Am Samstag kamen knapp 13.000 Menschen zum „Aufstand für Frieden“ in Berlin. Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht und Publizistin Alice Schwarzer hatten die Großkundgebung initiiert. Sie forderten eine sofortige Verhandlungslösung des Krieges und einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine. Vor zwei Wochen haben die beiden eine Online-Petition gestartet, die knapp 700.000 Menschen unterschrieben haben.
Darum geht es heute in meinem Newsletter. Außerdem beantworte ich die Leserinnenfrage, ob die Ukraine eine Demokratie ist. Und wie jede Woche bekommst du auch eine Portion Hoffnung von mir.
Um ehrlich zu sein, wollte ich zuerst nicht darüber schreiben. Ich habe die Argumente von Schwarzer und Wagenknecht schon mehrmals erklärt und teilweise widerlegt. Außerdem habe ich das Gefühl, dadurch Positionen Raum zu geben, die so viel Aufmerksamkeit nicht verdienen. Auf der anderen Seite begegnen mir diese Meinungen immer wieder, bei Familientreffen, in der Kneipe oder in euren Mails. Deshalb kann ich es nicht einfach ignorieren.
Warum verhandeln die Ukraine und Russland nicht einfach?
Schwarzer und Wagenknecht legen durch ihre Argumentation nahe, dass man den Krieg und das Leid in der Ukraine ganz einfach durch Verhandlungen beenden könne – und dass nur der politische Wille dazu fehle. Bei ihrer Rede auf der Kundgebung forderte Wagenknecht Kompromissbereitschaft „von beiden Seiten“. Und Schwarzer erklärte der Bild-Zeitung, dass man verhandeln müsse: „Jetzt sagen Sie mal Ihren Preis und dann sage ich meinen Preis.“ Das sei ja auch „auf dem Markt“ so. Doch diese Argumentation ist so vereinfachend, dass sie fast schon lächerlich ist. Und sie blendet mehrere Punkte aus.
Erstens sind die Ukrainer:innen nicht kompromissbereit. Umfragen zeigen regelmäßig, dass ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung keine territorialen Zugeständnisse an Russland machen möchte. Nach aktuellen Zahlen des Kyiv International Institute for Sociology sind 87 Prozent der Befragten der Meinung, dass die Ukraine auf gar keinen Fall Gebiete abgeben sollte, auch wenn das bedeutet, dass der Krieg länger dauert.
Schwarzer und Wagenknecht behaupten immer wieder, sie wollten „das Sterben beenden“. Doch nur weil die Kriegshandlungen vorbei sind, ist das Sterben nicht vorbei. Denn wir wissen aus Orten wie Donezk oder Butscha, dass Ukrainer:innen auch in von Russland besetzten Gebieten sterben. Die Argumentation von Schwarzer und Wagenknecht geht also nicht nur an den Interessen der Ukrainer:innen vorbei, sondern auch an der Realität.
Zweitens ist eine Verhandlung wie „auf dem Markt“ nicht das, was Wladimir Putin will. Russland führt gerade einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, greift Krankenhäuser, Schulen und Theater an, ermordet und foltert Zivilist:innen und deportiert Ukrainer:innen nach Russland. Das alles spricht dafür, dass Russland mit einem Stückchen Ukraine nicht einfach zufrieden wäre, selbst wenn die Ukraine niemals Teil der Nato werden würde.
Wagenknecht behauptet in ihrer Rede, dass die Friedensverhandlungen vor einem knappen Dreivierteljahr „nicht an der russischen Seite gescheitert sind“. Das ist falsch, wie diese Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik zeigt. Die Verhandlungen sind an russischen Kriegsverbrechen in den Vororten von Kyjiw gescheitert und daran, dass Russland politisch unwichtige Personen in die Verhandlungen schickte. In der Analyse steht: „Die bisherigen Verhandlungen zeigen, dass es vor allem Moskaus Kriegsführung und seine Herangehensweise an Verhandlungen sind, die eine diplomatische Lösung untergraben.“
Und drittens suggerieren Wagenknecht und Schwarzer, dass es ein Entweder-oder zwischen Verhandlungen und Waffenlieferungen gibt. Also: Entweder liefert man Waffen und befeuert dadurch den Krieg oder man verhandelt für einen Frieden. So die Logik. Dabei können Waffenlieferungen zukünftige Verhandlungen ermöglichen. Indem nämlich die Ukraine dadurch in eine bessere Position kommt und Russland sich gezwungen sieht, an ernsthaften Verhandlungen teilzunehmen. Waffenlieferungen und Friedensgespräche – das ist nicht unbedingt ein Gegensatz.
Die Frage der Woche
KR-Leserin Annina fragt: „Ist die Ukraine zur Zeit eine demokratische Gesellschaft?“
Kurz gesagt: Ja, die Ukraine ist eine Demokratie, aber mit Fehlern und Problemen. Auf dem Democracy Index des britischen Magazins The Economist landete die Ukraine 2022 auf Platz 87 von 167. Das ist nicht besonders gut, aber auch nicht besonders schlecht.
Seit dem Euromaidan 2014 hat sich der Demokratie-Wert der Ukraine langsam aber stetig verbessert. Trotzdem gab es immer wieder Kritik. Die Autor:innen des Democracy Index sehen die Probleme in der Korruption, der unfreien Justiz und Unregelmäßigkeiten bei Wahlen. Das öffentliche Vertrauen in die Politik war viele Jahre sehr gering und Wolodymyr Selenskyj wurde nach zwei Jahren im Amt vorgeworfen, dass er immer mehr Macht beim Präsidialamt bündele.
Der russische Großangriff hat die Situation weiter verschlechtert – einerseits. Auf der anderen Seite hat die Invasion das Verhältnis der Ukrainer:innen zum Staat grundlegend geändert: Sie vertrauen dem Staat jetzt mehr, wie ich schon letzte Woche in meinem Newsletter erklärt habe. Der Krieg hat also zur Demokratisierung des Landes beigetragen.
Viele sehen den russischen Krieg gegen die Ukraine als einen Kampf zwischen Autoritarismus und Demokratie, beispielsweise die Menschenrechtlerin und Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk. Sie sagte kürzlich, dass die Ukraine für Unabhängigkeit und Demokratie kämpfe.
Russland steht auf dem Democracy Index ziemlich weit unten und hatte sogar die größte Verschlechterung im Vergleich zum Vorjahr. Im weltweiten Ranking fiel Russland von Platz 124 auf Platz 146. Nur ein Land in Europa schneidet noch schlechter ab: Belarus.
Der Link der Woche
Wer in der Öffentlichkeit steht, kriegt oft Hass und Beleidigungen ab. Russlands Krieg gegen die Ukraine scheint viele Menschen besonders emotional zu machen und Expert:innen, die in Talkshows auftreten oder Interviews geben, haben danach ein E-Mail-Postfach voller Gemeinheiten. Besonders schlimm trifft es Menschen, die einer diskriminierten Gruppe angehören, zum Beispiel Frauen oder Schwarze.
Einige besonders prominente Expert:innen wollten sich wehren. Sie organisierten eine Podiumsdiskussion, wo sie über diese täglichen Angriffe sprachen. Das Beste daran: Drei Schauspieler:innen lasen die Hassnachrichten vor. Das ist erschütternd, aber gleichzeitig auch ziemlich witzig. Die Veranstaltung heißt „Gut das du russenhassende Emanze wieder deinen Kriegshetzsenf dazu gibst“ und ihr könnt sie auf Youtube nachschauen.
Übrigens kriege ich auch immer wieder, nun ja, unfreundliche Nachrichten. Die Absender:innen werfen mir vor, zu lügen oder Propaganda zu verbreiten. Aber die meisten von euch schreiben mir konstruktive Kritik oder bedanken sich sogar. Das freut mich immer sehr!
Die Hoffnung der Woche
Am Freitag jährte sich der russische Großangriff auf die Ukraine. An diesem Tag gingen in ganz Deutschland aus Solidarität mit der Ukraine auf die Straße, unter anderem in Dresden, Köln, München und Berlin. Ein Zeichen, das Ukrainer:innen viel bedeutet, wie dieser Tweet von einer ukrainischen freiwilligen Helferin zeigt:
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert