Türkei wird dieses Jahr 100 Jahre alt. Und es geht bei diesen Wahlen um viel mehr als um den Sieg, um noch kurz in der Fußball-Metaphorik zu bleiben. Es geht um die Zukunft des Landes.
Dieser Text ist mithilfe der Krautreporter-Community entstanden. Danke Christina, Andreas, Ulrike, Michael, Robert, Ute, Frank, Alexander, Oliver, Susanna, Jens und Yasemin für eure Fragen! Sie haben sehr dabei geholfen, diesen Text zu entwickeln.
Aber das müssen doch auch die AKP-Wähler mitbekommen?!
Eigentlich schon. Ich erinnere ich mich aber an ein Gespräch mit einem AKP-Wähler: Ich war gerade in Istanbul und musste wegen des Wagens meiner Schwester in eine Kfz-Werkstatt fahren. Salih, um die 50 Jahre alt, arbeitete dort. Während ich darauf wartete, dass das Auto fertig wurde, bot er mir einen Tee an. So kamen wir ins Gespräch, ich fragte ihn, was er von der AKP-Regierung hielt. Ihm war die schwierige Situation der Türkei vollends bewusst, er war selbst auch nicht zufrieden mit Erdogan, aber er sagte trotzdem: „Hauptsache, unsere Leute sind an der Macht.“
Das sagt viel aus. So einfach ist es nämlich manchmal. Das beweist auch folgende Anekdote: Ab und zu schaue ich mir Straßeninterviews aus der Türkei auf Youtube an. Einmal habe ich eines gesehen, in dem ein Youtuber die Menschen nach der Inflation fragt. Ein AKP-Wähler meinte, dass er seine Miete kaum zahlen könne, aber die Inflation sei ja weltweit ein Problem. Genau das ist die Denke, die die regierungsnahen Medien wie A-Haber und Sabah den Leuten eintrichtern: „Unsere Regierung trifft keine Schuld. Der ganzen Welt geht es halt schlecht.“ Und das glauben die Menschen.
Erdoğan selbst sagte einmal, in Deutschland seien die Regale in den Supermärkten leer, Menschen würden Schlange stehen, um bestimmte Produkte zu bekommen. Diese Propaganda funktioniert erstaunlich gut. Meine Mutter, die wie ich in Deutschland lebt, war kürzlich in der Türkei. Nach ihrer Rückkehr berichtete sie mir: Eine Nachbarin in der Türkei habe ihr gesagt: „Ihr tut uns leid in Deutschland. Keine Produkte, kein Gas wegen des Ukraine-Kriegs.“ Meine Mutter war perplex.
Na gut. Vielleicht kann die AKP-Regierung mit den Zahlen spielen. Aber doch nicht mit Naturkatastrophen wie dem Erdbeben Anfang Februar!
„Das Erdbeben wird bei den Wahlen doch eine Rolle spielen, oder nicht?“, fragte mich letztens eine Kollegin. Falls du dich nicht mehr erinnern kannst: Im Februar dieses Jahres ereigneten sich mehrere Erdbeben in fast zehn Provinzen der Türkei. Das betroffene Gebiet war fast so groß wie Deutschland. Laut offiziellen Zahlen, die man sehr kritisch betrachten sollte, sind mehr als 50.000 Menschen dabei ums Leben gekommen.
Meine Kollegin hatte mitbekommen, dass die Rettungsaktionen schleppend vorangingen, auch von den Skandalen um den türkischen Halbmond (das türkische Rote Kreuz) hatte sie gehört. Um diesen Skandal kurz zusammenzufassen: Betroffene Menschen vor Ort berichteten, in den ersten drei Tagen nach dem Erdbeben kaum staatliche Hilfe oder Rettungskräfte angetroffen zu haben. Dabei bilden gerade diese Tage die wichtigste Zeit, um bei einem Erdbeben noch Überlebende retten zu können. Doch ich fürchte, auch dieser Skandal wird kaum Einfluss auf die Wählerstimmen haben. Vermutlich wird er Erdoğan sogar in die Hände spielen. Er und seine Minister lassen sich oft in der Erdbebenregion blicken, versprechen Hilfen in Millionenhöhe. Erdoğan steckt Kindern 200 Lira in die offene Hand, verspricht neue Wohnungen für die Menschen dort. Soll heißen, die Katastrophe hat er in eine große Wahlkampagne umgewandelt. Ähnlich war es in Soma. 301 Grubenarbeiter kamen 2014 in Soma bei dem schwersten Unglück in der Geschichte des türkischen Bergbaus ums Leben. Vielleicht erinnert ihr euch noch an das Bild, das um die Welt ging. Darauf war zu sehen, wie einer von Erdoğans Beratern auf Demonstranten eintrat:
Ein Jahr später wurde gewählt. Und Erdoğans Partei ging als Siegerin hervor.
Aber dieses Mal gibt es doch eine stärkere Opposition, ein Bündnis. Meinst du, das wird keinen Unterschied machen?
Ob die Opposition stärker ist als Erdoğans Lager, weiß ich nicht. Umfragen zeichnen ein sehr unterschiedliches Bild. (Man sollte bei diesen Umfragen aber sowieso vorsichtig sein, egal ob sie aus dem AKP-freundlichen Lager kommen oder aus den oppositionellen Umfrageinstituten.) Was man aber auf jeden Fall sagen kann, ist, dass die Opposition unterschiedliche Parteien an einen Tisch bringen konnte. Nach monatelangen Diskussionen und Debatten hat sich das sogenannte „Millet İttifaki“ (Das Bündnis der Nation) gebildet, welches aus folgenden Parteien besteht, die ich grob so beschreiben würde:
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CHP, Republikanische Volkspartei, laizistisch, Mitte links
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İyi, (dt. Die Gute Partei), laizistisch, nationalkonservativ, hat sich von der ultranationalistischen MHP abgespalten
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Saadet (dt. Partei der Glückseligkeit), islamistisch und der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) nahestehend. In Bayern wird sie vom Verfassungsschutz beobachtet.
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DEVA (dt. Partei für Demokratie und Fortschritt), wurde von dem ehemaligen Wirtschaftsminister Ali Babacan gegründet, der sich von der AKP verabschiedet hat.
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Gelecek (dt. Zukunftspartei), gegründet von Ahmet Davutoğlu, dem ehemaligen Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der AKP
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Demokrat (dt. Demokratische Partei)
Angeführt wird das Bündnis vom Parteivorsitzenden der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu.
Und wo bleibt die kurdische HDP?
Die existiert für die Opposition offenbar nicht. Das ist insofern erstaunlich, als dass die pro-kurdische HDP bei den letzten Parlamentswahlen 2018 11,5 Prozent der Wählerstimmen einsammeln konnte und somit nach der regierenden AKP und der oppositionellen CHP die drittstärkste Kraft im Parlament wurde.
Du denkst jetzt bestimmt: „Aber das macht doch rechnerisch keinen Sinn, wenn die Opposition gewinnen will. Die 11,5 Prozent der HDP können die doch gut gebrauchen!“ Und da hast du Recht. Doch die Partei İyi stellt sich quer. Die Nationalisten der Partei wollen unter keinen Umständen mit der HDP am selben Tisch sitzen und haben auch mehrfach mit dem Austritt aus dem Bündnis gedroht, falls es so weit kommen sollte. Und genau an der Stelle muss man hinterfragen, wie demokratisch dieses oppositionelle Bündnis ist, das sich nicht um eine bedeutende Minderheitenpartei schert.
Finde ich schwer verständlich. Weil der Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu ist Alevit und somit ja auch Teil einer Minderheit. Wer ist dieser Mann?
Wenn ich an Kılıçdaroğlu denke, fällt mir direkt dieses Bild ein:
Dieses Bild zeigt Kılıçdaroğlu 2017, als er den sogenannten Gerechtigkeitsmarsch antrat. Dafür ging er die ganze Strecke von Ankara nach Istanbul zu Fuß. Das waren mehr als 400 Kilometer. Tausende Menschen schlossen sich ihm an. Sie demonstrierten gegen die Haft eines CHP-Politikers und des Journalisten Can Dündar. Mit diesem Marsch hat sich Kılıçdaroğlu einen Namen gemacht. Ich kann mich noch daran erinnern, dass sich ihm damals viele auch auf Social Media angeschlossen hatten. Es gab so viele Live-Sendungen über Twitter, Facebook und Youtube zu sehen, dass man zuhause sitzen und gleichzeitig das Gefühl haben konnte, man sei auch gerade Teil des marschierenden Menschenstroms. So ging es mir zumindest.
Klingt nicht uninteressant, der Mann. Was sollte ich noch über ihn wissen – und hat er wirkliche Chancen?
Kemal Kılıçdaroğlu kommt aus Dersim oder Tunceli. Wenn du jetzt irritiert bist, weil ich „oder“ geschrieben habe und eine Stadt, jawohl, nur einen Namen haben kann, warte, hier ist die Auflösung: Diese Stadt ist so politisch, dass schon ihr Name ein Politikum ist. Kurden und Aleviten nennen sie „Dersim“, Türken und Sunniten „Tunceli“. Kılıçdaroğlu ist alevitischer Abstammung, was Erdoğan immer wieder bei seiner türkisch-sunnitischen Wählerschaft bewusst betont; als wäre es ein Makel.
Kılıçdaroğlu stammt aus armen Verhältnissen, wuchs mit sechs Geschwistern auf. Er ist der Einzige unter ihnen, der studiert hat. Und zwar Wirtschaft. In den 1990er Jahren war er Chef der türkischen Sozialversicherungsbehörde. Politische Ämter bekleidete er lange nicht. Er setzt sich gegen Korruption und Vetternwirtschaft ein, und mit diesen Themen zieht er auch in den Wahlkampf. Aber nicht alle aus der Opposition waren glücklich mit seiner Kandidatur. 2009 stellte er sich für das Amt des Istanbuler Bürgermeisters zur Wahl, unterlag aber dem AKP-Kandidaten. Die Präsidentschaftswahlen 2014 und die Parlamentswahlen 2015 hat er ebenfalls verloren. Daher kritisieren viele seine Kandidatur und fragen sich, wie ein „ewiger Verlierer“ dieses Mal gewinnen soll.
Wie stehen Erdoğans Chancen?
Seine AKP hat eine solide 30-Prozent-Basis, die ihn wählt, egal, was passiert. Wie oben erwähnt: AKP-Wähler wollen, dass die AKP und damit „ihre Leute“ an der Macht bleiben. Mehrere Umfragen zeigen, dass Kılıçdaroğlus Beliebtheit zwar gewachsen ist, aber Erdoğan nach wie vor der beliebtere Kandidat zu sein scheint.
Und was ist mit den Kurden? Wen werden sie wählen?
Der HDP droht derzeit ein Verbot kurz vor den Wahlen. Der Generalstaatsanwalt sieht „organische Verbindungen“ zur verbotenen PKK, was der Partei seit ihrer Gründung immer wieder vorgeworfen wird. Wegen diesen Vorwürfen sitzt auch der frühere Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, seit 2016 im Gefängnis. Durch zahlreiche Gerichtsverfahren übt die türkische Justiz, deren Unabhängigkeit international angezweifelt wird, Druck auf die HDP aus.
Falls die HDP tatsächlich verboten werden sollte, will sie dennoch antreten, um Parlamentssitze zu bekommen: in einem Bündnis mit der türkischen Grünen-Partei. Aber welchen Präsidentschaftskandidaten die kurdische HDP unterstützen wird, ist noch nicht bekannt. Man kann allerdings davon ausgehen, dass ein Großteil der HDP-Anhänger:innen Kılıçdaroğlu unterstützen dürfte. So wie sie bei den Kommunalwahlen 2019 die kemalistische CHP unterstützt haben. Dank dieser „geliehenen Stimmen“ konnte die CHP in wichtigen Städten wie Istanbul und Ankara den Bürgermeister stellen.
Nehmen wir mal an, Erdoğan gewinnt. Was wird dann aus der Türkei?
Da das Land derzeit quasi in einem „Ein-Mann-System“ regiert wird, hängt die Zukunft des Landes von den Zielen dieser Person ab, also von Erdoğan. Das Präsidialsystem à la Erdoğan gibt dem Präsidenten alle Macht: Er ist nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Er regiert per Dekret und erhält Einfluss auf die Justiz.
Erdoğans Bilanz der vergangenen 20 Jahre kann jedenfalls kein glaubwürdiges Indiz dafür liefern, dass er nach einem Wahlsieg mehr Demokratie wagen würde. Im Gegenteil, unter seiner Präsidentschaft ist das Land autoritärer geworden. „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind“, sagte Erdoğan im Jahr 1999. Seitdem wurden die Pressefreiheit eingeschränkt und Bürgerrechte missachtet. Die Bertelsmann-Stiftung hat die Türkei infolgedessen als „Autokratie“ eingestuft.
Und was ist, wenn die Opposition gewinnt? Wird dann alles besser und die Türkei eine lupenreine Demokratie?
Die Opposition fordert klar und deutlich eine Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie und die Wiederherstellung der Gewaltenteilung. Wenn das passieren würde, wäre schon viel gewonnen. Insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz scheint dem Oppositionsführer Kılıçdaroğlu ein wichtiges Anliegen zu sein. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt betrifft die Kurden und deren Minderheitenrechte. Das „Nationale Bündnis“ versammelt unter seinem Dach eine nationalistische Partei, die İyi Partei, wie ich weiter oben schon schrieb. Diese hat sich von der ultranationalistischen MHP abgespalten, die in Erdoğans Bündnis sitzt. Ihre Vorsitzende Meral Akşener amtierte in den 1990er Jahren als Innenministerin. Diese Epoche hat sich im kollektiven Gedächtnis der Kurden als eine Zeit der unaufgeklärten Morde eingebrannt. Daher wäre ein lösungsorientierter Friedensprozess mit Kurden aus meiner Sicht mehr als fraglich, sollte die Opposition sich denn wirklich gegen Erdoğan durchsetzen können. Für die Kurden wäre das kein erfreuliches Ergebnis.
Der dritte Punkt betrifft das Thema Gleichberechtigung und Frauen. Das „Nationale Bündnis“ hat ein Programm aufgestellt, in dem die wichtigsten Versprechen der Opposition von Justizreformen bis hin zur Wirtschaft festgehalten wurden. Viele hatten auch eine Rückkehr zur Istanbul-Konvention erwartet. Das ist ein internationales Abkommen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Erdoğan hatte die Istanbul-Konvention aufgegeben. Dabei hat gerade die Türkei ein großes Problem mit Femiziden. Medienberichten zufolge hat sich die Saadet Partei im Oppositionsbündnis gegen die Wiederaufnahme der Istanbul-Konvention ausgesprochen. Auch wenn anderen Parteien in der Opposition die Gleichberechtigung von Frauen ein wichtiges Anliegen zu sein scheint, ist es mehr als fraglich, warum bei diesem Punkt kein Kompromiss gefunden werden konnte.
Und was heißt das alles für Deutschland?
Politisch bleibt es spannend. Lars Klingbeil, der vor wenigen Wochen die Türkei besuchte, nannte die kemalistische CHP und die pro-kurdische HDP „Schwesterparteien“. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock allerdings, die in die vom Erdbeben betroffene Region reiste, traf ihren Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu nicht, was bemerkenswert war. Wollte sie kein politisches Signal kurz vor den Wahlen geben, wie es der Besuch von Angela Merkel aussendete, kurz vor dem Referendum im Jahr 2017? Kann sein. Aber ihr Anspruch auf eine feministische Außenpolitik dürfte die Beziehungen zwischen den beiden Regierungen belasten.
Wirtschaftlich sind die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei immer noch vital, obwohl die politische Anspannung sich negativ auf sie auswirken dürfte. Deutschland war über viele Jahre hinweg der wichtigste Handelspartner der Türkei. 2022 hat Russland diese Position erobert. Das geht aus den vorläufigen Daten des türkischen Statistikamts TÜIK zum Außenhandel für Januar bis November hervor. Die internationalen Konflikte wirken sich offenbar auch auf die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen aus. Und das könnte einen gesellschaftlichen Einfluss auf beide Länder haben. Für Deutschland hat die Türkei daher einen besonderen Stellenwert, weil hier fast drei Millionen Türkeistämmige leben.
Eines kann ich aber aus eigener Erfahrung und Beobachtung klar sagen: Falls Erdoğan wieder die Wahlen gewinnen sollte, werden sich viele, insbesondere junge Menschen und Fachkräfte, auf den Weg nach Deutschland machen. Viele meiner Follower:innen auf meinem Youtube-Kanal oder anderen Social-Media-Plattformen sind türkische Ingenieur:innen, Informatiker:innen oder Studierende. Durch den regen Austausch mit ihnen weiß ich, dass viele nach Deutschland kommen wollen. Krankenpfleger:innen, Lehrer:innen oder Techniker:innen lernen Deutsch in Städten wie Istanbul oder Izmir und stellen mir über meinen Youtube Kanal ziemlich spezifische Fragen zum Leben in Deutschland. Als es vergangenen Sommer einen großen Personalmangel an deutschen Flughäfen gab und es zu einer einmaligen, fast unbürokratischen Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern kam, haben sich sogar zwei Kollegen von mir beworben. Zwar ohne Erfolg, aber dieses Beispiel führt vor Augen, welches Braindrain der Türkei bevorsteht.
Redaktion: Esther Göbel, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger