Wenn Kinder und Jugendliche psychisch krank sind, stehen sie oft vor einem Problem: Sie müssen sich jemandem anvertrauen. Selbst, wenn sie das geschafft haben, sind Therapieplätze rar. Oft suchen die Betroffenen deswegen Hilfe im Internet. In Chatgruppen, bei Influencer:innen oder Foren. Genau dorthin geht auch Eike Müller. Er ist Sozialarbeiter in Bayern und digitaler Streetworker. Sein Job bringt ihn dahin, wo die Eltern nicht sind.
Herr Müller, wo finden Sie psychisch kranke Kinder und Jugendliche im Internet?
Überall. Jugendliche nutzen das Internet inzwischen für jede Lebenslage, und dazu gehört eben auch die psychische Gesundheit. Dort treffen sie sich in Communitys, wo sich Betroffene austauschen und gegenseitig helfen. Das können themenspezifische Discord-Server sein, in denen es zum Beispiel um Videospiele geht. Auch auf Reddit teilen viele Menschen ihre Geschichte und fragen nach Unterstützung. Solche Räume gibt es seit Beginn des Internets, aber seit der Corona-Pandemie und der daraus folgenden Isolation sind dort deutlich mehr Kinder und Jugendliche unterwegs.
Ist das denn etwas Gutes?
Ich glaube, diese digitalen Räume können viel Gutes bewirken.
Haben Sie denn schon erlebt, dass Betroffenen mit solchen Gruppen wirklich geholfen wurde?
Ich hatte Kontakt zu einer queeren Person, die aus einem sehr dörflichen Umfeld kommt. Die Person hatte einfach niemanden im Umfeld, mit dem sie sprechen konnte. Das Internet war der Raum, in dem sie sein konnte, wie sie ist. Gleichzeitig bin ich immer für einen aufgeklärten Umgang mit dem Internet. Denn es besteht natürlich eine gewisse Gefahr.
Welche?
Zum einen schreiben junge Menschen teilweise extrem persönliche Dinge in solche Communitys. Jemand mit schlechten Absichten könnte daraus sicherlich auf die Identität der Personen schließen und sie ausfindig machen. Außerdem gibt es das Risiko, dass sich Kinder und Jugendliche dort gegenseitig darin bestärken, dass es ihnen nicht gut geht. Darin, dass die Welt unfair ist, die sich nie irgendetwas ändern wird und jegliche Hilfe verloren ist.
Als digitaler Streetworker sollen Sie an genau diesen Punkten intervenieren. Wie funktioniert das?
In der Pandemie haben wir erlebt, wie das Wohlbefinden junger Menschen vernachlässigt wurde. Die Bayerische Staatsregierung hat daraufhin überlegt, wie man neue Konzepte entwickeln kann, um junge Menschen besser zu erreichen. Unser Modellprojekt hat deshalb die sogenannte „aufsuchende Sozialarbeit“ ins Internet übertragen. Das heißt, wir gehen aktiv in die sozialen Netzwerke und bieten Beratung an. Und wir haben sehr schnell gemerkt: Der Bedarf ist riesig.
Das heißt, Sie schreiben junge Menschen einfach an, bei denen Anlass zur Sorge besteht?
Das mache ich nur in seltenen Fällen, wenn jemand sehr explizit nach Hilfe fragt. Vor allem kommentieren wir ein Gesprächsangebot unter Posts, in denen Nutzer:innen von negativen Erfahrungen erzählen – zum Beispiel, wenn sie sich einsam fühlen, was sehr oft vorkommt.
Das Ganze passiert auf unterschiedlichen Plattformen. Ich habe unter anderem ein Discord-, Jodel und Instaprofil. Kolleg:innen sind auch auf TikTok unterwegs.
Wie geht es weiter, wenn Sie Kontakt aufgenommen haben?
Ich höre mir erst einmal an, was ihre Situation ist, aber ich bin Sozialarbeiter, kein Therapeut. Das mache ich auch in direkten Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen deutlich. In vielen Fällen kann ich helfen. Aber oft – gerade, wenn sich junge Menschen in einer akuten depressiven Verstimmung befinden – leite ich an die entsprechenden Stellen weiter.
Das stelle ich mir schwierig vor. Es gibt ja ohnehin zu wenige Psychotherapieplätze für Kinder und Jugendliche.
Das stimmt. Erst vor kurzem habe ich einem jungen Menschen dabei geholfen, einen Therapieplatz zu finden. Ich konnte natürlich nicht selbst für ihn anrufen, aber ich war während der Telefonate im Hintergrund im Discord. Ich habe versucht, ihn zu motivieren, am Ball zu bleiben und selbst bei Absagen weiterzumachen.
Hat das geholfen?
Ich glaube, ja. Ein anderer Jugendlicher hatte Angst, in sozialen Kontakten seltsam zu erscheinen. Er wollte sympathischer wirken. Da kann ich dann helfen, Ängste zu nehmen. Ich bin in solchen Gesprächen zwar persönlich, aber trotzdem etwas vorsichtig und achte auf Distanz. Manche Fälle beschäftigen mich aber auch länger.
Zum Beispiel?
Ich hatte einen Fall, bei dem ein junger Mensch zu Hause immer wieder Gewalt erfahren hat. Die Person war schon über 18 Jahre alt, deswegen gab es keine Möglichkeit, sie dort herauszuholen. Weil sie ihren Job verloren hatte, fand sie auch keine Wohnung. Die Vorstellung, dass die Person weiterhin in dieser Situation leben muss, nimmt mich dann schon mit. Da merkt man: Digital Streetwork kann analoge Hilfesysteme niemals ersetzen, wir ergänzen sie bloß.
Sprechen wir über die Rolle der Eltern. Ich bin mit dem Internet aufgewachsen und ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Eltern keine Ahnung haben, was ich alles so getrieben habe.
Meine eigenen Eltern auch. Eine gewisse Autonomie im Internet ist ja auch in Ordnung. Ich glaube, man sollte jungen Leuten Raum geben und sie trotzdem kritisch dabei begleiten, wie sie ihn nutzen.
Wie macht man das?
Ich kann Eltern nur raten, sich mit der Internetnutzung ihrer Kinder auseinanderzusetzen. Fragt sie doch einfach mal, was sie so machen: Die meisten reden sehr gerne darüber. Macht euch einen Discord-Account. Aber bitte nicht zur Kontrolle, es reicht schon, sich solche Angebote anzuschauen. So ist es viel leichter, zu verstehen, was dort überhaupt passiert.
Wo gibt es denn Informationen für Eltern?
Einerseits gibt es natürlich vom Staat Informationen. Das Bundesamt für Informationssicherheit hat zum Beispiel einen Flyer, in dem es um „Fortnite“ geht. Aber es hilft auch, sich größere Youtuber anzuschauen, die Debatten zusammenfassen. Im deutschsprachigen Reddit /r/de laufen auch viele Informationen zusammen, weil dort auch aus anderen Netzwerken gepostet wird. Oft hilft es aber auch, mit anderen Eltern zu sprechen. Ich würde nämlich davon ausgehen, dass in Schulklassen 99 Prozent der Kinder ähnliche Sachen im Netz machen. Wer ein Kind hat, das 13 Jahre ist, sollte einfach wissen, wer Montana Black ist.
Nun ist das ja nicht so einfach, sich als Eltern in diesen Räumen zu bewegen. Wie machen Sie das: Werden sie akzeptiert?
Für meine Arbeit braucht man schon ein Gespür dafür, wie bestimmte Dinge im Internet funktionieren, wie Ironie genutzt wird und wie Sätze gemeint sind. Gleichzeitig bin ich immer sehr nah dran an neuen Entwicklungen und sehe immer so ein bisschen, wie politische Entscheidungen oder auch kulturelle Veränderungen sich in meiner Arbeit widerspiegeln.
Zum Beispiel?
Andrew Tate. Der sagt zum Beispiel, Frauen seien ein Statussymbol, bräuchten männlichen Schutz oder seien sogar eine Form von Eigentum des Mannes. Ich hatte Klienten, die solche Aussagen okay fanden. Meine Aufgabe ist es dann, möglichst behutsam die Gründe dafür herauszufinden, weil dahinter oft größere Probleme stecken: zum Beispiel Einsamkeit oder Unsicherheit.
Gibt es Gruppen, in die Sie nicht kommen?
Wenn ich in Discord-Server gehe, frage ich die Administrator:innen immer, ob ich dort aktiv sein darf. Und wenn nicht, ist das auch vollkommen okay. Ins Darknet gehen wir nicht, aber dort sind auch die allermeisten jungen Menschen nicht. Außerdem hüte ich mich davor, in rechtsextreme oder frauenfeindliche Gruppen einzusteigen. Ich wäre dort einfach nur der Jemand von außen, der entsprechend abgelehnt wird. Meine Aufgabe ist es aber, einzelnen Menschen zu helfen.
Wie schaffen Sie es, Vertrauen zu den Jugendlichen aufzubauen?
Ich bin in den Gesprächen zwar persönlich, aber trotzdem vorsichtig. Denn die Jugendlichen bauen eine Bindung zu mir auf. Deswegen ist es sehr wichtig, da eine Grenze zu ziehen und sehr deutlich zu machen, was ich als Streetworker tue und was nicht. Als mir zum Beispiel jemand immer wieder Fotos vom Eisessen geschickt hat, habe ich gemerkt, die Leute schreiben mir gerade, als wäre ich ihr Freund. Aber das bin ich natürlich nicht, ich schalte mein Handy abends aus, und die Person ist dann weg. Das ist wichtig, diesen Unterschied zu betonen.
Das heißt, Sie versuchen zu vermeiden, eine zu enge Bindung zu Ihren Klient:innen zu bekommen?
Genau, aber manchmal merken meine Klient:innen auch selbst, dass sie sich etwas zu sehr auf mich verlassen. Ich hatte einen Fall, in dem es auch um Suizidgedanken ging, wo ich helfen konnte. Danach kamen aber immer wieder auch Nachrichten, in denen es nicht mehr um die psychischen Probleme ging. Das ging eine Weile, bis die Person eine Nachricht gelöscht hat.
Und dann?
Als ich nachgefragt habe, bekam ich zur Antwort: „Mir ist klar geworden, ich sollte dich nicht alle möglichen Sachen fragen. Ich muss Entscheidungen irgendwann auch alleine treffen.“
Was sind die Grenzen Ihrer Arbeit?
Natürlich kann Digital Streetwork Treffen im echten Leben niemals ersetzen. Aber gerade für Jugendliche, die eine ausgeprägte soziale Phobie haben, sind wir eine ganz wichtige Möglichkeit, Kontakt zu suchen und Hilfe zu bekommen.
Aber ob ich auf der Straße unterwegs bin oder Beratungen in digitalen Räumen anbiete: Die Themen der Klient:innen sind eigentlich dieselben.
Das war der vierte Teil unserer Serie „Was du tun kannst, wenn dein Kind psychisch krank wird“. Hier findest du den fünften Teil, in dem es um die Frage geht: Wie rede ich mit psychisch kranken Jugendlichen? Mehr als 300 junge Menschen haben uns bei der Recherche geholfen.
Redaktion: Thembi Wolf, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Bent Freiwald, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger.