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Was ist gerade wichtig?
Es gab mal wieder Streit um ukrainisches Getreide. Diesmal ging es aber nicht um den Getreidedeal zwischen Russland und der Ukraine und den Export aus ukrainischen Häfen. Stattdessen machte Polen Probleme. Eigentlich unterstützt unser Nachbar die Ukraine ganz klar. Jetzt hatte Polen aber angekündigt, kein Getreide und andere Lebensmittel mehr aus der Ukraine zu importieren. Ungarn und die Slowakei kündigten ähnliche Maßnahmen an. Die Ukraine ist wirtschaftlich darauf angewiesen, ihr Getreide zu verkaufen. Vergangene Woche verhandelte die EU einen Kompromiss mit den Ländern – sie importieren jetzt wieder ukrainisches Getreide.
Was hat Polen gegen ukrainisches Getreide?
Eigentlich war es als Hilfe für die Ukraine gedacht: Wegen des russischen Angriffs kann die Ukraine nicht mehr so viel Getreide über ihre Schwarzmeer-Häfen exportieren. Das ist eine Katastrophe für viele Länder, etwa in Afrika, die ukrainisches Getreide brauchen, um ihre Bevölkerung satt zu kriegen. Und die Ukraine ist auf die Einnahmen angewiesen.
Ein Teil des Getreides verlässt die Ukraine deshalb auf dem Landweg und landet hauptsächlich in Polen. Die EU hat im vergangenen Jahr die Zölle abgeschafft, damit das Getreide schnell aus der Ukraine gebracht und dann weiter in die Zielländer transportiert werden kann. Das war die Idee – in der Realität bleibt das Getreide in Polen liegen. Es gibt also zu viel Getreide in Polen, die Preise fallen und die Landwirt:innen sind verzweifelt, weil sie zu wenig verdienen. Das führte über Wochen zu Protesten bei polnischen Landwirt:innen und Polen stoppte die Importe von ukrainischen Lebensmitteln.
Jetzt haben sich Polen und die Ukraine geeinigt: Künftig sollen die Getreidelieferungen versiegelt und getrackt werden, damit sie Polen sicher wieder verlassen. Und die EU kündigte finanzielle Hilfen für die betroffenen Landwirt:innen an.
Das ist erstmal beruhigend. Aber Probleme um ukrainisches Getreide gibt es weiterhin, denn der Schwarzmeer-Getreidedeal zwischen der Ukraine und Russland läuft im Mai aus. Und es ist noch nicht sicher, ob das Abkommen verlängert wird.
Die Frage der Woche
KR-Mitglied Fritz fragt: „Es gibt in allen Medien Stellungnahmen zur militärischen Unterstützung der Ukraine, inklusive der Sinnhaftigkeit unterschiedlicher Waffengattungen. Ich würde mir nicht zutrauen, zu diesen hochkomplexen Fragen eine Stellungnahme abzugeben. Sollten Nicht-Fachleute auf solche Äußerungen verzichten?“
Ich formuliere es mal provokanter: Sollten Leute, die keine Ahnung haben, die Klappe halten? Gerade bei Waffenlieferungen an die Ukraine gehen die Meinungen vieler Deutschen auseinander. 31 Prozent der Deutschen gehen die Waffenlieferungen zu weit, eine relative Mehrheit von 47 Prozent findet sie angemessen. 16 Prozent der Befragten gehen die Waffenlieferungen nicht weit genug.
So unterschiedlich wie die Bevölkerung darüber denkt, so verschieden äußern sich Politiker:innen und Historiker:innen, aber auch Schauspieler:innen oder Kabarettist:innen. Besonders bekannt ist der Philosoph Richard David Precht, der zu so ziemlich allem eine Meinung hat. Er war einer der prominentesten Gegner von Waffenlieferungen – bis er im Juni kurzerhand erklärte, dass er sich in seinen Einschätzungen zum Krieg geirrt habe. „Man kann sehen, wie man sich täuschen kann“, sagte er. Oder auch: Upsi, hatte wohl doch keine Ahnung.
Die grundsätzliche Frage ist: Sollten sich nur Fachleute zu komplexen Themen wie Waffenlieferungen äußern? Grundsätzlich darf jede:r eine Meinung haben und sie auch öffentlich verkünden. Und es gehört zu einer pluralistischen Gesellschaft, dass sogenannte Intellektuelle, die kein bestimmtes Fachgebiet haben, heute über Impfungen reden und morgen über Waffenlieferungen.
Es wäre aber ein Gewinn, wenn Menschen wie Precht ihre Inhalte anders rüberbringen würden. Er könnte weniger technische und militärische Details aufzählen, denn das ist wirklich das Gebiet von Fachleuten und da sind Precht schon Fehler unterlaufen. Stattdessen könnte er auf die Ängste und Befürchtungen der Gesellschaft eingehen, er könnte erklären, wie sich das Friedensverständnis der Deutschen verändert oder wie Waffenlieferungen die Gesellschaft verändern. Mich stört, dass sich Precht als Experte für Waffen und Kriegsführung verkauft hat, obwohl er auch als Philosoph etwas zu dem Thema beitragen könnte.
Hier sind natürlich auch die Medien in der Pflicht und sollten sich überlegen, wen sie zu welchem Thema befragen. Es ist zum Beispiel Quatsch, mit einem Schauspieler über das Risiko eines Atomkriegs zu reden. Das ist ein sehr komplexes Thema und Fachleute hätten dazu mehr interessante Dinge zu sagen. (Bei uns findest du gleich sechs Hintergrundartikel darüber, was du über Atomwaffen wissen musst.)
Es geht also nicht unbedingt darum, was Personen des öffentlichen Lebens sagen „dürfen“ oder „sollen“. Sondern eher darum: Was bringt das der Öffentlichkeit?
Vor ein paar Monaten kursierte ein Video von Dieter Bohlen im Internet. Darin kritisiert er sehr diffus die Sanktionen gegen Russland. „Jetzt müssen wir frieren, jetzt müssen wir dies und das.“ Er glaubt, es wäre nicht so weit gekommen, wenn „man sich vernünftig an einen Tisch gesetzt hätte.“ Am Ende schließt er mit den Worten: „Ich versteh das alles nicht mehr.“ Und wenn Dieter Bohlen selbst merkt, dass er das Thema nicht versteht, dann wäre das eine gute Gelegenheit gewesen, um zu dem Thema einfach mal zu schweigen.
Hast du eine Frage zum Krieg in der Ukraine? Dann nimm jetzt an meiner Umfrage teil.
Der Link der Woche
Du erinnerst dich bestimmt an das berühmte Foto aus Mariupol vom März 2022. Eine hochschwangere Frau liegt auf einer Trage, mehrere Männer tragen sie aus der bombardierten Geburtsklinik heraus. Das Foto – und damit die Grausamkeit des russischen Angriffs – ging um die Welt. Die russische Propaganda versuchte zu verbreiten, es handele sich um ein Fake, die Frau sei eine Schauspielerin. Heute wissen wir, dass die Frau auf dem Foto, die 32-jährige Iryna Kalinina, und ihr Kind nicht überlebt haben.
Das Foto wurde nun als Pressefoto des Jahres ausgezeichnet, einer der renommiertesten Preise im Fotojournalismus. Der Fotograf Evgeniy Maloletka sagte über die Entstehung des Fotos: „Für mich ist es ein Moment, den ich immer wieder vergessen möchte, aber nicht kann. Die Geschichte wird mir immer im Gedächtnis bleiben.“
Maloletka arbeitet für die Nachrichtenagentur Associated Press, das Foto und einen Bericht auf Englisch über die Auszeichnung findest du hier. Maloletka und zwei Kolleg:innen waren die letzten Journalist:innen in Mariupol, die den Krieg dort dokumentierten. Ende März 2022 mussten auch sie aus der Stadt fliehen. Die Fotos aus dieser Zeit und den sehr eindrücklichen Bericht findest du unter diesem Link.
Die Hoffnung der Woche
Die Geschichte des 15-jährigen Artem Zaloha ging auf Twitter viral, der Sender Sport1 nannte sie ein „Fußball-Märchen“. Artem flüchtete vor etwa einem Jahr aus der ukrainischen Stadt Dnipro nach Deutschland. Er trat einem Fußballverein bei und hat nun mit der U17-Mannschaft von Arminia Bielefeld die deutsche Fußball-Meisterschaft gewonnen.
https://twitter.com/pneu47/status/1647628791060021249
Redaktion: Bent Freiwald, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert