Vor Kurzem sprach ich mit meinem Partner über Kinder. Ich möchte keine Kinder, sagte ich. Aber von mir aus könne er Kinder mit anderen Menschen haben. Mein Partner und ich leben polyamor, das heißt, wir haben mehrere Partner:innen. Deshalb war ich auf seine Antwort überhaupt nicht gefasst. „Wenn ich Kinder haben sollte, dann nur in einer monogamen Beziehung“, erklärte er. „Wie bitte?!“, fragte ich ungläubig.
„Eine exklusive Zweierbeziehung ist stabiler“, meinte er. „Und Stabilität ist doch das, was Kinder am meisten brauchen.“ Die Selbstverständlichkeit, mit der er das sagte, war für mich ein Schock.
Klar, viele würden ihm zustimmen, die Vater-Mutter-Kind-Familie ist heute immer noch das Idealbild der meisten Menschen. Aber ich als lange polyamor lebende Person finde das ganz schön konservativ. Ich finde es gleichermaßen interessant und ärgerlich, wie oft davon ausgegangen wird, dass die Kernfamilie die beste und gesündeste Option für Kindererziehung ist. Während alle anderen Konstellationen schwer in der Kritik stehen, weil sie angeblich die gesunde Entwicklung von Kindern gefährden, scheinen monogame Ehen, wie dysfunktional sie auch sein mögen, über alle Zweifel erhaben zu sein. Ich bin selbst in einer Patchwork-Familie aufgewachsen und hatte deshalb mehr Bezugspersonen als Mama und Papa. Es heißt doch immer, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. Polyamorie, wie wir sie leben, müsste dann doch die bessere Beziehungsform für Kindererziehung sein, oder?
Um das herauszufinden, habe ich eine Poly-Familie besucht: Die Erwachsenen Karin, Holger, Rainer, Susanne, Arne, Marcus und Johanna und ihre Kinder Lyo, Lara und Misha. Zehn Menschen und eine Katze – gerade einmal ein kleiner Teil eines großen Netzwerks von Partner:innen, Freund:innen, Kindern und ehemaligen Geliebten.
Sexpositiv und fast bürgerlich
Samstag, 11 Uhr, ein Plattenbau in Berlin-Marzahn. Rainer begrüßt mich am Fahrstuhl, dessen Tür ich nicht aufbekomme. Er macht sie für mich auf, lacht ein wenig und sagt: „Nicht, dass du uns noch wieder wegfährst! “Er ist 69 Jahre alt, groß, hat grau-weißes Haar und wirkt mit seinen halb geschlossenen Lidern etwas verträumt. An der Tür zur Wohnung im vierten Stock wartet seine Partnerin Karin. Sie ist 63, hat kurzes graues Haar, praktische Kleidung in unaufgeregten Brauntönen. Nach einer knappen Begrüßung verschwindet sie in die Küche, um Tee aufsetzen.
Karin und Rainer sind seit fast 40 Jahren zusammen, knapp 25 davon verheiratet. In ihrer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung lebt auch Holger. Er ist 47 und sozusagen Karins zweiter, inoffizieller Ehemann. Karin darf Holger nicht als Zweitmann ehelichen, Mehrfachehen sind in Deutschland nicht erlaubt. Aber sie sagen von sich, sie seien verheiratet und sind alle drei Hauptmieter der Wohnung. Eigentlich hat jeder sein eigenes Zimmer. Im Laufe der Zeit hat es sich dennoch ergeben, dass Karin und Holger gemeinsam in einem Zimmer schlafen. Rainer hat sein eigenes: Weil er zu laut schnarcht, sagt Karin. Holger möchte nicht bei dem Gespräch dabei sein. Er sagt, er habe schlechte Erfahrungen mit der Presse gemacht.
Obwohl sie so lange zusammen sind, haben Karin und Rainer nie Kinder miteinander gewollt. Und doch wird Rainer Papa genannt, nämlich von den Kindern seiner anderen Partnerin Susa. Susa (41) und die Kinder leben in einer anderen Wohnung, deren biologischer Vater nochmal woanders. Die Kinder werde ich später treffen.
Der lange Tisch im Wohnzimmer ist bereits mit Butter, Besteck und Tellern für das Frühstück gedeckt, daneben stehen zwei große Aquarien mit kleinen Fischen. Die beiden bieten mir Bio-Sauerteigbrot an. Von ihr selbst gebacken, sagt Karin. Vom Wohnzimmer aus sehe ich, wie in der Küche der Abwasch trocknet. Es ist ordentlich, der Kaffee ist gekocht, alles hat seinen Platz, die Bücher im hellen Eckschrank sind akribisch sortiert. Ich bin überrascht, dass Rainer und Karin so gewöhnlich, fast bürgerlich wirken. Anscheinend denke auch ich bei Polyamorie eher an chaotische Hippie-Kommunen und nicht an Stullen bei Oma.
Rainer stellt mir eine große Tasse mit schwarzem Tee hin, während Karin ihre erste Brotscheibe mit Butter beschmiert. Ich nehme einen Schluck und frage: „Wie seid ihr in so eine ungewöhnliche Familienform gerutscht?“ Alles begann, als sie 20 waren, erzählt Rainer. Karin lernte erst Gärtnerin, dann Floristin und studierte schließlich
BWL in Berlin. Dort traf sie auf Rainer, der ebenfalls fürs Studium nach Berlin gezogen war. An der Uni gründeten sie eine Gesprächsgruppe zu offenen Beziehungen. „Das waren Leute, die nicht einfach nur Kinder, Karriere, Hund und Haus wollten“, sagt Karin. Es ging darum, die Norm nicht blind zu übernehmen, sich einer strukturierten Familie, ordentlicher Kinder und eines vernünftigen Jobs zu verweigern. Rainer lebte diese Freiheit damals nicht nur in der Liebe: Er brach sein Studium ab und besetzte ein Haus in Berlin. Sexpositiv waren sie schon damals, sagen sie.
Karin erzählt, dass sie mal hintereinander mit sieben Männern Sex hatte. Sie will nicht, dass das falsch rüberkommt: Es war ein psychologisches Experiment, erklärt sie, von dem die Männer wussten. Ihr und den anderen sei es damals darum gegangen, aus alten, anerzogenen Denkmustern herauszukommen. Unter anderem auch dem, dass Sex eine besondere Sache ist, die man nur mit jemandem teilen kann, für den man Gefühle hat. Rainer führte mal zwölf Beziehungen gleichzeitig. Wie er das zeitlich geschafft hat? Weniger Lohnarbeit, sagt er.
Karin erklärt, dass Beziehungsarbeit exponentiell wächst: Man hat plötzlich nicht nur die Beziehung zu Person A, sondern auch zu Person B, die Beziehung von A und B sowie die gesamte Gruppenkonstellation – viermal so viel.
Meine eigenen zwei Beziehungen sind weit entfernt von solchen kommunenartigen Geflechten. Die meiste Kommunikationsarbeit besteht für mich darin zu klären, wann ich wo schlafe und was wir zu Abend essen. Wenn meine Partner doch zusammen Zeit verbringen, spielen sie einfach Schach.
Heute ist Rainer Rentner und Karin arbeitet als Haushaltshilfe bei einer Familie. Sie mieten eine Wohnung und essen Tomaten vom eigenen Balkon. Aber die Idee des Widerstands gegen gesellschaftliche Normen, die blieb.
Wie geht es den Kindern?
Das Samstagsfrühstück ist für Karin, Rainer und Holger ein wichtiges Ritual. Denn heute Abend übernachtet Rainer bei Susa, seiner anderen Partnerin. Kurz nach 12 Uhr brechen Rainer und ich zu ihr auf. Karin bleibt. Die beiden Frauen vertragen sich nicht mehr, sie hätten sich auseinandergelebt, sagt Karin. Susa erzählt später eine andere Geschichte. Ich frage Rainer, wie es ihm mit dem Zwist seiner Partnerinnen geht. Nicht gut, sagt er.
Zum Abschied drückt Karin mir noch ein Einmachglas mit fünf Jahre altem Sauerteig in die Hand, aus dem sie das Brot gebacken hat. Dazu eine Packung Roggenmehlmischung, um ihn am Leben zu halten.
