Die Welt wird auf einmal kurz dunkel. Im Augenwinkel sehe ich bizarre Formen, die an Tentakel erinnern. An der Decke hängen gefesselte Menschen an blutroten Seilen. So stelle ich mir die Hölle vor. Aber ich bin mitten in einem Porno. In einem, der eher an eine Kunstausstellung erinnert als an Pornhub.
Ich spiele seit meiner Jugend Videospiele, habe mit Raumschiffen das Weltall erkundet und jede Menge außerirdischer Wesen abgeknallt. Aber das hier ist anders. Ein paar Tage zuvor hatte ich, etwas verschämt, einem Freund geschrieben: „Du hast doch diese VR-Brille. Kann ich mir die mal ausleihen?“ Nach einer kurzen Erklärung schließe ich das Gerät an meinen Computer. Ein Kabel und eine kurze Installation braucht es, dann stehe ich unter den Tentakeln und schaue mich um. Die Brille drückt ein bisschen und will nicht so richtig halten. Trotzdem sitzt gerade die Zukunft der Pornografie auf meinem Kopf.
Hier im Ropeland, also im Land der Seile, haben normalerweise Menschen Sex miteinander, die genauso wie ich mit einer VR-Brille auf dem Sofa sitzen. Nach ihnen suche ich: Aber heute ist es im Ropeland leer, ich bin alleine hier.
Ich glaube, VR-Sex wird eine Revolution. Er wird unsere Beziehungen verändern, wir werden besseren Sex haben und intime Wünsche ohne schlechtes Gewissen ausprobieren und ausleben können. Habe ich recht? Ich habe für diese Recherche mit Menschen gesprochen, die VR-Pornografie nutzen, produzieren und die Auswirkungen analysieren.
Die Pornoindustrie ist eine Fortschrittstreiberin
Jan ist Krautreporter-Mitglied und hat sich auf meine Suche nach VR-Pornografie-Nutzer:innen gemeldet. „Ich benutze fast nur noch die Brille zum Pornoschauen“, sagt er. Die Außenwelt wird auf einmal ausgesperrt. Kein unaufgeräumter Schreibtisch und die Straße vor dem Fenster ist auch ganz weg. Immersion heißt das in der Welt der virtuellen Realität.
Jan schaut mit seiner Brille vor allem Filme. Er wird zum Regisseur des Pornos, kann sich umschauen und damit entscheiden, wo die Kamera hinschaut. Solche VR-Filme sind eine Vorstufe zu dem, was ich in meinem Wohnzimmer erlebt habe: Die komplett virtuelle Welt, aufgebaut wie ein Computerspiel, in der ich meinen Avatar gestalten, mich frei bewegen und mit anderen Nutzer:innen interagieren kann.
Diese Revolution ist nicht die erste. Die Pornoindustrie war schon immer eine treibende Kraft bei der Einführung neuer Technologien. Die VHS-Kassette, wie wir sie kennen, erschien erst zwei Jahre nach der sogenannten Betamax von Sony. Die Betamax, eine kleinere, quadratische Videokassette, hatte sich da noch nicht durchgesetzt. Denn Sony ließ offenbar nicht zu, dass pornografische Inhalte auf Betamax-Kassetten aufgezeichnet wurden. JVC hatte keine Probleme damit. Hunderttausende VHS-Pornovideokassetten wanderten über den Ladentisch in die Wohnungen der Konsument:innen. Und die VHS-Kassette gewann den Handelskrieg. Ein weiteres Beispiel ist die DVD – und natürlich das Internet.
Pornografie macht Technik massenkompatibel. Und die Pornoindustrie investiert schon lange viel Geld in virtuelle Realität. Eine Studie des Wirtschaftsinstituts Juniper Research sagt für das Jahr 2026 einen weltweiten Umsatz von 19 Milliarden US-Dollar voraus. Das ist mehr als dreimal so viel, wie in Deutschland pro Jahr mit Fahrrädern umgesetzt wird.
Pornos machen dumm – zumindest kurzzeitig
Ich rufe Jessica Szczuka an. Sie forscht zu digitalen Technologien und Sexualität und befragt zum Beispiel Männer, die eine hyperrealistische Sex-Puppe haben, was sie anziehender finden: eine Frau oder einen Sexroboter? Noch gewinnen die Frauen, hat Szczuka herausgefunden. Aber die Technik holt auf.
Viele Forscher:innen beschäftigen sich gerade mit Sexualität und VR-Technologie. Den Erkenntnissen zufolge macht es durchaus einen Unterschied, ob wir uns als einsame Voyeur:innen durch Pornoseiten klicken, oder mit einer Brille eintauchen in die Welt. Die Empathie ist zum Beispiel in der VR-Pornografie höher als in herkömmlicher Pornografie, sagt Szczuka. Konsument:innen fühlen sich mit den dargestellten Personen stärker verbunden. Untersuchungen zufolge achten sie beim Schauen viel weniger auf den Körper als beim Konsum von üblicher Pornografie. Stattdessen achten sie auf die Augen der Darsteller:innen.
„VR ist neben anderen neuen Technologien die perfekte Technologie, um sich auszuprobieren und die eigene Sexualität neu zu bewerten“, sagt sie. So könnte ich mit der geliehenen VR-Brille herausfinden, ob ich vielleicht auf Bondage und andere BDSM-Praktikten stehe.
Szczuka bestätigt auch, was KR-Mitglied Jan mir sagte. Mit einer Brille auf dem Kopf vergessen Menschen schnell den Umstand, dass die virtuelle Welt nicht echt ist. „Im Moment der Erregung drängen wir die kognitiven Kapazitäten an den Rand, darüber nachzudenken, dass wir gerade Sex mit einem Computer haben.“ Wir werden also ein bisschen dumm, wenn wir im virtuellen Raum erregt sind.
Wer schaut sowas überhaupt?
Wir alle werden nicht mehr lange um VR-Pornografie herumkommen. Der Grund ist schlicht: Sie ist besser. Eine 2018 im Journal of Sexual Medicine veröffentlichte Studie zeigt, dass VR-Pornos mehr Spaß machen. Während des Schauens sind Menschen erregter und sexuell erfüllter als bei zweidimensionalen Pornos.
Der Großteil der Menschen konsumiert Pornografie, auch wenn die wenigsten es zugeben. Mein Kollege Thorsten Glotzmann hat das hier schon einmal erklärt. Es gibt aber einige Gruppen, denen die neue Technologie ganz besonders helfen könnte. Dazu gehören diejenigen, die unsicher sind und Probleme im Umgang mit anderen Menschen haben, aber auch diejenigen, die mit körperlichen Einschränkungen leben, sagt Sexualwissenschaftlerin Szczuka. Für die seien virtuelle Welten die Möglichkeit, ähnlich tickende Menschen zu treffen.
Szczuka betont aber: „Es wäre falsch, den Konsum von solcher Pornografie oder hyperrealistischen Puppen mit Einsamkeit, sozialen Problemen oder Krankheiten in Zusammenhang zu bringen.“ Es gäbe keinerlei Hinweise, dass Männer, die besonders einsam sind, auch signifikant mehr Interesse an solchen Geräten hätten.
Auch die Angst, dass Menschen bald gar keinen Sex mehr haben werden, hält sie für überzogen. VR-Welten seien zwar immer immersiver und die Erfahrungen, die dort passieren, würden als sehr positiv empfunden. Aber: „Die Leute wissen ja, dass da am Ende keine Person aus dem Handy springen wird.“
Nicht alles Facebook überlassen
Ich erinnere mich an Ropeland, die menschenleere BDSM-Welt. Ich war dort allein und ein bisschen gelangweilt. Alles, was ich hätte machen können, hätte andere Menschen gebraucht. Ropeland ist Teil eines VR-Projektes, einer virtuellen Welt, namens RD Land. Um mehr darüber zu erfahren, zoome ich mit der Gründerin und Geschäftsführerin Angelina Aleksandrovich in San Francisco.
Mit ihren Tattoos und den blau gefärbten Haaren sieht sie auch eher aus wie eine Gaming-Influencerin als die Gründerin einer Sex-Welt. Aleksandrovich ist für die VR-Erwachsenenindustrie so etwas wie der Mark Zuckerberg für die sozialen Netzwerke. Sie sagt Sätze wie: „Wir haben eine Landschaft unbekannter und ungenutzter Möglichkeiten, die wir in alle möglichen Richtungen ausdehnen“, und: „Wir erschaffen Dinge, die sonst in der physischen Welt nicht möglich wären und die einfach alle Grenzen der Physik und Biologie sprengen.“
Die meisten anderen VR-Plattformen wurden von Monstern wie Facebook oder Microsoft gegründet, das störte Aleksandrovich. „Die Wahrheit ist: Das sind ziemlich sterile und mainstreaminge Orte, die einfach nur immer und immer wieder die reale Welt reproduzieren möchten.“
Erwachsenenunterhaltung ist auf den großen Plattformen nicht erlaubt. Das macht Aleksandrovich wütend: „Warum können Erwachsene, die einvernehmlich digitalen Sex haben wollen, das auf solchen Plattformen nicht?“
RD Land soll eine Plattform sein, die Künstler:innen, Sexarbeiter:innen und Nutzer:innen selbst gestalten können – ohne Regeln. Ganz ohne Grenzen gehe es aber natürlich nicht, gibt Aleksandrovich zu. „Es sind aber mehr die Common-Sense-Regeln, die zum Beispiel auch auf Sexpartys gelten.“ Der Konsens stehe immer im Vordergrund und alle sexuellen Aktivitäten mit Kindern seien selbstverständlich verboten.
Aleksandrovich erzählt mir von einem Nutzer. Er sei Mitte Fünfzig und lebe mit seiner Frau und Kindern in einem Land, das Homosexualität mit dem Tod bestraft. „Dieser Mann hatte niemals die Gelegenheit, seine Wünsche und Präferenzen zu teilen und hat sein Leben ständig gehasst.“ In der virtuellen Realität könne er seine Sexualität ausleben, ohne Angst vor dem Gefängnis oder sozialer Ächtung zu haben. „Wir werden auch anderen Menschen helfen können und deren Leben sicherer und akzeptierter machen“, sagt Aleksandrovich.
VR-Sex als Therapie?
Sex ist oft kompliziert. Mindestens zwei Menschen müssen kommunizieren, Grenzen ausmachen, Wünsche formulieren und Unsicherheiten überwinden. Warum also nicht den „Sex-Kurs für Anfänger:innen“ in der VR-Welt erschaffen?
Die VR-Technologie könnte auch genutzt werden, um interaktive und immersive Erfahrungen in der Sexualerziehung zu schaffen. Das könnte besonders für junge Menschen nützlich sein, denen es peinlich oder unangenehm ist, mit Eltern oder Lehrer:innen über Sex zu sprechen. Der amerikanische Sexualtherapeut Kenneth Play gibt Anleitungen auf Pornhub, zum Beispiel zum Squirten. Er glaubt, die VR-Sexualerziehung könnte auch eine Möglichkeit bieten, sich in einer sicheren und kontrollierten Umgebung über sexuelle Gesundheit und Sicherheit zu informieren, sagt er in einem Interview mit der Plattform Sextechguide.com.
Menschen sind in virtuellen Realitäten empathischer als in klassischen Pornos, sagt die Sexualforschung. Das ließe sich auch in der Therapie einsetzen. Es gibt bereits Ansätze, VR zu nutzen, um eine Reihe von psychischen Erkrankungen zu behandeln, darunter Angststörungen und posttraumatische Belastungsstörungen. In einem Artikel im Journal für Sexual- und Paartherapie analysieren drei kanadische Forscher:innen, wie sich VR in die Sexualtherapie übertragen lässt. Paare mit Problemen beim Sex könnten VR nutzen, um verschiedene Szenarien zu simulieren und in einer sicheren und kontrollierten Umgebung nach Lösungen zu suchen. Wie genau das funktioniert, werde ich übrigens gemeinsam mit meiner Kollegin Theresa in meinem nächsten Text zu diesem Zusammenhang den Sexualtherapeuten Carsten Müller fragen.
Für Menschen mit körperlichen Behinderungen oder chronischen Krankheiten könnte die VR-Technologie eine Möglichkeit bieten, Sexualität ohne körperliche Grenzen zu erleben. Der Blogger Chris S. hat das für das Onlineportal Rollingplanet getestet. Er lebt mit sogenannter Spinaler Muskelatrophie Typ 2, hat also Bewegungseinschränkungen. So richtig kann er sich nicht mit den drei virtuellen Frauen in der VR-Brille einlassen. Erst mit Hilfe seines Freundes und echten Berührungen funktioniert der VR-Sex halbwegs. „Ich nahm die Brille auch mitten im zweiten Film ab, denn ich hatte Besseres zu tun“, schreibt er.
Potenzial habe die neue Technologie, aber die Technik hinke hinterher. Die Brille sei, besonders für seine Krankheit, zu schwer und mit den vermeintlich perfekten Körpern der Darsteller:innen könne er sich auch nicht identifizieren, schreibt Chris S.
Man müsste sich riechen können
KR-Mitglied Steffen hatte sich eine VR-Brille gekauft und für Pornos genutzt. Den Hype kann er nicht so richtig nachvollziehen. „Dieser Konsum zieht zwar in den Bann, ist aber gleichzeitig fürchterlich schlecht und monoton“, sagt er. Man erkenne auf einmal, was für schlechte Schauspieler Pornodarsteller:innen wären. „Es zerstört die Immersion, wenn man die Blicke zum Regisseur sieht und wie gelangweilt Darsteller:innen manchmal sind.“ Steffen hat seine Brille wieder verkauft.
Steffen glaubt, die Technik sei einfach noch nicht soweit. Ein bisschen wie beim Elektroauto: beeindruckend, aber noch nicht ausgereift. VR-Angebote und gut produzierte Pornografie sind noch selten. Menschen wie er probieren die Technik zwar aus, lassen sie aber wieder fallen. Das bestätigt auch eine Studie des Marktforschungsinstitutes Ipsos zusammen mit der britischen Rundfunkanstalt BBC. Demnach müsse an der Nutzerfreundlichkeit und der Qualität gearbeitet werden, um mehr Menschen zu überzeugen.
Die Bildqualität und das Gewicht von VR-Brillen werden derzeit immer besser. Die Industrie träumt aber schon weiter. Von Anzügen, die Berührungen und Körperwärme simulieren. Oder Gerüchen, die künstlich erzeugt werden.
Das alles kann die Brille, die ich mir geliehen habe, natürlich nicht. Nicht nur deswegen habe ich sie meinem Freund wieder zurückgegeben. Wir haben nie wieder darüber geredet. Fast so wie bei den Schulhof-CDs voller Pornos, die früher rumgingen.
Falls du VR-Pornografie trotzdem schon ausprobieren möchtest: Die Brillen kosten heute zwischen 200 und 300 Euro, einen Gaming-Computer brauchst du nicht. Dein Weg könnte dich dann auf die Webseite von RD Land führen oder auf eine einschlägige Pornoseite. Die Kategorie „VR-Pornos“ führen jetzt schon die meisten von ihnen.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger