Seit Russland am 24. Februar 2022 die gesamte Ukraine angegriffen hat, schaut die ganze Welt auf diesen Krieg. In dieser ungewohnten Lage hattet ihr, die Krautreporter-Leser:innen, zahlreiche Fragen. Ich schreibe deshalb seit fast einem Jahr den Newsletter „Ukraine verstehen“. Darin nehme ich jede Woche auf, was euch gerade beschäftigt. Welchen Medien kann man trauen? Wird Deutschland zur Kriegspartei, wenn die Bundesregierung Waffen liefert? Wie kann der Krieg enden? Wird jemals alles wieder gut?
Viele eurer Fragen haben sich am aktuellen Geschehen orientiert; die Antworten haben ihre Gültigkeit verloren. Andere aber stellen sich so oder ähnlich auch noch nach einem Jahr im Krieg. Diese 33 Fragen und die dazugehörigen Antworten habe ich hier für euch gesammelt und aktualisiert. Das ist keine Chronik, sondern geballtes Wissen nach einem Jahr Krieg. Falls dir das gefällt: Hier kannst du meinen kostenlosen Newsletter abonnieren.
Berichterstattung: Welchen Medien kann man trauen?
Warum interessiert uns dieser Krieg so besonders? Warum thematisieren die Medien andere Kriege weniger stark, zum Beispiel die im Jemen oder in Syrien? (Mario, Mai 2022)
Eine Antwort auf diese Frage ist: Weil die Situation so klar ist und wir wissen, auf welcher Seite wir stehen wollen. Russland hat die Ukraine, einen souveränen Staat, angegriffen. Es gibt keine weiteren Kriegsparteien und die Ukraine verteidigt sich. Bei vielen anderen Kriegen ist das Geschehen unübersichtlich, und es gibt mehrere Kriegsparteien. In der Ukraine ist die Lage einfach zu verstehen und deshalb fällt es vielen leicht, sich mit den Ukrainer:innen zu solidarisieren.
Außerdem liegt der Großangriff vergleichsweise noch nicht so lange zurück. Viele Kriege ziehen sich über Jahre hin: In Syrien begann er 2011, also vor rund zwölf Jahren. Die öffentliche Aufmerksamkeit für bestimmte Ereignisse nimmt mit der Zeit ab. Das macht das Leid der Bevölkerung natürlich nicht weniger schrecklich, doch es ist normal, dass wir uns stärker für das interessieren, was noch nicht so lange zurückliegt.
Hinzu kommt die Nähe. Geographisch ist uns der Krieg in der Ukraine näher als etwa der Krieg in Syrien oder im Jemen. Und auch wenn die Nato keine Kriegspartei ist, so liefern dennoch Nato-Mitgliedstaaten Waffen an die Ukraine. Wir sind also stärker beteiligt als an anderen Kriegen. Dazu kommt, dass viele Deutsche Angst haben, dass sich der Krieg nach Westeuropa ausbreitet und fürchten, dass Russland Atomwaffen einsetzt. Das große Interesse am Krieg in der Ukraine hängt also mit der eigenen Angst und der eigenen Betroffenheit zusammen.
Durch das Internet können wir diesen Krieg so gut verfolgen wie keinen zuvor. Wie sich die Ukrainer:innen fühlen, was sie sehen und hören, all das können wir über Instagram, Twitter und Tiktok beinahe zeitgleich mitverfolgen. Das holt uns den Krieg nach Deutschland ins eigene Wohnzimmer. Ein Teil der Erklärung ist aber auch unser eigener Rassismus. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft hat mehr Mitgefühl für weiße, christlich-orthodoxe Ukrainer:innen als für muslimische Jemeniter:innen oder Syrer:innen.
Ich weiß, dass nicht alle Informationen verifizierbar sind und beide Seiten Falschinformationen verbreiten können. Ich glaube zwar nicht, dass es eine allumfassende Wahrheit gibt, hätte aber gerne Hilfe bei der Einordnung. Wie kann man die Wichtigkeit der Medien in diesem Krieg bewerten? (Günter, Januar 2023)
Ich bin zwar ein Teil der Medien und muss das jetzt sagen, aber: Ich glaube wirklich, dass die meisten Medien aus demokratischen Ländern einen guten Job machen. Trotzdem gibt es Grenzen der Berichterstattung. Und gerade in einem Krieg ist es schwer, bestimmte Informationen zu verifizieren.
1. Hab Geduld
Das Kriegsgeschehen kann sich schnell ändern, beispielsweise wenn es darum geht, ob eine bestimmte Stadt von Russland besetzt oder von der Ukraine zurückerobert wurde. Seriöse Medien kennzeichnen normalerweise, wenn eine Information noch nicht gesichert ist. Hier ist es sinnvoll, erst mal abzuwarten und sich ein paar Tage später noch einmal zu informieren: Meistens ist die Situation dann klarer und Reporter:innen konnten sich vor Ort ein Bild machen.
2. Vertraue unabhängigen Quellen
Bestimmte Dinge verschweigen die Ukraine und Russland absichtlich oder stellen sie nicht ganz korrekt dar. Darunter gehört vor allem die Zahl der getöteten und verletzten Soldat:innen. Das hat strategische Gründe: Beide Länder wollen ihre wahren Verluste verschleiern und die Moral ihrer Truppen aufrechterhalten. Seriösen Medien ist das aber bewusst und sie würden diese Zahlen nicht einfach so übernehmen. Etwas vertrauenswürdiger sind hier die Zahlen von Außenministerien und Geheimdiensten aus anderen Ländern, etwa den USA oder Großbritannien. Die Vereinten Nationen veröffentlichen regelmäßig Schätzungen zur Zahl getöteter Zivilist:innen.
Vertrauenswürdige Medien stützen sich nicht nur auf die offiziellen Aussagen der ukrainischen und russischen Regierung. Sie analysieren Videos, befragen Wissenschaftler:innen, Zivilist:innen und humanitäre Organisationen oder haben selbst Reporter:innen vor Ort. All das sind Hinweise, dass die Zeitung oder der Sender einen ordentlichen Job macht.
3. Schütze dich vor Propaganda
Es stimmt, dass sowohl Russland als auch die Ukraine Falschinformationen verbreiten können. Trotzdem finde ich hier eine Unterscheidung zwischen Russland und der Ukraine wichtig: Russland hat eine Propagandamaschine aufgebaut, die Andersdenkende verfolgt und unabhängige Berichterstattung in Russland unmöglich macht. Oppositionelle und unabhängige Journalist:innen sind im Gefängnis oder im Exil. Russische Staatsmedien sind also eine schlechte Quelle, dazu gehören auch die deutschsprachigen Ableger wie RT oder Sputnik.
In der Ukraine dagegen ist eine unabhängige Berichterstattung möglich. Beispielsweise haben Journalist:innen der Zeitungen Dserkalo Tyschnja und Ukrajinskaja Prawda einen Korruptionsskandal in der Regierung aufgedeckt – und Wolodymyr Selenskyj bedankte sich sogar dafür.
Das bedeutet natürlich nicht, dass deutsche Medien alles einfach übernehmen, was die ukrainische Regierung oder ukrainische Medien sagen. Ein Beispiel dafür ist der Raketeneinschlag in Polen im vergangenen November, bei dem zwei Menschen starben. Es handelte sich um eine ukrainische Flugabwehrrakete. Trotzdem sprach Selenskyj noch tagelang von einer russischen Rakete, obwohl es dafür keine Beweise gab. Internationale Medien hingegen beriefen sich auf Expert:innenmeinungen, die die Flugbahn und die Bauart der Rakete berücksichtigten. Auch in solchen Fällen ist es sinnvoll, erst mal abzuwarten und sich zu überlegen, wie plausibel die Erklärungen von Expert:innen und Medien sind.
Wieso ist es so schwierig, verlässliche Informationen über den Krieg in der Ukraine zu erhalten? In den Nachrichten werden sehr oft die Worte „mutmaßlich“ oder „vermeintlich“ verwendet. (Alex, März 2022)
Nicht alle Medien haben Reporter:innen direkt vor Ort. Auch ich schreibe diesen Newsletter von meiner Kölner Wohnung aus und nicht aus ukrainischem Kriegsgebiet. Wer über aktuelle Ereignisse berichten will, muss sich also auf Erzählungen von Augenzeug:innen, Fotos und Videos verlassen. Und ja, die können gefälscht sein oder etwas aus dem Zusammenhang reißen.
Beide Kriegsparteien haben ein Interesse daran, sich als möglichst erfolgreich darzustellen. Ihre Angaben sind also nicht immer vertrauenswürdig.
Dazu kommt: Die Lage kann sich minütlich ändern, aber eine Information zu verifizieren, kostet Zeit. Wenn beispielsweise eine Stadt angegriffen wird und es Tote und Verletzte gibt, entscheiden die meisten Medien, dass sie darüber trotzdem schnell berichten wollen – und schreiben dann ein „mutmaßlich“ dazu.
Wladimir Putin: Wer steht hinter ihm?
Ist es wirklich Putin als Person, der diesen Krieg führt? Oft lese ich: ‚Putins Krieg in der Ukraine‘. Überhöht ihn das nicht? Ist das russische System wirklich so, dass er das durchziehen kann, nur weil er will? (Larissa, März 2022)
Als mir diese Frage im März 2022 zum ersten Mal gestellt wurde, antwortete ich, dass einiges dafür spricht, dass Putin immer mehr Macht und Entscheidungsgewalt bei sich selbst bündelt. Schließlich haben Menschenrechtler:innen, Politiker:innen und Journalist:innen schon seit Jahren davon gesprochen, dass sich Russland zu einer Diktatur wandelt. Auch ich hatte darüber einen Text geschrieben.
Damals fand ich die Formulierung „Putins Krieg“ deshalb angebracht, weil sie betont hat, dass nicht alle Russ:innen hinter diesem Krieg stehen. Einige haben sogar Verhaftungen, Haftstrafen und Gewalt riskiert, um dagegen zu protestieren.
Heute ist die Lage anders. Wir wissen, dass eine stillschweigende Mehrheit in Russland den Krieg zumindest akzeptiert. Viele sind der Propaganda auch ganz verfallen und unterstützen den Krieg aktiv. Deshalb verwende ich den Ausdruck „Putins Krieg“ nicht mehr. Dazu passt auch die Antwort auf die nächste Frage.
Wie stark steht die russische Bevölkerung noch hinter dem Krieg? (Rebecca, Januar 2023)
Grundsätzlich ist es schwierig, in autoritären Ländern herauszufinden, was die Menschen wirklich denken. Denn viele Menschen haben Angst, an Umfragen teilzunehmen. Oder sie geben nur solche Antworten, von denen sie denken, dass sie von ihnen erwartet werden. Trotzdem gibt es einigermaßen verlässliche Zahlen, die zumindest ein ungefähres Bild vermitteln, was Russ:innen über den Krieg gegen die Ukraine denken. Als wichtigstes unabhängiges Umfrageinstitut in Russland gilt das Lewada-Zentrum.
Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums aus dem Dezember 2022 unterstützen 71 Prozent der Befragten die „Handlungen der russischen Streitkräfte in der Ukraine“. 48 Prozent sind der Meinung, dass weiter gekämpft werden sollte, 44 Prozent sprechen sich für Friedensverhandlungen aus.
Die Menschen in Russland wissen, dass die russische Armee einen brutalen Krieg gegen die Ukraine führt. Zwar leugnet Russland weiterhin Kriegsverbrechen, etwa in Butscha, und es ist offiziell immer noch verboten, das Wort „Krieg“ zu benutzen. Doch hat Wladimir Putin inzwischen selbst schon von einem „Krieg“ gesprochen und das staatliche Fernsehen zeigt, wie die russische Armee ukrainische Städte bombardiert. Dafür verantwortlich fühlt sich die Mehrheit der Russ:innen aber nicht: 59 Prozent sind der Meinung, dass sie keine moralische Verantwortung für die Zerstörung und für den Tod von Zivilist:innen in der Ukraine tragen.
Lew Gudkow, Chef des Lewada-Zentrums, hat in einem Interview gesagt: „Die Russen haben kaum Mitgefühl mit den Ukrainern.“ Sie kritisierten zwar den Krieg, aber nicht wegen des Leids der Ukrainer:innen, sondern weil die „Spezialoperation“ nicht nach russischem Plan verlaufe. Denn auch das ist längst kein Geheimnis mehr: Selbst in den Talkshows des russischen staatlichen Fernsehens werden die herben Niederlagen der russischen Armee diskutiert.
Warum hört man nichts von den Kirchen? Es ist bekannt, dass Putin Rückhalt in der russisch-orthodoxen Kirche hat, aber wie kann diese zusehen, wie er Krieg gegen die ebenfalls orthodoxe Ukraine führt? (Christian, März 2022)
Die Antwort darauf ist etwas komplizierter und hat nicht nur mit Glaube, sondern auch mit Macht zu tun. Von den orthodoxen Kirchen hört man durchaus etwas – beide ukrainischen orthodoxen Kirchen verurteilen den russischen Angriff. In Russland sieht es anders aus: Patriarch Kyrill ist das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche und rechtfertigt öffentlich die „Militäroperation“, wie er sie nennt.
In seiner Sonntagsrede am 6. März 2022 hat er einen Grund für den Angriff genannt: „Schwulenparaden“. In den vergangenen Jahren hatte es in der Ukraine, wenn auch unter Einschränkungen, Gay-Pride-Paraden gegeben. In Russland ist das verboten.
Kyrill hat auch schon die Annexion der Krim befürwortet. Warum tut er das? Weil der Patriarch die Idee der „Russkij mir“, der „Russischen Welt“, unterstützt. Das ist ein Kulturkonzept, das eine ostslawische Identität und die gemeinsame Sprache Russisch betont. Für Kyrill gehört dazu auch die Vorstellung einer gemeinsamen orthodoxen Kirche.
Eine kleine Gruppe russisch-orthodoxer Kleriker:innen hat sich allerdings auf die Seite ihrer ukrainischen Glaubensbrüder und -schwestern gestellt. In einem offenen Brief riefen die 286 Unterzeichner:innen zu einem Waffenstillstand auf. Sie riskieren damit Repressalien und Verfolgung.
Wie und warum hat der syrische Diktator Baschar al-Assad seine Finger im Spiel? (Maike, November 2022)
Wladimir Putin und Baschar al-Assad sind schon seit Jahren Verbündete. 2015 griff Russland in den Krieg in Syrien ein und stellte sich auf die Seite Assads. Putin half Assad damals, die Aufstände der Menschen in Syrien niederzuschlagen und dessen Position als Diktator zu sichern.
Russland nahm dabei keine Rücksicht auf die syrische Zivilbevölkerung. Im Gegenteil: Die russischen Streitkräfte bombardierten absichtlich zivile Ziele, wie Schulen und Krankenhäuser und versuchten, die Bevölkerung zu zermürben. Verantwortlich dafür war unter anderem Sergej Surowikin, der 2017 und 2019 die russischen Streitkräfte in Syrien befehligte. Er ist bekannt für seine Brutalität und seine Rücksichtslosigkeit. Er war einige Monate lang Oberbefehlshaber des Feldzuges in der Ukraine – offenbar führt Surowikin seine Strategie in der Ukraine fort. Syrien war so eine Art Übungsplatz für Russland: Die russische Armee konnte dort verschiedene Waffen testen und Soldaten konnten Kampferfahrung sammeln.
Das Ziel Putins war es damals vermutlich, seinen Einfluss in der Region zu sichern. Vor allem die Rolle Russlands gegenüber den USA sollte so gestärkt werden. Das ist auch gelungen: Heute hat Putin mit Assad einen wichtigen Verbündeten im Nahen Osten. Und auch im Krieg gegen die Ukraine hält Syrien zu Russland.
Beispielsweise erkannte Syrien die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten an, gemeinsam mit Russland und Nordkorea. Wenn man auf die Seite der syrischen staatlichen Nachrichtenagentur SANA schaut, findet man ungefilterte russische Propaganda, zum Beispiel ist dort von der „russischen Spezialoperation in der Ukraine“ die Rede. Im März 2022 behauptete Russland, 16.000 Kämpfer aus dem Nahen Osten für den Krieg gegen die Ukraine mobilisiert zu haben. Ob diese Zahl stimmt, ist unklar. Klar ist aber: Syrien unter Assad steht fest an Russlands Seite.
Propaganda: Was kann man glauben?
Sind wir einer ‚westlichen Propaganda‘ ausgeliefert? (Birgit, Juni 2022)
Immer öfter lese oder höre ich Aussagen wie: „Auch die Ukraine betreibt Propaganda.“ „Die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst.“ Oder: „Wir haben im Westen unsere eigene Propaganda.“ Ich finde diese Vergleiche gefährlich. Die russische Propaganda hat mit Journalismus in Deutschland und anderen demokratischen Staaten nichts zu tun.
Schauen wir uns zunächst an, was Propaganda eigentlich ist. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt: „Propaganda ist der Versuch der gezielten Beeinflussung des Denkens, Handelns und Fühlens von Menschen.“ Propaganda habe deshalb immer ein bestimmtes Interesse, zum Beispiel die Bevölkerung von einem Krieg zu überzeugen. Propaganda wird meist mit totalitären oder autoritären Staaten in Verbindung gebracht, in denen Medien zensiert und Andersdenkende verfolgt werden.
In Deutschland ist all das nicht der Fall. Ein Beispiel: Hier können auch sogenannte Querdenkerinnen und Impfgegner demonstrieren gehen. In Russland dagegen wurden allein in den ersten Wochen nach der Invasion Zehntausende verhaftet, die gegen den Krieg demonstriert haben. Es reicht aus, ein weißes Blatt Papier hochzuhalten, um von der Polizei abgeführt zu werden. Westliche Staaten wollen ihre Bevölkerung nicht davon überzeugen, dass der Krieg in der Ukraine sinnvoll ist. Im Gegenteil: Hier wünscht sich wohl jeder normale Mensch, dass der Krieg sofort zu Ende geht. Russland dagegen betont im staatlichen Fernsehen und auf staatlichen Nachrichtenseiten immer wieder, warum die „Spezialoperation“ in der Ukraine notwendig sei.
Russische Medien lügen. Sie behaupten zum Beispiel, dass die Ukraine Mariupol selbst zerstört habe, viele Deutsche nach Russland auswandern wollen und Polen die Ukraine annektieren will. Wer beispielsweise für RT arbeitet, ein russischer staatlicher Sender in der EU, muss bestimmte Formulierungen übernehmen oder Videoausschnitte gezielt manipulieren. Das beweisen Screenshots, E-Mails und Gespräche mit Mitarbeitenden. Die Zeit und der Spiegel haben das recherchiert.
Westliche Medien lügen nicht systematisch. Journalist:innen machen manchmal Fehler, ja. Aber sie behaupten keinen Unsinn, um die Bevölkerung zu manipulieren.
Die Ukraine ist auf Waffenlieferungen angewiesen. Deshalb hat sie natürlich Interesse an internationaler Aufmerksamkeit und Wohlwollen. Das bedeutet aber nicht, dass ukrainische Medien Propaganda betreiben, also absichtlich lügen und die Bevölkerung manipulieren wollen. Westliche Medien übernehmen auch nicht einfach so ukrainische Angaben. Wenn sie etwas nicht durch eine andere Quelle überprüfen können, kennzeichnen sie das entsprechend.
Das Gefühl, überhaupt nichts glauben zu können, ist ein Narrativ, das der Kreml gezielt verbreitet. Die Taktik nennt sich „Flooding the zone“ und funktioniert so: Man verbreitet so viel Desinformation, die sich noch dazu widerspricht, dass die Bevölkerung am Ende verwirrt ist und nicht mehr weiß, was sie glauben soll. Zurück bleibt nur das Gefühl, dass es unmöglich ist, die Wahrheit zu erfahren. Wenn du diese Taktik besser verstehen willst und lernen möchtest, wie man sich dagegen wehren kann, lies diesen Text meines Kollegen Benjamin Hindrichs.
Wer also sagt, dass wir „westlicher Propaganda“ ausgeliefert sind, übernimmt dieses Narrativ, wenn auch unbewusst. Natürlich haben alle Länder verschiedene Perspektiven auf den Krieg, weil sie unterschiedlich davon betroffen sind. Aber unterschiedliche Sichtweisen zu haben, hat mit Propaganda nichts zu tun.
Ich frage mich, was es mit den ‚Nazis‘ in der ukrainischen Regierung auf sich hat. (Marc, März 2022)
Die russische Regierung versucht, ihren Angriff auf die Ukraine damit zu rechtfertigen, dass in der Ukraine Nazis die Macht übernommen hätten. Nazis sind in Russland ein uraltes Feindbild. Der Sieg über die Nazis im Zweiten Weltkrieg ist Teil einer nationalen Heldenerzählung. Die „Spezialoperation“ in der Ukraine solle dazu dienen, die Ukraine zu „entnazifizieren“.
Ich kann dir ganz klar sagen: Die Ukraine ist nicht in der Hand von Nazis. Zwar gibt es nationalistische Ukrainer:innen, aber die rechtsradikalen Parteien „Swoboda“ und „Prawyj Sektor“ scheiterten bei den Parlamentswahlen 2019 an der Fünf-Prozent-Hürde. Und Präsident Selenskyj ist selbst Jude – drei Brüder seines Großvaters wurden im Holocaust ermordet.
Wie kann man die Menschen erreichen, die Putins Vorgehen befürworten? Wie kann man sie zum Nach- oder Umdenken anregen? (Alexander, Juni 2022)
Ähnliche Fragen stellen sich viele schon seit Beginn der Corona-Pandemie: Wie überzeugt man jemanden, der in einer Parallelwelt lebt? Meine Kollegin Theresa Bäuerlein hat in diesem Text darüber geschrieben, wie wir bessere Diskussionen führen können. Ihre Erkenntnis: Mit Argumenten, und mögen sie noch so gut sein, überzeugt man niemanden, der sich nicht überzeugen lassen will. Denn gegen Fakten sind Menschen resistent, wenn sie an eine bestimmte Sache glauben.
Ein Beispiel: Manche Menschen in Russland glauben ihren Angehörigen in der Ukraine nicht, dass Putin wirklich einen brutalen Angriffskrieg führt. Der Ukrainer Misha Katsurin hat so eine Erfahrung gemacht. Sein Vater lebt in Russland und glaubte ihm nicht, dass Russland die Ukraine bombardiert.
Katsurin gründete deshalb das Projekt Papa, pover, was „Papa, glaube mir“, bedeutet. Auf der Internetseite stehen auf Russisch und Englisch die häufigsten Falschinformationen – zum Beispiel, dass die Ukraine von Nazis beherrscht ist – und wie man empathisch darauf antworten kann. Außerdem ist dort auch erklärt, was man nicht tun sollte: die gleichen Tatsachen wiederholen, wütend werden oder das Gespräch dramatisch beenden. Man müsse zuhören, steht dort, und die Gespräche immer wieder führen.
Auf der Webseite ist auch der Mitschnitt eines Telefonats, das Katsurin mit seinem Vater geführt hat. Darin erzählt Katsurin von seinen persönlichen Erlebnissen, von seiner Angst, von der Oma, die sich vor Bombardierungen verstecken muss, von traumatisierten Kindern, die er selbst kennt. Am Ende sagt der Vater: „Ich glaube dir, Misha. Ich mache mir große Sorgen.“ Misha Katsurins Vater hat zwar nicht alle seine Glaubenssätze in einem Gespräch über den Haufen geworfen, aber teilweise seinen Blick auf den russischen Angriff verändert.
Das macht Hoffnung. Aber es funktioniert leider nicht immer. Wenn einem die Gegenseite nicht zuhören will, bringt auch empathische Kommunikation nichts mehr. Solche Gespräche können Zeit und Kraft rauben. Überlege dir deshalb gut, ob du die Energie dafür hast oder ob du lieber noch einmal genau darüber nachdenken möchtest, was du sagen willst.
Welchen Einfluss hatten die USA auf den Euromaidan? (Herbert, November 2022)
Der Euromaidan war eine Protestbewegung in der Ukraine in den Jahren 2013 und 2014. Was sie bedeutet, habe ich in diesem Newsletter beschrieben. Die russische Propaganda bezeichnet den Euromaidan meist als Putsch und nennt in diesem Zusammenhang eine Summe von fünf Milliarden US-Dollar, mit der die USA den Euromaidan finanziert haben sollen. Das ist falsch. Es handelt sich dabei um Fake News, eine häufig verbreitete Falschinformation.
Die Behauptung bezieht sich auf eine Äußerung von Victoria Nuland, der damaligen amerikanischen Staatssekretärin für Außenpolitik. Sie sagte, dass die USA fünf Milliarden US-Dollar in die Ukraine investiert hätten – allerdings über einen Zeitraum von rund 20 Jahren und nicht erst 2013 und 2014, um den Euromaidan zu finanzieren. Das Geld floss in Projekte, welche die Demokratie in der Ukraine fördern sollten: Antikorruptionsgruppen, Wahlbeobachtung, Umweltprojekte. Natürlich versuchen die USA, Projekte zu unterstützen, die ihren eigenen Werten und Interessen folgen. Das bedeutet aber nicht, dass die USA mal eben mit ein paar Milliarden Euro Massenproteste auf dem Maidan organisiert haben. Die Ukrainer:innen gingen damals von sich aus auf die Straße.
Sanktionen: Wie wirkt sich der Krieg auf die Menschen in Russland aus?
Was bedeuten die Sanktionen gegen Russland für jeden Einzelnen im täglichen Leben? Leider endet Solidarität meist, wenn es für einen ungemütlich wird. Ich fürchte, mit der Zeit wird es immer mehr „Putinversteher“ geben und die Ukraine wird sich selbst überlassen. (Christian, September 2022)
Russlands Invasion in der Ukraine trifft uns alle in unserem Alltag. Die Preise steigen so rasant wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr, die Inflationsrate in Deutschland knackt monatlich neue Rekorde. Die Neue Zürcher Zeitung zeigt mit täglich aktualisierten Grafiken, wie sich der Krieg auf die Wirtschaft in Deutschland auswirkt: Diesel kostete im Januar letzten Jahres noch weniger als 1,60 Euro pro Liter, in den folgenden Monaten waren es zu Höchstzeiten durchschnittlich mehr als 2,20 Euro. Der Preis für Erdgas stieg um mehr als das Dreifache, auch Lebensmittel wurden teurer.
Darunter leiden viele Menschen, vor allem Senior:innen, Arbeitslose und Alleinerziehende, denn sie können sich von ihrem Geld immer weniger leisten. Meine Kollegin Rebecca Kelber hat vor einiger Zeit Expert:innen gefragt, wie lange das noch so weiter geht. Für alle, die jetzt sparen müssen, hat sie hier Tipps gesammelt – der Artikel ist ohne Bezahlschranke.
Trotzdem ist die Solidarität mit der Ukraine groß. Im ZDF-Politbarometer aus dem September 2022 waren 70 Prozent der Befragten dafür, dass die deutsche Regierung die Ukraine weiterhin unterstützt, auch wenn das für uns mit hohen Energiepreisen verbunden ist. 21 Prozent wollen die Ukraine nicht unterstützen, mit dem Ziel, die Energiepreise zu senken. Diese Zahlen sind seit Juli konstant. 40 Prozent fordern eine stärkere militärische Unterstützung für die Ukraine, 30 Prozent wollen das Engagement konstant halten und 24 Prozent wollen der Ukraine militärisch weniger helfen.
Ende Januar hat die Bundesregierung nun entschieden, der Ukraine Kampfpanzer zu liefern, die sogenannten Leopard-2-Panzer. Die aktuelle Umfrage des ZDF zeigt: Während 54 Prozent der Befragten das richtig finden, sind 38 Prozent dagegen. Auch die Ukraine weiß, dass ihr Überleben vom Wohlwollen und den Waffenlieferungen westlicher Staaten abhängt und hat deshalb großes Interesse daran, militärische Erfolge vorzuweisen. Die ukrainischen Erfolge an der Front sind auch ein Signal an den Westen.
Was passiert mit den eingefrorenen Vermögen und Immobilien im Ausland, die Russen gehören? (Isabel, März 2022)
In der Fachsprache nennt man das Einfrieren von Konten „umfangreiches Verfügungsverbot“.
Die deutsche Bundesbank definiert es als die „Verhinderung jeglicher Form der Bewegung, des Transfers, der Veränderung und der Verwendung von Geldern sowie des Zugangs zu ihnen.“ Wenn es um ein Bankkonto geht, liegt das Geld also wie Tiefkühlpizza erstmal auf unbestimmte Zeit herum.
Allerdings ist nicht geregelt, wie lange die Konten gesperrt werden können. Theoretisch kann man Konten „auftauen“, im Extremfall können die Betroffenen nie wieder auf ihr Vermögen zugreifen. Beispielsweise gibt es Sanktionen, die seit der Annexion der Krim 2014 in Kraft sind.
Atomwaffen: Wie wahrscheinlich ist ihr Einsatz?
Müssen wir Angst vor einem Atomkrieg haben? Sind wir in Deutschland in Gefahr? (Anja, Juli 2022)
Tatsächlich ist die Gefahr eines Atomkriegs so hoch wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Davor warnt das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri in seinem aktuellen Jahresbericht. Obwohl die Zahl der atomaren Sprengköpfe 2021 leicht zurückgegangen war, erwartet das Institut im kommenden Jahrzehnt einen Zuwachs an Atomwaffen auf der Welt. Putin droht dem Westen seit Monaten mit Atomraketen und im russischen staatlichen Fernsehen spekulieren die Moderator:innen offen darüber, in wie vielen Sekunden man europäische Städte in Schutt und Asche legen könnte.
Doch das bedeutet nicht, dass nächste Woche die Welt untergeht. Russlands Strategiepapiere sehen den Einsatz von Atomwaffen nur dann vor, wenn die Existenz des Landes auf dem Spiel steht. Außerdem weiß Putin, dass der Einsatz von Atomwaffen einen Gegenschlag provozieren würde. Die Auswirkungen wären – auch für Russland – so gravierend, dass Putin sehr große Hemmungen haben dürfte, tatsächlich Atomwaffen einzusetzen.
Natürlich wirkt Putin in letzter Zeit nicht gerade friedliebend. Aber er weiß genau, was seine Drohungen auslösen: Er erpresst uns mit der Angst vor einem Atomkrieg. Diese Angst ist bis zu einem gewissen Grad berechtigt, aber sie ermöglicht Russland auch, einen Eroberungskrieg in unserer direkten Nachbarschaft zu führen. Die Atombombe ist in erster Linie eine politische Waffe und das weiß Putin ganz genau. Mehr Informationen findest du auch in unserem Zusammenhang „Was du über Atomwaffen wissen musst“.
Friedensbewegung: Gibt es das in der Ukraine?
Gibt es in der Ukraine eine linke Friedensbewegung, die Krieg kategorisch ablehnt und lieber Russland Zugeständnisse machen würde? (Lou, November 2022)
Gegen Krieg, gegen Waffen, für Frieden: Das gehört zu den Kernthemen linker Bewegungen und Parteien. Doch seit Russland die Ukraine angegriffen hat, haben Linke in West- und Osteuropa nicht mehr viel gemeinsam.
Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Politik und Abrüstung der Linkspartei, hält Waffenlieferungen an die Ukraine für „brandgefährlich“. Sahra Wagenknecht, eine der bekanntesten aber auch umstrittensten Linkenpolitiker:innen, sieht bei den USA eine Mitschuld, dass der Krieg gegen die Ukraine immer weiter eskaliere. Und Noam Chomsky, US-amerikanischer Sprachwissenschaftler und einer der bekanntesten Linken weltweit, sagte in einem Interview, dass die Krim „vom Tisch“ sei und meinte damit, dass sie russisches Territorium sein solle.
All das sind Positionen, die Ukrainer:innen, auch ukrainische Linke, heftig kritisieren. Doch der Zwiespalt geht noch tiefer. Zu einer linken Agenda gehört eigentlich, Imperialismus abzulehnen und die Mächtigen herauszufordern. Es hat deshalb Tradition, die Weltmacht USA zu kritisieren. Es war die Friedens- und Hippiebewegung, die in den 1960er Jahren gegen den Vietnamkrieg protestierte und es waren vor allem Linke, die den Krieg der USA gegen den Irak 2003 verurteilten. Und hier beginnt der Konflikt: Linke in Westeuropa und den USA konzentrieren sich auf amerikanischen Imperialismus und übersehen dabei den russischen Imperialismus, in Zuge dessen sich Russland die Ukraine unterwerfen will. Sie sehen die Nato-Osterweiterung als imperialistischen Vorstoß in Osteuropa und äußern Verständnis für Russland, das sich dadurch angeblich bedroht fühle. Die Ukrainer:innen dagegen schweben täglich in Lebensgefahr – und zwar wegen des russischen Imperialismus.
Die „eine Linke“ gibt es natürlich nicht. Linke Positionen sind ein Spektrum. Doch einige Menschen in diesem Spektrum sympathisieren mit sozialistischen Ideen und idealisieren deshalb in Teilen die Sowjetunion. Und hier beginnt das nächste Problem: Viele Menschen aus Westeuropa setzen das heutige Russland mit der damaligen Sowjetunion gleich, obwohl ja auch Länder wie Aserbaidschan, Belarus und eben die Ukraine Teil der Sowjetunion waren. Doch aus diesem Irrtum heraus sympathisieren viele westliche Linke mit dem heutigen Russland, das sie als Nachfolger der UdSSR begreifen.
Das können Ukrainer:innen – egal aus welchem politischen Lager – nicht verstehen. Denn sie verbinden mit der Sowjetunion Repressionen, wie etwa die Unterdrückung der ukrainischen Sprache, oder den Holodomor, eine Hungersnot, die Stalin absichtlich herbeiführte und bei der mindestens drei Millionen Ukrainer:innen starben.
Dazu kommt, dass Russland über linke Parteien versucht hat, die ukrainische Politik zu beeinflussen. Im März hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj deshalb elf Parteien mit Verbindungen zu Russland für die Dauer des Krieges verboten. Dazu gehört zum Beispiel die „Sozialistische Partei der Ukraine“ oder die „Oppositionsplattform – für das Leben“. Der Chef der letzteren Partei ist Wiktor Medwedtschuk, ein Oligarch und persönlicher Freund von Wladimir Putin.
Gibt es nicht doch Linke in der Ukraine, die sich für ein Kriegsende ohne Waffen einsetzen? Ich habe zumindest keine gefunden. Im Gegenteil: Die ukrainische linke Organisation „Sozialnyj Ruch“ schreibt in einem Blogeintrag, dass Linke in anderen Ländern Waffenlieferungen an die Ukraine unterstützen sollten. Sie müssten erkennen, „dass eine Front gegen den Imperialismus ohne bewaffneten Widerstand unmöglich ist.“ Und sogar ukrainische Anarchist:innen, die eigentlich keine staatlichen Strukturen unterstützen, haben sich zusammengeschlossen, um in der ukrainischen Armee zu kämpfen.
Wie geht es den Ukrainer:innen?
Warum sind die Ukrainer so stark? (Frage eines unbekannten KR-Mitglieds, Februar 2023)
Als Russland im Februar vergangenen Jahres die Ukraine angriff, überraschten die Ukrainer:innen die ganze Welt. Nur wenige hatten damit gerechnet, dass sie sich so erbittert zur Wehr setzen, dass sich so viele zur Armee melden oder ehrenamtlich engagieren würden. Jewgen Golowacha, Direktor des Instituts für Soziologie der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Kyjiw, sagte in einem Interview: „Der Krieg hat erreicht, was die Ukraine in 30 Jahren Unabhängigkeit nicht geschafft hat.“
Kurz gesagt sind das die Gründe: Die Ukrainer:innen lernten durch den Krieg ihr Land wertschätzen. Außerdem wuchs ihr Vertrauen in den Staat, der nun dezentral verwaltet wird. Ich führe das nochmal für dich aus:
Es klingt absurd, aber laut einer Umfrage sind die Menschen in der Ukraine im Krieg mit ihren Lebensbedingungen zufriedener als vorher. Im November 2021 schätzten 53 Prozent der Befragten die Lebensbedingungen in der Ukraine als schlecht ein. Im Mai 2022, drei Monate nach dem russischen Angriff, fanden nur noch 28 Prozent die Lebensbedingungen schlecht. Umgekehrt stieg der Anteil derjenigen, die die Lebensbedingungen erträglich oder gut finden, von 38 auf 62 Prozent. Eigentlich ein Widerspruch, schließlich ist das Leben im Krieg kaum besser als davor. Der Soziologe Golowacha sagt, dass die Ukrainer:innen erkannt hätten, was sie zu verlieren haben. „Der Krieg hat die Regionen in dem Glauben geeint, dass die Ukraine einmal besser leben wird.“
Außerdem habe sich die Einstellung zum eigenen Staat grundlegend geändert: „Die Ukrainer haben in allen Regionen an ihren Staat geglaubt, und deshalb sind sie so resistent gegen den Aggressor“, sagt Golowacha.
Wolodymyr Jermolenko, ukrainischer Philosoph und Schriftsteller, sieht die Gründe in der Geschichte der Ukraine. Die ukrainische politische Kultur beruhe auf der Vorstellung einer Republik, in welcher der Kontakt zu den Bürger:innen wichtig sei. Er nennt die Kosak:innen als Beispiel, die im 17. Jahrhundert einen ukrainischen Staat gründeten. Laut Jermolenko beruht die russische politische Kultur dagegen seit Jahrhunderten auf der Idee eines Imperiums, wo die Politik hierarchisch ist und alles nur aufgrund von Befehlen passiert.
Ein Bericht der OECD kommt zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Darin heißt es, dass der Beitrag von lokalen und regionalen Verwaltungen ein „Schlüsselfaktor“ für die gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit ist. 2014 gab es in der Ukraine Reformen, um die Verwaltung zu dezentralisieren und lokalen Behörden mehr Macht zu geben. Dadurch konnten lokale Behörden besser und schneller Hilfe für die Menschen vor Ort organisieren. Sie sind zum Beispiel dafür zuständig, Sozialgelder auszuzahlen oder Binnenflüchtlinge zu registrieren. Laut dem Bericht hat das „die lokale Demokratie des Landes wiederbelebt.“
Warum sieht man hier so viele große, neue ukrainische Autos? Können nur die Reichen flüchten und die Armen bleiben in der Ukraine? (Bernd, Februar 2023)
Der russische Krieg betrifft die gesamte ukrainische Gesellschaft, egal ob arm oder reich. Deshalb fliehen auch Arme und Reiche. Trotzdem stimmt es, dass das Flüchten für Arme schwieriger ist. Wer genug Geld auf dem Konto hat, kann sich problemlos ein Zug- oder Busticket kaufen. Ein Ticket mit dem Flixbus von Kyjiw nach Berlin kostet gerade zwischen 77 und 100 Euro. Das Durchschnittsgehalt in der Ukraine lag im Januar 2022 bei etwa 370 Euro im Monat. Nicht alle können sich also so ein Ticket oder gar ein Auto leisten. Flüchten ohne Geld dauert länger und ist gefährlicher, denn wer arm ist, strandet möglicherweise an einem unsicheren Ort und kann sich kein sicheres Hotelzimmer leisten.
Das bedeutet aber nicht, dass in Deutschland nur steinreiche Ukrainer:innen ankommen. Ich weiß zwar nicht, wie viele teure ukrainische Autos hier herumfahren, aber ich denke, dass sie einfach besonders stark auffallen. Die meisten Geflüchteten aus der Ukraine haben wahrscheinlich kein teures Auto, aber dieser Fakt bleibt unsichtbar. Schließlich siehst du ja nicht, wie viele Ukrainer:innen kein teures Auto haben oder mit dem Bus gekommen sind.
Die „ukrainischen Luxusautos“ sind in den vergangenen Monaten zu einem richtigen Politikum geworden. Der Vorwurf ist, dass reiche Ukrainer:innen nach Deutschland kommen und hier Sozialhilfe bekommen, obwohl sie sie gar nicht bräuchten.
Einen ähnlichen Vorwurf gab es schon 2015, als viele Flüchtende nach Deutschland kamen. Damals wunderten sich manche, ob Menschen mit teuren Smartphones wirklich hilfsbedürftig sind. Dabei ist es so, dass das Smartphone für viele Geflüchtete der wertvollste Besitz ist – nicht nur finanziell gesehen, sondern weil sie es brauchen, um mit ihrer Familie in Kontakt zu bleiben, die sie über Monate und Jahre nicht sehen.
Ähnlich ist es mit den Autos der Ukrainer:innen. Viele, die mit dem Auto flüchten, lassen alles andere zurück. Ihr Haus ist möglicherweise zerstört und die Ersparnisse aufgebraucht. Das Auto ist zwar teuer, die ukrainischen Besitzer:innen des Autos sind aber nicht unbedingt reich. Und selbst wenn sie wirklich reich sind: Geld schützt ja nicht vor Bomben. Wenn wohlhabende Ukrainer:innen mit teuren Autos nach Deutschland kommen, sind sie trotzdem schutzbedürftig.
Waffenlieferungen – ja oder nein?
Ist man nicht automatisch Kriegspartei, wenn man Waffen liefert? (Wioletta, Mai 2022)
Die kurze Antwort lautet: Nein. Völkerrechtlich gesehen wird ein Land nicht zur Kriegspartei, wenn es Waffen liefert. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat das in einem Interview mit der Zeitung Die Welt noch einmal bekräftigt. Er sagte auch, dass die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung habe.
Dennoch gab es vor allem anfangs viel Kritik an dem Plan der Bundesregierung, Waffen an die Ukraine zu liefern. Ende April letzten Jahres hatten 28 Intellektuelle und Kulturschaffende einen Offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz geschrieben, in dem sie sich gegen Waffenlieferungen aussprechen. Die Unterzeichner:innen, zu denen Alice Schwarzer, Dieter Nuhr und Juli Zeh gehören, befürchten einen Dritten Weltkrieg. Am 10. Februar veröffentlichten Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht erneut ein „Manifest für den Frieden“, in dem sie Olaf Scholz aufrufen, auf Verhandlungen mit dem russischen Regime zu setzen und keine weiteren Waffen an die Ukraine zu liefern.
Die Bundesregierung hat bisher ausgeschlossen, dass sich Deutschland oder die Nato militärisch am Krieg in der Ukraine beteiligen. Die Nato ist auch gegen eine Flugverbotszone in der Ukraine, denn das würde im Extremfall bedeuten, dass Nato-Soldat:innen russische Flugzeuge abschießen müssten.
Das Problem ist, dass sich Russland nicht besonders für Völkerrecht interessiert und selbst entscheidet, wann es ein anderes Land als Kriegspartei sieht. Margarita Simonjan, Chefredakteurin des russischen Propagandasenders Russia Today, sagte in einer russischen Talkshow, dass Russland nicht gegen die Ukraine kämpfe: „Wir kämpfen gegen die Nato.“
Deutschland hat mittlerweile viel mehr an die Ukraine geliefert, um sie zu unterstützen, und zwar nicht nur Leopard-2-Panzer, sondern unter anderem auch drei Brückenpanzer, 100.000 Handgranaten und 240.000 Mützen gegen die Kälte. Die ganze Liste kann man auf der Seite der Bundesregierung einsehen.
Trotzdem funktioniert die Abschreckung des Verteidigungsbündnisses: Russland hat noch keine Nato-Staaten angegriffen.
Ist Deutschland „inoffiziell“ im Krieg? (Thomas, Dezember 2022)
Völkerrechtlich gesehen befindet sich Deutschland nicht im Krieg gegen Russland. Auch Waffenlieferungen machen Deutschland nicht zu einer Kriegspartei. Allerdings sprechen immer mehr Menschen von einem „Stellvertreterkrieg“ in der Ukraine. Beispielsweise der Politologe Johannes Varwick, die Journalistin Alice Schwarzer oder die Linken-Politikerin Sevim Dağdelen. Aber stimmt das auch?
Eine einheitliche Definition von Stellvertreterkrieg gibt es nicht. Grob gesagt bedeutet der Begriff, dass mächtige Staaten die Streitkräfte eines anderen Landes benutzen, um ihre eigenen Ziele auf dem Schlachtfeld eines anderen Landes durchzusetzen. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass ein mächtiger Staat einen anderen Staat schwächen will, aber ohne eben selbst aktiv Krieg zu führen. Ein klassisches Beispiel ist der Vietnamkrieg: Die USA unterstützen Südvietnam, die Sowjetunion und China den Norden.
Ob man den russischen Krieg gegen die Ukraine als Stellvertreterkrieg bezeichnet, hängt davon ab, wie genau man Stellvertreterkrieg definiert. Zwar gibt es Politikwissenschaftler:innen, die diesen Krieg so sehen, aber diese Einschätzung ist noch lange kein Konsens. Andere Politolog:innen bewerten den Krieg gegen die Ukraine anders und sehen ihn nicht als Stellvertreterkrieg.
Wer recht hat, ist nicht so wichtig, denn die Diskussion um den Stellvertreterkrieg ist eine Scheindebatte. Eigentlich geht es um diese Frage: Wem geben wir die Schuld an diesem Krieg? Denn wer den Krieg als Stellvertreterkrieg bezeichnet, impliziert damit, dass die Nato oder die USA ihn provoziert hätten oder dafür verantwortlich seien, dass er immer weitergeht. Obwohl klar sein sollte: Russland hat die Ukraine ohne Not angegriffen, die Ukraine verteidigt sich. Und Russland ist die Partei, die den Krieg immer weiter eskalieren lässt.
Hinter der Frage nach dem Stellvertreterkrieg steckt auch die Angst vor der Ausweitung des Krieges auf den Rest Europas. Wer von einem Stellvertreterkrieg spricht, fürchtet eigentlich, dass Russland sich von der Nato attackiert fühlen könnte. Zur Klarstellung: Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat schon im April gesagt, dass die Nato in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg in der Ukraine führe. Russische Staatsmedien wiederholen das seitdem regelmäßig.
Wie sehen Osteuropäer die Hilfeleistung aus Deutschland? (Günter, Februar 2023)
Viele Länder in Osteuropa haben gerade ein eher schlechtes Bild von Deutschland. Besonders das deutsche Verhältnis zu Polen ist angespannt. Die populistische PiS-Partei und die ihr nahestehenden Medien haben schon immer gerne über Deutschland geschimpft. Doch seit dem russischen Überfall auf die Ukraine kritisieren polnische Medien aus allen politischen Lagern Deutschland. Die Kritik ist, dass Deutschland die Ukraine zu wenig unterstütze und sich wirtschaftlich zu sehr an Russland gebunden habe. Mit Ausnahme von Ungarn stehen viele osteuropäische Länder Russland schon seit Jahren skeptisch gegenüber und kritisieren Deutschland für seine wirtschaftliche Abhängigkeit von russischem Gas und die zögerlichen Waffenlieferungen.
Eine Umfrage zeigt, dass Pol:innen die deutsch-polnischen Beziehungen immer negativer einschätzen. Im Oktober 2021 bewerteten noch 15 Prozent der Befragten die deutsch-polnischen Beziehungen als schlecht, im September 2022 waren es schon mehr als doppelt so viele: 31 Prozent. Nur 13 Prozent bewerteten das Verhältnis als gut. Die Hälfte aller Befragten fand es weder gut noch schlecht.
Auch in den baltischen Staaten, also in Estland, Lettland und Litauen ist die Kritik an Deutschland groß. Immer wieder protestierten im vergangenen Jahr Balt:innen vor den Gebäuden der deutschen Botschaft für strengere Sanktionen gegen Russland. Vor einigen Wochen forderten Demonstrierende vor der deutschen Botschaft in der litauischen Hauptstadt Vilnius, dass Deutschland Leopard-2-Panzer an die Ukraine liefern solle. Inzwischen hat Deutschland der Panzer-Lieferung zugestimmt.
In absoluten Zahlen hilft Deutschland der Ukraine übrigens ziemlich viel. Das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) dokumentiert alle Regierungshilfen an die Ukraine. Deutschland steht mit Hilfen in Höhe von 5,5 Milliarden Euro an dritter Stelle. Davor kommen nur Großbritannien und die USA. Allerdings zögert Deutschland jedes Mal, wenn es darum geht, der Ukraine mehr und schwerere Waffen zu liefern. Und bei den Ländern in Osteuropa scheint nur dieses Zögern hängenzubleiben.
Die Zahlen des IfW Kiel zeigen noch etwas anderes: Gemessen am eigenen BIP gehören die baltischen Staaten und Polen zu den stärksten Unterstützern der Ukraine. An erster Stelle steht das kleine Estland, das die Ukraine mit Hilfeleistungen von 1,3 Prozent des BIPs unterstützte.
Die Europäische Union: Welche Rolle spielt das Bündnis?
Welche Vorteile und Verpflichtungen sind mit dem Status des EU-Beitrittskandidaten verbunden? Was spricht dagegen, der Ukraine diesen Status zu verleihen? Haben die bisherigen Mitglieder irgendwelche Nachteile dadurch? (Sabine, Juni 2022)
Seit dem 24. Juni 2022 ist die Ukraine ein EU-Beitrittskandidat. Das entschieden die Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedstaaten im Europäischen Rat.
Jetzt stehen viele Jahre der Reformen und Verhandlungen an. Beitrittsländer müssen die sogenannten „Kopenhagener Kriterien“ erfüllen, zum Beispiel eine stabile Rechtsstaatlichkeit aufweisen oder eine funktionierende Marktwirtschaft. Für diesen Prozess ist nicht nur der Beitrittskandidat alleine verantwortlich: Auch die EU unterstützt das Land, hilft beispielsweise bei der Übernahme des EU-Rechts und schickt Geld. Von der Antragstellung bis zum tatsächlichen Beitritt vergehen durchschnittlich neun Jahre.
Manche Mitgliedsländer halten die Entscheidung zwar grundsätzlich für richtig, melden aber trotzdem Bedenken an. Portugal beispielsweise hält den Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine für verfrüht und rein symbolisch. Auch Länder wie Griechenland oder Zypern sind skeptisch, weil sie befürchten, dass sie weniger Fördergelder bekommen, wenn noch weitere finanzarme Länder der EU beitreten.
Viele Skeptiker:innen verweisen auch auf die Korruption in der Ukraine oder die fehlende Rechtsstaatlichkeit. Beispielsweise warnte die EU-Parlamentspräsidentin Katarina Barley vor überstürzten Beitritten. „Wer einmal in der EU ist, kann nicht ausgeschlossen werden“, sagte sie. Dass das problematisch sei, sehe man derzeit am Beispiel Ungarns.
Befürworter:innen hingegen verweisen darauf, dass die Ukraine bereits große Fortschritte gemacht habe und ein Beitritt mehr sei als Symbolik. Gwendolyn Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien, sagte in einem Interview, dass die Ukraine damit eine echte Perspektive für die Zeit nach dem Krieg habe. „Mit dieser Perspektive verbindet sich ein großer Anreiz für Reformen und den Wiederaufbau nach diesem Krieg.“
Sollte die EU Russen aufnehmen, die vor der Mobilisierung flüchten, und ihnen Asyl gewähren? (Lisa, Oktober 2022)
Bevor ich diese Frage beantworten kann, stellt sich eine andere: Schaffen die Russen es überhaupt in die EU? Rund 700.000 Russen haben allein in dem ersten Monat seit dem 21. September, als die „Teilmobilmachung“ ausgerufen wurde, das Land verlassen. Das berichtet die russischsprachige Ausgabe des Wirtschaftsmagazins Forbes unter Berufung auf eine Quelle im Kreml. Wie viele davon aus touristischen Gründen ausgereist sind und wieder zurückkehren wollen, ist nicht bekannt. An den Grenzen zu Ländern wie Georgien und Kasachstan bildeten sich lange Staus.
Doch Deutschland erreichen die meisten Russen gar nicht. Flüge gibt es schon lange keine mehr und über den Landweg kommen sie nicht nach Deutschland, weil die EU-Nachbarländer von Russland – Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen – die Einreise russischer Bürger:innen stark eingeschränkt haben.
Die Antwort auf die Frage, ob die EU die flüchtenden Russen aufnehmen sollte, stellt sich trotzdem. Für den Fall, dass es Einzelne doch bis hierher schaffen. Und sie hat eine rechtliche und eine moralische Komponente. Rechtlich gesehen können Personen, die aus dem Militärdienst in Russland desertieren, in Deutschland als Flüchtlinge anerkannt werden. Das schreibt der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg in einer Einschätzung. Auch wer noch nicht einberufen wurde, aber im wehrpflichtigen Alter ist, würde wahrscheinlich den Flüchtlingsstatus bekommen.
Dagegen spricht die moralische Komponente: Nicht alle Russen, die der Mobilisierung entkommen, sind auch gegen den Krieg. Möglicherweise unterstützen sie den Krieg gegen die Ukraine, möchten aber nicht selbst darin sterben. Manche befürchten, dass die fliehenden Männer ihr problematisches Gedankengut nicht an der Grenze ablegen: die Feindschaft gegen Ukrainer:innen, die kolonialistischen Vorstellungen oder gar die heimliche Unterstützung Putins. Manche finden auch, dass die betroffenen Männer in Russland bleiben und dort gegen Putins Regime protestieren sollten.
Wenn wir die Frage moralisch beantworten, könnte das hier ein Kompromiss sein: Wir sollten niemandem pauschal unterstellen, Putin-Unterstützer zu sein und ihm deshalb verwehren, einen Asylantrag zu stellen. Einige, die Russland jetzt verlassen, hatten vielleicht vorher kein Geld oder wollten Angehörige nicht zurücklassen und nutzen jetzt die letzte Gelegenheit zu fliehen. Auf der anderen Seite sollten wir nicht erwarten, dass alle, die dann kommen, Russland und Putin so kritisch sehen wie wir.
Welches Interesse hat die westliche Welt am Sieg der Ukraine? Ist es nicht wieder dasselbe wie in der Zeit des Kalten Krieges? (Ute, Januar 2023)
Wenn Russland gewinnt und die Ukraine verliert, hätte das Auswirkungen auf die Sicherheit Europas und sogar der ganzen Welt. Die westlichen Länder haben deshalb großes Interesse daran, dass die Ukraine den Krieg gewinnt – trotzdem ist die Situation nicht unbedingt vergleichbar mit dem Kalten Krieg.
Wenn Russland mit seinem Angriffskrieg Erfolg hat, würde das Wladimir Putin (und anderen autokratischen Herrschern) signalisieren: Es ist möglich, ohne große Konsequenzen ein anderes Land zu überfallen, wenn man nur lange genug durchhält. Und die Erpressung mit Atomwaffen funktioniert. Das erhöht die Gefahr, dass Russland noch andere Länder angreift: Das kleine Land Moldau, das zwischen Rumänien und der Ukraine liegt, fühlt sich sowieso schon bedroht. Und die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie Polen sind seit dem 24. Februar 2022 alarmiert. Wie die Menschen an den Grenzen mit der Bedrohung umgehen, hat meine Kollegin Esther Göbel vor Kurzem die Bürgermeisterin einer estnischen Grenzstadt gefragt.
Auch außerhalb Europas hätte es Folgen, würde die Ukraine verlieren. Andere Atommächte würden sich ermutigt fühlen, Länder zu unterwerfen und kompromisslos ihre Interessen durchzusetzen – mit ihren Atomwaffen als Druckmittel. In den vergangenen Jahren haben Atomwaffen eher dazu gedient, ein Land zu schützen. Wenn Russlands Erpressung erfolgreich ist, könnte es dazu führen, dass das Risiko eines Atomkriegs weltweit steigt.
Der Kalte Krieg war ein jahrzehntelanger Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion und ihren jeweiligen Verbündeten. Es war ein Konflikt zwischen zwei gesellschaftlichen Ordnungen: Kapitalismus gegen Kommunismus, Demokratie gegen Diktatur. Das Ziel war, den jeweils anderen Block zu schwächen, wenn nicht sogar zu zerstören.
Heutzutage hat Europa kein Interesse mehr daran, Russland zu schwächen. Das würde die Sicherheitslage in Europa destabilisieren. Schon jetzt flammen Konflikte und Kriege in Osteuropa und Zentralasien auf, weil Russland als Schutzmacht nicht mehr so präsent ist. Beispielsweise in Bergkarabach und an der Grenze zwischen Kirgisistan und Tadschikistan. Europa will also ein stabiles Russland – aber kann Russlands Verhalten, so wie es ist, nicht akzeptieren.
Die globalen Folgen des Krieges
Welche globalen Auswirkungen hat der Angriffskrieg? (Kim, Oktober 2022)
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat Folgen für Länder auf der ganzen Welt. Eine Folge ist, dass mehr Menschen hungern müssen. Nach Angaben der Welthungerhilfe erhöhte sich die Zahl der weltweit hungernden Menschen von 811 auf 828 Millionen. Das sind rund 17 Millionen Menschen mehr. Zum Vergleich: So viele Menschen wohnen in ganz Nordrhein-Westfalen. Dafür sind zwar auch der Klimawandel und die Corona-Pandemie verantwortlich. Doch der Krieg gegen die Ukraine hat die Lage massiv verschärft, denn die Ukraine, Russland und auch Belarus gehören zu den wichtigsten Exportländern von Getreide, Pflanzenöl und Dünger.
Die zweite Folge ist, dass bereits schwelende Konflikte nun eskalieren, vor allem im Einflussbereich Russlands. Beispielsweise kam es Mitte September letzten Jahres an der Grenze zwischen Kirgisistan und Tadschikistan zu Kämpfen. Der Konflikt ist zwar nicht neu, doch nun waren die Kämpfe intensiver als zuvor, rund 100 Menschen starben. Auch der Konflikt um die Region Bergkarabach flammte erneut auf, weil Russland als Schutzmacht und Vermittler nicht mehr so präsent ist. Das nutzte Aserbaidschan, um Armenien anzugreifen, insgesamt starben mehr als 200 Menschen.
Der Angriffskrieg könnte auch den Konflikt zwischen China und Taiwan beeinflussen. Worum es bei diesem Konflikt genau geht, hat meine Kollegin Katharin Tai in diesem Artikel erklärt. China betrachtet Taiwan als chinesisches Staatsgebiet, während Taiwan unabhängig sein will. China beobachtet deshalb genau, wie der Westen auf Russlands Krieg gegen die Ukraine reagiert. Denn China muss damit rechnen, dass der Westen mit den gleichen Sanktionen reagiert, wenn es versuchen sollte, Taiwan militärisch zu unterwerfen.
Drittens ändert sich die Energieweltkarte, es ändern sich also Abhängigkeiten und Machtstrukturen. Die EU-Staaten wollen und können infolge von Handelsverboten kein russisches Gas und Öl mehr kaufen, müssen diese Rohstoffe also von anderen Ländern beziehen. Beispielsweise will die EU deutlich mehr Gas aus Aserbaidschan kaufen. Gleichzeitig verkauft Russland mehr Rohstoffe wie Öl und Gas an China und Indien.
Viertens kann man insgesamt sagen, dass der Angriffskrieg die globale politische Ordnung verändert. Dabei geht es um Bündnisse und Machtkonflikte zwischen großen Staaten. Schweden und Finnland werden der Nato beitreten, Moldau und die Ukraine haben EU-Beitrittsgesuche unterschrieben. Russland ist zunehmend isoliert von der Weltgemeinschaft, sucht dafür aber verstärkt die Nähe zu afrikanischen Staaten wie etwa Eritrea oder Mali. Vor allem osteuropäische Staaten, wie etwa Polen und Moldau, solidarisieren sich mit der Ukraine. Und einige Länder, die früher Teil der Sowjetunion waren, gehen nun noch kritischer mit ihrem sowjetischen Erbe um und lehnen beispielsweise die russische Sprache stärker ab.
Welche Umweltschäden ergeben sich durch Kriegshandlungen? (Eckart, Oktober 2022)
Ein russischer T-72 Panzer benötigt 250 Liter Treibstoff pro 100 Kilometer auf befestigten Straßen. Im Gelände verbraucht er noch deutlich mehr. Doch das ist noch das kleinste Umweltproblem im Krieg. Die Umweltschäden, die ein Krieg hinterlässt, sind vielfältig und oft noch Jahrzehnte nach Kriegsende spürbar.
Wenn Tanklager und Fahrzeuge beschädigt werden, können Öl und Treibstoff austreten und das Grundwasser verschmutzen. Ein noch viel höheres Risiko besteht in diesem Kriegs, wenn Russland Industriebetriebe angreift. Beispielsweise war über Monate das Stahlwerk in Mariupol unter Beschuss. Tausende Tonnen giftiger Schwefelwasserstofflösung hätten ins Meer gelangen können.
Dabei ist der Schutz der Umwelt, auch im Krieg, im Völkerrecht verankert. Kriegsformen, die „lang anhaltende oder schwere Auswirkungen“ auf die Umwelt haben, sind verboten. So ist es in einem Zusatzprotokoll der Genfer Konventionen und im Umweltkriegsübereinkommen festgelegt. Das haben Russland und die Ukraine unterschrieben. Nach dem Krieg will die Ukraine Russland deshalb verklagen und Entschädigung für die Umweltschäden bekommen.
In der Ostukraine führt der Krieg seit 2014 zu enormen Umweltproblemen. Der Donbas war früher ein mächtiger Industriestandort, bis heute befinden sich dort viele Minen. Seit Beginn des verdeckten Krieges im Donbas sind die Minen stillgelegt, trotzdem muss regelmäßig Wasser abgepumpt werden. 2016 hörten die von Russland installierten Separatist:innen auf, das Wasser abzupumpen, vermutlich, um Geld zu sparen. Das führte zur Überflutung der Minen, die dann das Wasser der gesamten Region mit Schwermetallen kontaminierten. Das hat Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung, aber auch auf die Landwirtschaft.
Lernen wegen des russischen Angriffskriegs weniger Menschen Russisch? Die Sprache wird ja oft mit dem Land gleichgesetzt. (Ulla, November 2022)
Es gibt zwar nicht überall exakte Zahlen, doch der Trend ist klar: Immer weniger Menschen wollen Russisch sprechen oder lernen. Exemplarisch habe ich mir die Entwicklung in drei Ländern angeschaut: Deutschland, Ukraine und Georgien.
In Deutschland lernen immer weniger Menschen Russisch, die Zahlen gingen aber schon lange vor Beginn des großen Angriffskrieges zurück. Im Schuljahr 2020/21 lernten 94.000 Schüler:innen in Deutschland Russisch – ein Rückgang von 83 Prozent gegenüber 1992/93, wie Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen. Russischlehrer:innen gehen davon aus, dass die Zahlen wegen des Angriffskrieges noch weiter sinken werden.
In der Ukraine selbst sprechen einige Ukrainer:innen im Alltag Russisch oder haben Russisch als Muttersprache. Oft kommt es auch vor, dass sie beide Sprachen, also Ukrainisch und Russisch, nutzen oder sie gar vermischen zu einem Sprachmix, der Surschyk genannt wird. Insgesamt gibt es aber einen Trend weg von der russischen Sprache. Im Jahr 2021 benannten in verschiedenen Umfragen zwischen zehn und 20 Prozent der Ukrainer:innen Russisch als ihre Muttersprache. 20 Jahre vorher, im Jahr 2001, waren es noch 30 Prozent.
Seit dem 24. Februar entscheiden sich viele Ukrainer:innen bewusst dazu, generell weniger Russisch zu nutzen: Musiker:innen wechseln in ihren Liedern von Russisch zu Ukrainisch, Nutzer:innen von sozialen Medien schreiben ihre Posts nur noch auf Ukrainisch und diejenigen, die vorher nicht so gut Ukrainisch konnten, bemühen sich jetzt, es zu lernen. Für manche ist es ein symbolischer Akt, für andere ist es inzwischen traumatisierend, mit der russischen Sprache in Kontakt zu kommen.
Ich habe mir die Zahlen auch für Georgien angeschaut, dessen Geschichte einige Gemeinsamkeiten mit der Ukraine hat. Und auch hier ist Russisch immer unbeliebter. Georgien war Teil der Sowjetunion, weshalb die Menschen dort viele Jahre Russisch lernten und teilweise bis heute im Alltag nutzen. Doch seit sich Georgien 1991 für unabhängig erklärt hat, seit Russland 2008 in Georgien einmarschierte und der Konflikt um die abtrünnigen Republiken Abchasien und Südossetien schwelt, haben sich viele Georgier:innen von Russland und der russischen Sprache abgewandt.
Dieser Trend hat sich seit dem 24. Februar 2022 verstärkt, denn die meisten Georgier:innen sind sehr solidarisch mit der Ukraine. Das hat Konfliktpotential, denn viele Russ:innen fliehen aus Angst vor Repressionen und der Mobilisierung ausgerechnet nach Georgien. In Restaurants in Georgien liegen häufig Zettel aus, die sich an Russ:innen richten und sie auffordern, Englisch und nicht Russisch zu sprechen.
Dafür lernen nun aber deutlich mehr Menschen Ukrainisch – und zwar auf der ganzen Welt. Die Sprach-App Duolingo verzeichnet einen unglaublichen Anstieg an Nutzer:innen, die Ukrainisch lernen. Ende März letzten Jahres lernten weltweit fast sechsmal mehr Menschen Ukrainisch über die App als vor dem 24. Februar 2022. In Polen sind es sogar rund 27-mal mehr.
Warum Krieg nicht verboten ist
Wie kann es „Regeln“ für Krieg geben? Warum wird Krieg nicht verboten? (Christine, Januar 2023)
Diese Frage wirkt nur auf den ersten Blick naiv. Auch ich habe sie mir schon oft gestellt. Regeln im Krieg, das ist, als ob es eine rechtmäßige Art und Weise gäbe, jemanden zu ermorden. Dabei ist die Tat an sich moralisch derart verwerflich, dass es absurd scheint, dafür auch noch Gesetze zu haben.
Angriffskriege sind grundsätzlich völkerrechtswidrig, das ist im „allgemeinen Gewaltverbot“ der UN-Charta geregelt. In gewisser Weise ist Krieg also verboten. Deshalb wird der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine auch als „völkerrechtswidrig“ bezeichnet. Doch im Völkerrecht gibt es trotzdem ein „Recht zum Krieg“ (ius ad bellum) und ein „Recht im Krieg“ (ius in bello).
Denn es gibt Ausnahmen vom Gewaltverbot der UN-Charta. Eine davon tritt ein, wenn der Sicherheitsrat der UN einer militärischen Intervention zustimmt, wie etwa in Somalia oder in Afghanistan. Eine andere Ausnahme ist, wenn sich ein Land verteidigen muss. Aus Sicht des Völkerrechts durfte Russland die Ukraine also nicht angreifen, die Ukraine darf sich aber gegen Russland verteidigen.
Und dann gibt es noch das „Recht im Krieg“, das auch humanitäres Völkerrecht genannt wird. Es basiert auf der Vorstellung, dass Menschen einander seit jeher bekriegen, aber dass man die Brutalität des Krieges zumindest verringern kann. Deshalb stehen Zivilist:innen und Kriegsgefangene im humanitären Völkerrecht unter besonderem Schutz, denn sie können sich nicht zur Wehr setzen. Kranke und Verletzte haben ein Recht auf medizinische Versorgung.
Als Kriegsverbrechen bezeichnet man schwere Verbrechen gegen das humanitäre Völkerrecht, beispielsweise wenn eine Kriegspartei Zivilist:innen erschießt, Krankenhäuser bombardiert oder Kriegsgefangene foltert. Russland verstößt also auf verschiedenen Ebenen gegen das Völkerrecht: zum einen, weil es die Ukraine angegriffen hat und zum anderen, weil es unzählige Hinweise auf russische Kriegsverbrechen gibt.
Auch die Ukraine soll Kriegsverbrechen begangen haben: Vergangenen Sommer warf die Menschenrechtsorganisation Amnesty International der ukrainischen Armee vor, dass sie mit ihrer Kampftaktik Zivilpersonen gefährde. Allerdings steckte Amnesty International für diesen Bericht viel Kritik ein, warum genau, hat die Süddeutsche Zeitung erklärt. Beispielsweise wollten viele Zivilist:innen in umkämpften Gebieten ihre Häuser nicht verlassen. Oder die ukrainische Armee verteidigte sich dort, wo die russische Armee angreife: in Wohngebieten.
Einen Überblick über alle Kriegsverbrechen in der Ukraine findest du in diesem Projekt der Associated Press. Die Nachrichtenagentur hat bislang 623 Kriegsverbrechen in der Ukraine verifiziert – der Großteil davon auf russischer Seite.
Die Kampfhandlungen: Ist ein Ende in Sicht?
Ist es realistisch, dass die Ukraine Russland besiegen kann? (Hans-Martin, Juli 2022)
Militärische Vorhersagen abzugeben, ist extrem schwierig. Viele Expert:innen lagen mit ihren Einschätzungen zum russischen Angriffskrieg bereits daneben. Und gerade diejenigen, die der Ukraine ein schnelles Ende prognostizierten, lagen falsch, wie wir heute, ein knappes Jahr nach Beginn des Angriffskrieges wissen.
Ob die Ukraine Russland militärisch besiegen kann, hängt davon ab, was man unter „Siegen“ versteht. Dazu habe ich schon einmal einen Newsletter geschrieben, in dem es darum ging, ob die Ukraine im Falle eines Teilsieges aufgeteilt werden könnte. Eine vollständige Rückeroberung aller von Russland besetzten Gebiete gilt derzeit jedenfalls als unrealistisch. Aber einige Militärexpert:innen halten es für möglich, dass die Ukraine die russischen Truppen auf die Position vor dem 24. Februar 2022 zurückdrängen kann.
Wie gut sich die Ukraine verteidigen kann, hängt maßgeblich von den Waffen ab, die der Westen ihr liefert. Denn nicht nur die Ukraine hat mit Waffen- und Munitionsmangel zu kämpfen, sondern auch Russland. Im Juli 2022 wurde etwa berichtet, dass Russland nach Informationen des britischen Militärgeheimdienstes die modernen Bodenraketen ausgehen.
Würde es nicht vielen Menschen das Leben retten, wenn die Ukraine auf Gegenwehr verzichtete? (Renate, März 2022)
Ja, wenn die Ukrainer:innen sofort alle Waffen niederlegen würden, wäre der Krieg zu Ende und das Blutvergießen vorerst gestoppt. Aber ich will dir mit einem Spruch antworten, den du vielleicht schon gehört hast: Wenn Russland aufgibt, gibt es keinen Krieg mehr. Wenn die Ukraine aufgibt, gibt es keine Ukraine mehr.
Ich finde, das bringt gut auf den Punkt, worum es den Ukrainer:innen gerade geht. Um Menschenleben, ja. Aber auch um Unabhängigkeit und territoriale Selbstbestimmung.
Würde die Ukraine aufgeben, stünde dem ganzen Land eine unbestimmte Zukunft bevor. Denn was genau Russland danach vorhat, weiß niemand. Die Ukraine galt schon immer als etwas moderner und demokratischer als Russland. Würde sie sich ergeben, würde sie all ihre Werte aufs Spiel setzen. Außerdem wäre eine Besetzung des Landes durch Russland kompliziert, denn die Ukraine ist sehr groß und ein Großteil der Bevölkerung würde sich dagegen auflehnen.
Möglicherweise ist das aus einer deutschen Perspektive heraus schwerer zu beurteilen. Wir sehen das Leid der ukrainischen Bevölkerung, das jetzt gerade passiert. Aber wir sehen nicht, dass die Ukraine schon seit Jahren im Konflikt mit Russland steht, im Donbass herrschte sogar Krieg. „Jedes Mal, wenn ich den westlichen Medien ein Interview gebe, habe ich das Gefühl, dass sie wollen, dass wir aufgeben“, schrieb der ukrainische Diplomat Olexander Scherba.
So habe ich Renate die Frage im März 2022 beantwortet. Heute kommen noch weitere Gründe dazu. Die russischen Gräueltaten an Orten wie Butscha, Irpin oder Isjum zeigen, dass Ukrainer:innen in von Russland besetzten Gebieten nicht sicher sind. Im Gegenteil: Sie müssen Folter und Mord fürchten. Sich einfach zu ergeben, rettet den Ukrainer:innen nicht unbedingt das Leben. Es kann sogar ihren Tod bedeuten.
Was würde passieren, wenn Putin nach den ukrainischen Rückeroberungen abgelöst oder gestürzt werden würde? (Marcus, September 2022)
Im September 2022 haben 18 lokale Abgeordnete aus Moskau und St. Petersburg Putin zum Rücktritt aufgefordert. Das bedeutet nicht, dass Putin bald gestürzt wird – ein Skandal war es trotzdem. Und es hat Hoffnung gemacht.
Die ukrainische Gegenoffensive hat damals nicht nur die Ukrainer:innen hoffnungsvoll gestimmt, auch Putins Macht in Russland hat dadurch einen Riss bekommen. Das hatte verschiedene Gründe: Zum ersten Mal wirkte Putin nicht mehr unverwundbar. Selbst staatlich kontrollierte Medien gaben zu, dass die „Spezialoperation“ in der Ukraine nicht gut lief und ließen Menschen zu Wort kommen, die an der Sinnhaftigkeit des Krieges zweifelten.
Es ist möglich, dass selbst hochrangige und mächtige Unterstützer:innen Putins Angst haben, den Krieg gegen die Ukraine zu verlieren. Sie konnten sich in den vergangenen Jahren ungehindert bereichern, aber die zunehmende Isolation Russlands und die westlichen Wirtschaftssanktionen könnten auch sie zum Zweifeln bringen. Doch wie groß diese Zweifel wirklich sind, darüber rätseln gerade viele.
Aber weiterhin ist unklar, wer auf Putin folgen könnte. Die meisten Oppositionspolitiker:innen sind geflohen oder sitzen im Gefängnis. Realistische Nachfolger:innen wären der Bürgermeister von Moskau, Sergej Sobjanin, oder Russlands Ministerpräsident Michail Mischustin. Doch vielleicht ist es gar nicht so wichtig, wer genau auf Putin folgt. Sondern dass die Person es schafft, das politische System Russlands zu reformieren. Ähnlich wie Michail Gorbatschow, der zwar die Sowjetunion erhalten wollte, aber gleichzeitig einer der wichtigsten Reformer:innen des 20. Jahrhunderts war.
Kann es überhaupt eine diplomatische Lösung geben? (Frank, Mai 2022)
Laut einer Forsa-Umfrage aus dem letzten Juni glauben 70 Prozent der Deutschen, dass der Krieg nur durch diplomatische Lösungen und Verhandlungen beendet werden kann.
Im Dezember 2022 sprachen sich 55 Prozent in einer YouGov-Umfrage im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur dafür aus, dass die Ukraine sofort mit Russland über eine Beendigung des Krieges verhandeln solle. Nur für 27 Prozent der Befragten ist noch nicht der richtige Zeitpunkt für Friedensgespräche erreicht.
Viele Osteuropa-Expert:innen bezweifeln aber, dass Russland an ernsthaften Verhandlungen interessiert ist. Bei den Verhandlungen zwischen der ukrainischen und der russischen Delegation schickte Russland Personen, die im Kreml ohne Einfluss sind. Der Kreml schien die Verhandlungen also nicht ernst zu nehmen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Wladimir Putin deshalb mehrmals zu direkten Gesprächen aufgefordert. Putin ist darauf nicht eingegangen.
Außerdem hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass sich Russland nicht an Abmachungen hält. Das Budapester Memorandum ist ein Vertrag, den 1994 mehrere Staaten unterzeichnet hatten. Darin verzichtet die Ukraine auf Atomwaffen, im Gegenzug respektiert Russland die territoriale Integrität der Ukraine. Dieses Abkommen verletzte Russland 2014 mit der Annexion der Krim und natürlich jetzt, mit dem Angriffskrieg.
Ukrainer:innen fürchten einen Frieden mit Russland, wenn dieser Frieden bedeutet, dass sie unter russischer Herrschaft leben müssen. Orte wie Butscha oder Irpin, in denen russische Soldaten ukrainische Zivilist:innen folterten und töteten, haben diese Angst bestärkt.
Welche Chance hat die Ukraine, die beiden „Volksrepubliken“ und die Krim wieder zu kontrollieren? Oder wird die Ukraine aufgeteilt? (Karin, Mai 2022)
Eine der grundsätzlichen Fragen ist, was die Kriegsziele der Ukraine sind. Anders gesagt: Was bedeutet „Gewinnen“ für die Ukraine? Soll die russische Armee dorthin zurückgedrängt werden, wo sie am Tag vor der Invasion stand? Sprich: in die östlichen Gebiete der Ukraine und auf die Krim. Oder könnte die Ukraine sogar die Krim zurückerobern und die Kontrolle über die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk zurückerlangen? Je länger der Krieg dauert, desto realistischer scheint es zu werden, dass die Ukraine das tatsächlich schaffen könnte.
Henry Kissinger, ehemaliger US-Außenminister und Friedensnobelpreisträger, sagte beim Wirtschaftsforum in Davos, dass die Ukraine Gebiete an Russland abgeben solle, um den Krieg zu stoppen. Der ukrainische Präsident Selenskyj lehnt das entschieden ab. Eine Umfrage vom Dezember 2022 zeigt, dass mehr als 85 Prozent der Ukrainer:innen nicht bereit sind, Gebiete im Tausch für Frieden abzugeben. Den militärischen Ausgang des Krieges vorherzusagen, ist unmöglich. Tatsache ist aber, dass die Ukraine selbst derzeit nicht bereit ist, Gebiete abzugeben.
Welche Lösungen des Konfliktes oder Schritte für einen Frieden kann es tatsächlich geben? (Felix, Oktober 2022)
Der russische Krieg in der Ukraine könnte noch Monate oder sogar Jahre dauern. Trotzdem ist es sinnvoll, sich über mögliche Szenarien eines Kriegsendes Gedanken zu machen. Ganz simpel wäre natürlich eine militärische Lösung. Russland besiegt die Ukraine oder umgekehrt. Oder beide Seiten sind so erschöpft, dass sie nicht mehr weiterkämpfen wollen. Hier stellt sich aber auch die Frage, was genau ein militärischer Sieg für die Ukraine bedeutet. Wäre der Sieg schon errungen, wenn sie die russische Armee auf ihre Position von vor dem 24. Februar 2022 zurückdrängt? Oder gehört dazu auch die vollständige Rückeroberung der Krim und der sogenannten „Volksrepubliken“ im Donbass?
Die zweite Möglichkeit ist, dass die Ukraine aufgibt. Seit Monaten attackiert Russland die zivile Infrastruktur in der Ukraine und will vermutlich genau das erreichen: Abgeschnitten von Strom und Heizung soll die ukrainische Bevölkerung ihren Widerstandsgeist verlieren. Eine aktuelle Umfrage des Kyiv International Institute for Sociology zeigt aber einen anderen Trend. Demnach sind 86 Prozent der Befragten der Meinung, dass der bewaffnete Kampf fortgesetzt werden müsse, auch wenn der Beschuss anhalte. Zehn Prozent sind der Meinung, dass man verhandeln müsse, um den Beschuss so schnell wie möglich zu beenden, auch wenn dafür Zugeständnisse an Russland erforderlich seien.
Ein drittes Szenario für ein Ende des Krieges setzt auf Machtkämpfe in Moskau. Einzelne Verantwortliche üben immer wieder Kritik an Putin. Prominente Kritiker sind Ramsan Kadyrow, Machthaber der tschetschenischen Teilrepublik, und Jewgeni Prigoschin, Oligarch und Chef der Söldnertruppe Wagner. Es gibt auch Hinweise darauf, dass in Moskau Verschwörungen oder gar ein Putsch gegen Putin geplant werden. Mit diesen Informationen muss man allerdings sehr vorsichtig sein – was wirklich dran ist, wage ich nicht zu beurteilen.
Manche prognostizieren deshalb Machtkämpfe in Moskau, die schließlich dazu führen könnten, dass sich Russland aus der Ukraine zurückzieht. Der Historiker Timothy Snyder hat das in einem viel beachteten Aufsatz so zusammengefasst: „Der Krieg endet, wenn die ukrainischen militärischen Siege die russischen politischen Realitäten verändern.“ Dieser Prozess habe seiner Meinung nach bereits begonnen.
Die vierte Möglichkeit ist, dass die Ukraine und Russland miteinander verhandeln. Doch Russland wird erst an den Verhandlungstisch zurückkehren, wenn es keine Möglichkeit mehr sieht, den Krieg militärisch zu entscheiden. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, je stärker die Ukraine auf dem Schlachtfeld sei, desto wahrscheinlicher sei eine politische Lösung, bei der die Ukraine als souveräne Nation überleben könne.
Mitarbeit: Lea Scholz, Redaktion: Lisa McMinn und Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger