Zwei Menschen sitzen auf einer Bank und blicken auf das Meer und den Strand.

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Leben und Lieben

Warum viele Probleme schlimmer werden, wenn man drüber redet

Ich war schon immer überzeugt: Reden wird überschätzt. Jetzt kann ich es sogar beweisen.

Profilbild von Theresa Bäuerlein
Reporterin für Sinn und Konsum

Wenn ich allein bin, kann ich ganze Tage verbringen, ohne ein lautes Wort zu äußern. Mein Mann dagegen muss mehrere Stunden täglich mit Menschen reden. Sonst fehlt ihm etwas. Es gehört zu den Wundern des Universums, dass ausgerechnet wir beide ein Paar geworden sind.

Manchmal, wenn wir abends im Bett liegen, dreht er sich zu mir, den Kopf auf einen Ellbogen gestützt und fragt hoffnungsvoll: „Hast du Lust zu – reden?“ Öfter als ihm lieb ist, lautet meine Antwort: „Heute nicht, Schatz, ich bin zu müde.“

Mein Mann akzeptiert das, aber er findet mich komisch. Ich bin der Meinung, meine Haltung zum Reden ist zukunftsweisend. Der Wert des Austauschs mit Worten wird gnadenlos überschätzt. Wir sollten viel, viel öfter einfach die Klappe halten. Das ist schwierig zu verteidigen, denn Gespräche führen gilt als Grundlage guter Beziehungen. Nicht umsonst gibt es Gesprächstherapien. Von einer Schweigetherapie habe ich noch nie gehört. In eigentlich allen Ratgebern steht, wie wichtig es ist, dass Partner:innen offen über Gefühle und Erwartungen kommunizieren. Miteinander reden ist Austausch, Verständigung, Diplomatie. Nicht ohne Grund gibt es den Begriff des „feindseligen Schweigens“. Schon mal von „feindseligem Quatschen“ gehört? Eben, ich auch nicht.

Es gibt dafür Gründe. Der Mensch sei ein soziales Wesen, heißt es. Kommunikation sei das wichtigste Bindemittel zwischen Menschen. Ich sage: Na schön, aber das heißt nicht, dass wir uns die ganze Zeit unterhalten müssen. Erstens ist das sehr laut. Zweitens machen offene Gespräche Probleme manchmal nicht besser, sondern schlimmer. Das gilt für Beziehungen, aber auch für eine Gesellschaft, in der Menschen um Identitäten kämpfen. Das kann ich beweisen.

Die Kolleg:innen denken, man wäre tot

Schon immer träume ich davon, den sozialen Zwang abzuschaffen, jeden ruhigen Moment mit Worten füllen zu müssen. Nicht, weil ich ein so stilles, tiefes Wasser bin. Sondern weil es einfach Zeiten gibt, in denen kommunizieren zu müssen mir ein Gefühl gibt wie ein juckender Wollpullover, den ich nicht ausziehen kann. Ich werde nervös, überreizt. Man könnte sagen, ich bin gegen Worte allergisch.

Das ist ungünstig, denn ich bin Journalistin. Mit Worten verdiene ich mein Geld. Ich bin wie eine Automechanikerin, die keinen Benzingeruch verträgt. Ganz so schlimm ist es zum Glück nicht, denn ich habe nichts gegen Kommunikation an sich. Es ist nur immer ein bisschen zu viel davon da.

Ich möchte wirklich nicht wie ein weiterer Digital-Detox-Ratgeber klingen. Aber noch nie war es so schwer wie heute, Ruhe zu finden, weil sich dauernd alle irgendwie zutexten. Ich bin ja auch nicht besser. Auch ich taste morgens mit verklebten Augen nach meinem Handy und schaue, was an Nachrichten reingekommen ist. Wie alle anderen hänge ich in einem Netz aus Kommunikation, dem kaum zu entkommen ist. Eine Whatsapp-Nachricht länger als einen Tag unbeantwortet zu lassen, ist unhöflich. Wenn man deutlich länger wartet, sorgen sich Freund:innen und Kolleg:innen; sie denken, man wäre tot.

Ich finde das extrem anstrengend und es liegt nicht daran, dass ich griesgrämig und menschenunfreundlich bin. Oft unterhalte ich mich sehr gerne, schriftlich oder mündlich. Ich bin auch bereit, mit meinem Mann über unsere Beziehung zu reden. Ehrlich gesagt: Er zwingt mich dazu, und ich gebe zu, dass es oft hilft.

Dennoch ist es einfacher, Menschen zu finden, mit denen ich interessante Gespräche führen kann, als welche, mit denen es möglich ist, interessant zu schweigen. Mit denen es zum Beispiel lange, ungezwungene Pausen geben kann, in denen niemand etwas sagt und einfach Platz zum Nachdenken ist. Ich weiß nicht, woran es liegt. Ja, Stille kann unheimlich sein, ein bisschen hört man in Momenten des Schweigens auch die eigene Lebenszeit leise wegticken. Und dann redet man vielleicht doch lieber übers Wetter.

Ich glaube, es gibt generell Menschen, die aus Gesprächen Energie ziehen und welche, die sie eher in der Stille finden. Etiketten wie „introvertiert“ und „extrovertiert“ passen nicht wirklich dazu, weil es auch soziale, kommunikative Menschen gibt, die Ruhe brauchen. Das hat zum Beispiel diese, zugegeben kleine, Studie gezeigt. Zum Spaß habe ich trotzdem einen Test der Universität Leipzig gemacht, der die so genannten Big-Five-Persönlichkeitsmerkmale misst: emotionale Stabilität, Offenheit, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Extraversion.

Demnach bin ich im Vergleich zu anderen Personen, die diesen Test gemacht haben, mittelmäßig extravertiert. Mein Mann, den ich ebenfalls getestet habe, schneidet deutlich überdurchschnittlich ab. Dieses Ergebnis hat mich etwa so überrascht wie die Tatsache, dass kochendes Wasser heiß ist. Der beste Freund meines Mannes ruft ihn jeden Tag an. Ich habe keine Ahnung, was sie sich täglich Neues zu erzählen haben.

Schweigen kann Menschen schützen

Ich habe es aufgegeben, meinen Mann vom Wert des Schweigens zu überzeugen. Sollte ich es doch noch einmal probieren, werde ich vielleicht gesellschaftspolitisch argumentieren und zum Beispiel auf die Debatte über psychische Gesundheit verweisen. Die nämlich zeigt, dass Reden als Lösung für Probleme manchmal überbewertet wird. Und das kann Betroffenen sogar schaden.

In den vergangenen Jahren haben sich immer mehr Menschen öffentlich zu Wort gemeldet, die unter Depressionen, Angsterkrankungen und Burnout leiden. Ich meine damit keineswegs, sie hätten lieber schweigen sollen. Wer im Stillen leidet, ist oft allein und bekommt keine Unterstützung. Offene Gespräche über psychische Krankheiten machen klar, dass sie jeden treffen können, und dass, zur Psychotherapie zu gehen, nicht peinlicher ist als zum Zahnarzt. Darüber bin ich froh, genau wie über Kampagnen wie „Bitte stör mich“ oder „Wie gehts dir?“, die Menschen helfen sollen, das Schweigen über psychische Belastungen zu brechen. Dan Degermann, der an der Universität Bristol über die Schnittstellen zwischen Politik, Emotionen und psychischer Gesundheit forscht, sieht in der Entwicklung, Menschen mit psychischen Krankheiten immer wieder öffentlich zum Reden aufzufordern, aber auch eine Gefahr: eine zunehmend verbreitete Vorstellung nämlich, „dass Schweigen im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen immer schlecht ist und auf Angst und Stigmatisierung beruht, und dass jede Anstrengung, dieses Schweigen zu brechen, gut ist“, wie er hier schreibt. Bei Depressionen, erklärt er, könne es ein Symptom der Krankheit sein, dass Menschen einfach nicht darüber sprechen können, wie es ihnen geht. Niemand sollte sie unter Druck setzen, sich trotzdem äußern zu müssen.

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Schweigen kann Menschen mit psychischen Krankheiten auch schützen, so Degermann. Es ist nicht leicht, über das eigene Leiden zu sprechen, besonders dann nicht, wenn als Reaktion taktlose Fragen oder dumme Sprüche kommen. Sich diese Gespräche lieber für Termine mit Therapeuten aufzuheben, kann eine ziemlich gute Idee sein.

Ich gebe zu, dass ich immer dachte, über Tabuthemen könne man gar nicht zu viel reden – oder zu offen. Zum Beispiel habe ich ziemlich viele Texte über Sex geschrieben, weil ich dachte, so könnte ich mich und andere von Scham und Missverständnissen befreien. Ich denke noch immer, dass es gut ist, über alles reden zu dürfen. Aber gleichzeitig gilt auch: Nichts wird besser, nur weil alle darüber sprechen.

Bleiben wir lieber in unseren Blasen

Oder miteinander. KR-Leser Andreas schrieb mir: „Probleme in unserem privaten Umfeld entstehen oft, weil wir zu wenig miteinander sprechen. Gesellschaftliche Probleme hingegen entstehen (vor allem hierzulande), weil wir zu viel miteinander sprechen.“ Andreas erinnert sich nicht daran, ob er sich diesen Satz selbst überlegt oder ihn irgendwo gelesen hat. In jedem Fall finde ich ihn ziemlich weise. Ein hartnäckiger Mythos unserer Zeit lautet, es würde für Frieden und Verständigung sorgen, wenn Menschen miteinander reden und ihre Weltsicht teilen. Genau das Gegenteil kann aber stimmen.

Dauernd hieß es in den vergangenen Jahren, soziale Medien hätten Menschen in Blasen Gleichgesinnter eingeschlossen. Wir hätten verlernt, mit Andersdenkenden zu kommunizieren, weil wir ihnen gar nicht mehr begegnen. Stattdessen verstärken wir online nur noch die vorgefassten Meinungen unserer Gruppe. Diese sogenannten Echokammern galten als Ursache vieler extremer Symptome unserer Zeit, für radikalisierte Trump-Anhänger etwa, Impfgegner oder den Brexit. Ich habe das auch geglaubt. Dann erfuhr ich von einer Studie des Sozialwissenschaftlers Petter Törnberg von der Universität Amsterdam. Törnberg kommt zu dem Schluss, es sei genau andersherum.

Ja, soziale Medien polarisieren. Aber nicht, weil wir uns nur in der eigenen Blase bewegen. Sondern gerade weil wir online ständig auf extrem andere Meinungen stoßen. So verschärft sich die politische Polarisierung. „Digitale Medien isolieren uns nicht von gegensätzlichen Ideen; im Gegenteil, sie bringen uns dazu, mit Personen außerhalb unserer lokalen Blase zu interagieren, und sie stürzen uns in einen politischen Krieg, in dem wir gezwungen sind, Partei zu ergreifen“, schreibt er. So verhärten sich Identitäten.

Es ist wichtig zu verstehen, dass es bei Törnbergs Analyse um Gespräche im Internet geht. Im echten Leben, meint er, kommen wir mit anderen Meinungen besser klar, weil Menschen sich in einem Kontext treffen, der größer ist als ein paar Zeilen Text im Internet. Sie teilen zum Beispiel die Liebe zu einem Fußballverein oder gehen in die gleiche Kirche. Das kann Brücken schaffen, die es im Internet nicht gibt, wenn Fremde aufeinandertreffen.

Im tiefsten Wesen meiner Seele bin ich ein alter Mann

Viele Konflikte entstehen aber gar nicht erst, wenn man die Klappe hält. Und Menschen wirken oft nett, bevor sie den Mund aufmachen. Ist es nicht wunderbar, Ferien in einem Land zu machen, in dem man die Sprache nicht versteht? Erholsam an einem solchen Urlaub sind nicht nur die Sonne oder das gute Essen. Sondern auch, dass man keine Ahnung hat, worüber die Leute in der U-Bahn reden. Ganz ehrlich, ich träume von einer Welt, deren Lautstärke regulierbar ist wie eine Videokonferenz, von einem Mute-Button, den man nach Belieben ein- und ausschalten kann. In dieser Welt besteht selbst Politik weniger aus Gesprächen und Telefonanrufen. Politiker:innen flechten stattdessen gelegentlich Körbe miteinander oder lernen gemeinsam Gruppentänze. Tanzen ist auch eine Form von Kommunikation. Und man muss dabei aufpassen, sich nicht gegenseitig auf die Füße zu treten.

Worte können Brücken bauen, aber sie lassen sich auch sehr manipulativ einsetzen. Das beste Beispiel ist dieser Text. Letztlich ist es mir nämlich egal, wie viel oder wenig Menschen miteinander reden. Ich möchte einfach, dass die Regeln unserer Gesellschaft sich ändern, damit ich persönlich öfter schweigend vor mich hinstarren kann, ohne jemanden vor den Kopf zu stoßen.

Im tiefsten Wesen meiner Seele bin ich ein alter Mann, der in einem Boot auf einem See sitzt. Er hat die Angel ausgeworfen und grunzt ab und zu, wenn ein Fisch anbeißt. Ich bin aber gefangen im Körper einer Frau, von der Gesprächigkeit erwartet wird. Dem Klischee nach reden Frauen ja gerne und viel. Schweigende Männer sind mächtig, schweigende Frauen verdächtig.

Wenn in einem Film jemand verhaftet wird, sagen die Polizist:innen: „Sie haben das Recht zu schweigen.“ Ich bin dann immer neidisch auf die gefassten Personen. „Das Recht zu schweigen“: Wieso muss man dafür erst verhaftet werden?

In meiner Beziehung immerhin habe ich dieses Recht mit viel Mühe etabliert. Für meinen Mann ist das täglich ein echter Test seiner Liebe. Abgesehen davon, dass er viel kommunikativer ist als ich, telefoniert er am liebsten auch noch mit Lautsprecher. Er weiß aber, dass ich darauf mit extrem schlechter Laune reagiere. Wenn sein Handy klingelt, was bei ihm täglich so häufig vorkommt wie bei mir in einem Monat, erstarrt er wie eine Echse bei plötzlichem Wintereinbruch. Dann fummelt er hektisch seine Kopfhörer hervor und schleicht ins Nebenzimmer.

Entweder er liebt mich oder ich bin ihm gegenüber eine elende Tyrannin. Wahrscheinlich stimmt beides. Aber wenigstens ist es bei uns Zuhause schön ruhig.


In der 3. Folge ihrer Serie schreibt Theresa darüber, wie wir Sex eine viel zu große Bedeutung beimessen. Und sie erklärt, wie wir sexuell wirklich freier werden können. Hier kannst du den Text lesen.



Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Lisa McMinn, Audioversion: Christian Melchert

Warum viele Probleme schlimmer werden, wenn man drüber redet

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