Wir laufen in den verregneten Marzahner Nachmittag, um uns herum graue Plattenbauten und kaum Menschen auf der Straße. Rainer ist vor ein paar Jahren mit Karin und Holger hergezogen, um mehr Platz zu haben und näher bei Susa zu sein, die hier mit ihren zwei Kindern wohnt. Eigentlich mag er lieber Stuckdecken und Altbauten. Mittlerweile hat er auch Schönes an Marzahn entdeckt.
Susas Wohnung hat exakt denselben Schnitt wie Karins, doch sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Wo es bei Rainer und Karin ordentlich und hell aussieht, ist Susas Welt ein chaotisches Labyrinth. Im Eingang navigieren wir zwischen Schuhen und Taschen hindurch. Die vielen verschieden großen Schränke und zusammengewürfelten Möbel erwecken bei mir den Eindruck, es könnten überall noch versteckte Türen sein. Susa ist hinter einer Raumteiler-Schrankwand kaum zu sehen. „Hallo!“, ruft sie uns zu, ohne von ihrem Computer wegzublicken. Sie sei gerade noch virtuell im Polytreff von Bonn mit dabei. Auf dem Esstisch liegen inmitten von Tassen, Briefen und Spielzeug auch ein Ei und ein angebissenes Stück Tofu.
Rainer räumt erstmal auf. Er bringt das Ei und den Tofu in die Küche und erzählt, dass er nachher den Abwasch machen muss. Es kommt mir seltsam vor, wo es doch gar nicht sein Abwasch ist. Aber Rainer ist hier nicht zu Besuch. Er wohnt in zwei Wohnungen.
Langsam spricht sich herum, dass wir angekommen sind, die Familienmitglieder kommen aus ihren Verstecken. „Papa!“, schreit Lyo erfreut und umarmt Rainer lange. Rainer hat keine rechtliche Verbindung zu Lyo. Das bereitet der Familie immer wieder Schwierigkeiten im Alltag, wie mir Susa später erzählt. „Er darf mit den Kindern nicht zum Arzt gehen, darf nicht zu den Elternabenden kommen. Dabei übernimmt er viel Verantwortung für die beiden.“
Lyo ist 15 Jahre alt, trägt lange, rote Zöpfe, ein schwarzes, selbstgeschnittenes T-Shirt und schwarz-weiße Armstulpen. Er spricht langsam und ruhig, wie ein Mensch, der selten unterbrochen wird. Rainer ist nicht sein biologischer Vater, er nennt ihn trotzdem so. Den anderen, S., nennt er nur „den Erzeuger“. Lyo sagt, er sei nicht-binär. Für sich selbst benutzt er männliche Pronomen. Zwei seiner Freund:innen sollen auch da sein, die sind aber in Lyos Zimmer. Lyo erzählt, er führe selbst mehrere „queerplatonische“ Beziehungen. Unter den Erwachsenen wirkt er entspannt.
Lara, 11, kommt wortlos ins Wohnzimmer, die Haare sind zerzaust und sie noch im Pyjama. Rainer umarmt Lara zur Begrüßung lieber nicht. Sie sei etwas kontaktscheu, sagt er. Er will sie nicht überfordern. Susa hatte mir schon am Telefon gesagt, dass ich bei Lara den richtigen Moment für ein Gespräch finden müsse. Unter der Woche sei Lara zu gestresst und würde wahrscheinlich nicht reden wollen. Ich fand das sympathisch. Ich komme aus einer Familie, in der Kinder selten nach ihrer Meinung gefragt wurden oder einfach „Nein“ sagen konnten, weil sie keine Lust auf ein Familienevent hatten. Aber ich frage mich schon: Was kann einen mit elf Jahren so stressen? Das werde ich bei diesem Treffen noch nicht herausfinden, dafür sind viel zu viele Menschen da.
Poly-Familien sind gezwungen, gut im Kommunizieren zu werden
Während Rainer und ich am Esstisch sitzen, bereiten Lara und Susa Rührei fürs Frühstück vor – mein zweites heute. Lyo taucht immer wieder auf und verschwindet wieder. Es sind so viele Menschen da, dass mir der Kopf schwirrt. Ich höre Rainer zu, der ausführlich von Modelleisenbahnen erzählt. Nicht gerade mein Thema, aber ich höre immer gerne zu, wenn jemand von etwas begeistert ist. Ab und zu erinnert Susa ihn sanft daran, andere reden zu lassen.
Mir fällt auf, wie locker in dieser Familie mit Konflikten umgegangen wird. Rainer weist Susa beiläufig an, die Jacken aufzuhängen. Sie atmet genervt aus und pampt ihn ein bisschen an, dass er immer in der Ecke sitzt und Anweisungen gibt. Er sieht es sofort ein. Beide entschuldigen sich. Bei so vielen Menschen sind kleine Streits des Alltags nicht zu vermeiden. Das verdeutlicht aber eine zentrale Erfahrung, die ich und viele andere Menschen machen, wenn sie polyamor leben: Konflikte kommen viel schneller an die Oberfläche. Dadurch, dass es für viele Situationen keine Musterlösungen gibt, wie es bei monogamen Beziehungen oft der Fall ist, muss alles ständig neu verhandelt werden. Dadurch werden die Beteiligten quasi gezwungen, gut im Kommunizieren zu werden.
Lara, Susas Tochter, spricht wenig, zeigt mir aber begeistert Familienfotos. Darauf zu sehen ist ihr Leben vor dem Umzug nach Berlin: Lyo und Lara auf ihren ersten Rädern, S., der Vater der beiden beim Schlafen, Spaziergänge im Regen.
Angefangen haben Susa und die Kinder als klassische monogame Kleinfamilie in Rheinbach bei Bonn. Irgendwann merkte Susa, dass sie nicht ausschließlich heterosexuell ist. Sie verliebte sich in eine Frau. Aus dieser Liebe wurde nichts, aber Susa hatte den starken Wunsch, diese Seite weiter zu erforschen. Sie und ihr Ex-Mann öffneten die Beziehung. Statt einer Frau fand Susa jedoch Rainer.
Immer mehr Menschen setzen sich zu mir an den Tisch. Johanna (27) und Marcus (34) sind dazu gestoßen, sie leben ebenfalls polyamor. Ihr einjähriges Baby Misha ist auch dabei, ein fröhlicher Säugling mit abstehenden Ohren. Außerdem Arne (46), ein weiterer Partner von Susa. Wir rücken näher zusammen, damit alle Platz finden. Ich zähle durch, insgesamt acht Menschen sitzen nun neben mir: Rainer, Lyo, Lara, Susa, Arne, Johanna, Marcus und Misha. Später kommen noch Judith und Caro, zwei Partnerinnen von Arne per Videokonferenz zum Gespräch dazu.
Im Alltag verlieren sogar die Beteiligten oftmals den Überblick, weshalb sie kreative Lösungen finden müssen. Um die Zahnbürsten nicht zu verwechseln, benutzt die Familie ein Farbsystem: Jede:r hat eine einzelne Farbe, die in allen Wohnungen gleich ist. Nur Arne kann sich seine Farbe nicht merken und verstaut seine Zahnbürste woanders, wenn er weggeht.
Wer zur Familie gehört, das entscheiden auch die Kinder
An der Kleinfamilie sind viele in der Runde gescheitert. Rainer erzählt, er habe sich von seiner Ex-Frau getrennt, weil er nicht mehr monogam leben wollte, sie aber schon. Susa ging es mit ihrem Ex-Mann genauso. Auch bei Johanna hat sich das neue Modell aus einer klassischen Beziehung ergeben: Sie war mit ihrem Ex-Partner zusammen, aber schon mit Marcus befreundet, der ebenfalls Interesse an Polyamorie hatte.
Ich bringe die Sorge meines Partners auf den Tisch: Kinder in Poly-Familien können keine stabilen Bindungen aufbauen, weil die Partner:innen der Eltern ständig wechseln. Dem widersprechen die Mütter am Tisch. Kinder suchen sich aus, an wen sie sich binden wollen, sagt Susa. Lara besucht ihren Vater alle zwei Wochen, während Lyo ihn nur noch „der Erzeuger“ nennt. Lyo trifft sich aber jede Woche mit einem Ex von Susa, der zu einer wichtigen Bezugsperson geworden ist. Während Lyo seiner Mutter zustimmt, bleibt Lara eher still. Sie steht auf und geht die Katze suchen.
Wer zur Familie gehört, das entscheiden auch die Kinder. Susa sagt, Lara seien Regelmäßigkeit und Familienalltag wichtig. Neue Partner:innen sollen nett zu ihr sein, mit ihr Lego bauen oder gemeinsam kochen. Lyo lege, im Gegensatz zu ihr, Wert auf klare Label. Er will wissen: Ist die neue Person am Tisch ein:e Bekannte:r oder ein:e Liebhaber:in?
Mir scheint, dass die Eltern am Tisch die Polyamorie schätzen, weil sie die Kindererziehung leichter macht. Zum einen sind schlicht mehr Menschen da, die auf die Kinder aufpassen können. Außerdem werden die Kinder unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt und können dadurch selbst entscheiden, wie und wer sie sein wollen.
Zu diesem subjektiven Eindruck gibt es empirische Daten. Die Forscherin und Soziologin Elisabeth Sheff, eine renommierte Expertin auf dem Gebiet polyamorer Familien mit Kindern, führt seit 1996 gemeinsam mit ihrem Team eine Langzeitstudie mit 213 Beteiligten (davon 33 Kinder) durch, um das Wohlergehen und die Entwicklung von Kindern in polyamoren Familien zu untersuchen. Ihre Untersuchung ergab, dass solche Konstellationen mehr Ressourcen für Kinder bieten, sei es im finanziellen, emotionalen oder persönlichen Bereich. Die Kinder selbst berichteten ihr, dass es hilfreich für sie ist, immer eine Ansprechperson zu haben und ihre Gefühle und Probleme offen ansprechen zu können.
Langsam ist meine soziale Batterie ziemlich alle. Um als polyamore Familie zu leben, muss man viel reden, vertrauen und gut organisieren. All das Diskutieren und Fühlen – das kostet Zeit und eben auch Kraft.
Während ich mir die Schuhe anziehe, frage ich, was alle heute abend noch vorhaben. Arne fährt heim, zu einer seiner Partnerinnen. Susa will noch Abendessen kochen, Rainer wird den Abwasch machen. „Und dann haben wir vielleicht noch Sex, wenn Energie da ist“, schmeißt Rainer hinterher. Susa lehnt ihren Kopf an seine Brust und sagt: „Heute eher nicht.“
Jetzt wirklich: Wie geht es den Kindern?!
Mit Erdbeeren für Lara bewaffnet, breche ich an einem heißen Mai-Nachmittag zum zweiten Mal nach Marzahn auf. Denn nach dem ersten Treffen hatte ich immer noch mehr Fragen als Antworten. Wie geht es denn nun den Kindern mit der Polyamorie?
Lara steht schon an der Tür zu Susas Wohnung und begrüßt mich freudig. Sie hat sich die Haare rot gefärbt. Susa wirkt müde und Lyo ist noch in seinem Zimmer. Lara und ich suchen zusammen die Katze, während Susa Tiefkühllasagne in den Ofen schiebt. Diesmal ist Lara viel gesprächiger. Sie erzählt viel, etwa, dass sich ihre Mathenoten verbessert haben, sie einen kleinen Streit mit einer Freundin hatte und dass sie selbst auch schon mal eine feste Freundin hatte, die sie vor dem Klassenlehrer geküsst hat. Wenn ich sie nach ihrer Familie, ihrem Vater oder ihrer Vergangenheit frage, ignoriert sie die Frage, indem sie mir ein Spielzeug zeigt, plötzlich das Thema wechselt oder nach der Lasagne schaut.
Deshalb überrascht es mich, dass Lara ohne Zögern antwortet, als ich sie direkt frage, wie es ihr mit der aktuellen Familiensituation geht. „Nicht gut“, sagt sie bestimmt und studiert intensiv eine Erdbeere. Erst glaube ich, sie hätte die Frage falsch verstanden. Aber als ich nachhake, wiederholt sie, dass sie mit der Situation sehr unzufrieden ist. Sie mag Berlin nicht, sie mag die Wohnung nicht und hänge auch nicht sehr an Rainer oder Arne. Dafür vermisst sie das Familienleben in der Kleinstadt und ist sehr traurig, dass ihre Eltern getrennt sind. Die Polyamorie an sich interessiere sie nicht so sehr, damit habe sie kein Problem, meint sie. Aber sie wünscht sich, dass Rainer öfter mal etwas anderes als Bratkartoffeln kocht. Susa, die mithört, lacht auf. „Du bist süß“, sagt sie zu Lara. Lara versteht nicht, was ihre Mutter lustig findet. Es nervt sie, sagt Lara, wenn Lyo ständig Menschen vorbeibringt und komplizierte Wörter verwendet. Sie will nicht so viele Leute um sich herum haben. Susa sagt, dass Lara das große Haus und den Garten im Dorf vermisst.
Mittlerweile ist Lyo zu uns gestoßen und sitzt mit gebückter Haltung mit uns am Esstisch. Er sagt, er habe gerade Angst vor Menschen. Mit mir als Person habe das aber nichts zu tun, betont er. Er war während der schwierigen Trennung seiner Eltern schon älter und hat deshalb einen anderen Blick darauf als Lara. Die beiden hätten sich schon früher trennen sollen und hätten viele Entscheidungen und Entwicklungen nicht sehr gut kommuniziert, zum Beispiel den Umzug nach Berlin.
Lyos biologischer Vater S. wollte zu seiner Partnerin nach Berlin ziehen, Susa und die Kinder sind auch nach Berlin umgezogen. Lyo meint, gerade wegen dieser Zeit in Therapie zu sein. Susa erzählt mir später, dass diese Zeit auch so schwer für Lyo gewesen sei, weil Karin damals von einem gemeinsam geplanten Zusammenleben abgesprungen war. Sie hätten schon nach einem Haus gesucht, in dem sie alle gemeinsam zusammen leben würden: Susa, Rainer, Karin, H. und weitere Partnerinnen von Rainer sowie die Kinder. Lyo hatte sich auf eine große Familie eingestellt, Lara auf das neue Haus. Keines der Kinder habe erwartet, dass sie zu dritt in einer kleinen Wohnung in Marzahn landen würden. Weder Lyo noch Lara haben heute wirklich Kontakt zu Karin.
Vor Kurzem hat Laras Vater S. seine Partnerin geheiratet, für die er nach Berlin gezogen ist. Lara habe bei der Hochzeit geweint, erzählt sie, „weil nichts mehr so sein wird wie früher.“ Lyo sagt, er habe sich fast auf das Brautkleid übergeben. Die Trennung ihrer Eltern war für die beiden Kinder sehr schwierig, auch wenn sie diese verschieden wahrgenommen haben.
Susa will mir die Möglichkeit geben, mit den Kindern allein zu sprechen. Stillschweigend verlässt sie den Raum. Als wir allein sind, sagt Lara, dass sie normalerweise in ihr Zimmer geht, wenn ihre Mama nicht da ist. Sie fühle sich unwohl mit fremden Menschen, vor allem mit Männern und Ärzten. Auch Lyo möchte ungern allein mit Fremden sein. Mir erzählen sie aber beide direkt und offen von dieser Angst, obwohl sie mich kaum kennen.
Lyo macht auf mich den Eindruck, noch zutiefst in der Findungsphase der eigenen Identität zu sein. Ob man jetzt zusammen oder nur befreundet sei, spiele in seinem Freundeskreis genauso wenig eine Rolle wie das Geschlecht, sagt er. „Wir benutzen solche Label eigentlich nur noch ironisch. Man stellt sich einfach mit seinem Namen und den Pronomen vor und das wars dann.“ Begeistert erzählt er, dass Susa mit der Polyamorie „heteronormative Beziehungen überwindet.“ Susa und Rainer findet Lyo aber trotzdem spießig. Unter anderem deswegen, weil sie Konzepte wie „Geschlecht“ verwenden.
Mir wird klar, wie unterschiedlich die beiden Kinder sind. Lara vermisst die Dorfidylle. Lyo, rauchend, tätowiert und nicht-binär, hat Berlin voll angenommen.
Sie nennen verschiedene Menschen Papa, haben tiefere Bindungen mit verschiedenen Partnern ihrer Mutter. Lara sagt, sie sei unzufrieden, wirkt aber lebensfroh und unbeschwert. Lyo sagt, dass er die aktuelle Situation sehr mag, ist aber depressiv und wirkt etwas verloren.
Susa, Lyo und ich gehen raus, um mich zur S-Bahn zu bringen und Lara mehr Erdbeeren zu besorgen. Lyo raucht eine selbstgedrehte Zigarette und balanciert auf einer kleinen Betonerhebung neben dem Gehweg. Nach kurzer Zeit verabschiedet er sich, um Rainer zu Hause zu treffen.
An der S-Bahn frage ich Susa dann nochmal konkret: „Was macht ihr, damit sich Lara mit der Situation wohler fühlt?“ Sie erzählt mir, dass sie als Familie schon mal eine Therapie gemacht haben und auch, dass sie regelmäßig Familienkonferenzen abhalten. Dabei setzen sie sich zu dritt oder zu viert mit Rainer zusammen und sprechen über Gefühle und offene Fragen. Bei solchen Treffen geht es auch um die Frage, wie es mit ihnen als Familie weitergeht: Wo sollen sie wohnen, wer darf zu ihnen nach Hause kommen, was wünschen sie sich von den anderen? Was nicht zur Debatte steht, ist Susas Freiheit, ihr Leben so zu leben, wie sie es will – zum Beispiel polyamor.
Wer hat recht?
Ich verabschiede mich, springe in die leere S-Bahn und bin plötzlich mit all den Eindrücken allein. Hat mein Partner recht, wenn er sagt, monogame Familienkonstellationen sind besser für die Kinder? Ich würde immer noch sagen: Nein.
Bei diesen zwei Treffen habe ich die Kinder als komplexe Persönlichkeiten wahrgenommen, die keine Scheu vor Schwierigkeiten haben und der Welt offen gegenüberstehen. Ich habe gesehen, dass sie beide eine zutiefst innige Beziehung zu ihrer Mutter haben. Ich habe auch einen Einblick in den Balanceakt bekommen, den Susa jeden Tag lebt: Sie versucht, eine gute Mutter zu sein, ohne dabei ihre individuelle Entfaltung aufzugeben. Mir scheint, dass in dieser Familie jede:r mit allen Eigenarten respektiert und geschätzt wird. Das gefällt mir.
Natürlich ist das nur eine Familie, die beispielhaft für diesen Lebensentwurf steht. Elisabeth Sheff schreibt in einer Artikelreihe für das US-amerikanische Magazin „Psychology Today“, die auf den Ergebnissen ihrer Langzeitstudie basiert, über die Vor- und Nachteile für Kinder in Poly-Familien. Vieles davon kommt mir jetzt bekannt vor: Wie Lara beschweren sich viele der befragten Kinder am meisten darüber, dass zu viele Erwachsene auf sie aufpassen. Sie hätten nicht genug Privatsphäre und fühlten sich zu stark überwacht. Außerdem klagen sie über das häufig komplexe Familienleben und dass sie sich ihrer ungewöhnlichen Familie wegen von Außenstehenden stigmatisiert fühlen. Einige wünschten sich, wie Lara, eine „normale“ Familie zu haben.
Als Vorteile nannten die Kinder, dass sie mehr Geschenke zu Geburtstagen bekommen, mehr Unterstützung bei Schulaufgaben und Hobbys und mehr neue Spielkamerad:innen. Die Kinder schätzen aber auch die offene Kommunikation, die emotionale Intimität und das Vertrauen zu ihren Eltern. Oftmals beschreiben diese Kinder das Verhältnis Gleichaltriger zu ihren Eltern als misstrauisch, angespannt und wütend. In Poly-Familien, schreibt Sheff, entwickelten Kinder eine hohe emotionale Widerstandsfähigkeit und Offenheit.
Einige Wochen nach meinem zweiten Besuch, spaziere ich mit meinem Partner, der sich Kinder nur in monogamen Beziehungen vorstellen kann, und dessen zwei Katzen in einem Park. Ich erzähle ihm von meinem Besuch und dem Eindruck, den ich von der Familie und deren Eigenarten habe. Auch die Untersuchung von Elisabeth Sheff erwähne ich. Er ist überrascht und will die Studie unbedingt lesen.
Ich frage ihn, ob das seine Meinung ändert. „Sorry, aber nicht wirklich“, antwortet er. Ein Familienleben solle einfach sein, das ist ihm das Wichtigste. Ich sage, dass alle Beziehungen, in denen Liebe und Sex eine Rolle spielen, kompliziert sein können – auch monogame. Vielleicht wäre es am Ende am besten, mit platonischen Freund:innen Kinder zu haben? „Ich wusste nicht, dass das geht“, sagt mein Partner nachdenklich.
Redaktion: Thembi Wolf und Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert