Diesen Freitag jährt sich der russische Angriff auf die gesamte Ukraine, ein trauriger Jahrestag. Fast genauso lang schreibe ich diesen Newsletter: Oft ging es um strategische Fragen, politische Ziele oder die Geschichte der Ukraine.
In dieser Ausgabe erkläre ich dir, wie das vergangene Jahr die Ukrainer:innen verändert hat. Dafür habe ich mit Anastasija Gerasymowa gesprochen. Sie ist Psychologin und im März vergangenen Jahres nach Berlin geflohen. Ich habe sie gefragt, was für Ukrainer:innen gerade besonders schwer ist – und wie sie selbst mit Krieg und Flucht umgeht.
Außerdem beantworte ich die Leserfrage, warum die Ukrainer:innen so stark sind. Und wie jede Woche gebe ich dir eine kleine Portion Hoffnung mit.
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Was ist gerade wichtig?
Hunderttausende Tote und Verletzte, Millionen Menschen auf der Flucht, ganze Städte zerstört: Das ist die traurige Bilanz nach einem Jahr Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das Leben der Ukrainer:innen hat sich dadurch komplett verändert. Sie müssen täglich mit der Angst leben, dass ihnen oder ihren Angehörigen etwas zustößt. Viele haben sich freiwillig für die Armee gemeldet oder versuchen, im Ausland zurechtzukommen. Heute sind die Ukrainer:innen über die ganze Welt zerstreut. Was macht das mit den Menschen?
Um das herauszufinden, habe ich Anastasija getroffen. Die 25-Jährige ist Psychologin, kommt aus Kyjiw und ist vor fast einem Jahr mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter nach Berlin geflohen, wo sie Verwandtschaft hat. Anastasija ist die Cousine meiner Kollegin Mariya Merkusheva. In Berlin arbeitet sie bei Krisenchat, einem psychologischen Beratungsangebot für Menschen, die vom Krieg betroffen sind und sich gerade in einer Krise befinden.
Wie geht es den Ukrainer:innen nach einem Jahr Krieg?
Anastasija wollte nie woanders leben als in der Ukraine. Das erzählt sie mir im Büro von Krisenchat, einer Altbauwohnung in Berlin. Die blonden Haare hat sie zusammengebunden, die Füße stecken in weißen Stiefeln. Sie sitzt in einem pinken Sessel, die Arme vergräbt sie in ihrer Strickjacke und erzählt, was ihr an der Ukraine gefällt. „Ich mag, dass wir sehr offene, herzliche Menschen sind“, sagt Anastasija. „Und wenn es dir schlecht geht, wird es immer jemanden geben, der dir hilft.“
Gerade ist sie diejenige, die anderen hilft: Bei Krisenchat berät sie Menschen, die wegen des Krieges Angst haben oder in ein anderes Land geflohen sind und dort nicht zurechtkommen. Anastasija zeigt mir, wie das funktioniert: Per Whatsapp, Telegram oder SMS können Menschen, die Hilfe brauchen, eine Nachricht schicken. Wenige Minuten später antwortet Anastasija und schreibt: „Ich werde jetzt hier sein, um Sie zu unterstützen.“
Die Menschen hätten vor allem zwei Probleme, sagt sie: Das erste sei der Krieg und dessen Folgen, sie haben etwa Angst bei Luftalarm. Das zweite sind Familienbeziehungen. In den vergangenen Monaten sind viele Ukrainer:innen zu ihren Verwandten gezogen, weil sie ihren Angehörigen nahe sein wollen oder weil sich ihre Wohnung in einem besonders unsicheren Gebiet befindet oder zerstört wurde. „Wenn Menschen zusammenziehen und es eine große Altersspanne gibt, dann entstehen viele Konflikte“, sagt Anastasija.
Wie genau sie unterstützt, hängt von der Person und deren Problemen ab. Manchmal beruhigt sie sie während eines Luftalarms, hilft dabei, sich einen sicheren Ort zu suchen. Oder sie rät dazu, Gegenstände in die Hand zu nehmen, die einen beruhigen oder Freude bringen. Sie hilft ihnen, im Krieg mit Sorge, Angst und Tod umzugehen. Dinge, die sie als Ukrainerin kennt: „Ich verstehe ihren Schmerz besser und weiß, welche Methoden in welcher Situation angewandt werden können, um die Person da herauszuholen.“
Wie distanziert sie sich von den Ängsten ihrer Klient:innen, die auch ihre eigenen sind? Anastasija schlägt die Beine übereinander und sagt: „Selbstkontrolle, Ausdauer, Rationalisierung.“ Krisenchat unterstützt seine Mitarbeiter:innen psychologisch. Und: „Wenn man sich selbst nicht helfen kann, wie soll man dann jemand anderem helfen?“
Es gibt ihr ein gutes Gefühl, wenn Klient:innen nach der Beratung ein positives Feedback schreiben. „Ich fühle mich besser, wenn ich weiß, dass ich Menschen helfen kann, die in einer Krise stecken“, sagt sie. Manchmal wird trotzdem alles zu viel: die Sorge um ihre Angehörigen, die Tanten, Cousins und Cousinen, die in der Ukraine geblieben sind. Um ihre fünf engen Freunde, die an der Front kämpfen. Anastasija hilft es, leise vor sich hin zu singen. Oder in ein Kissen zu schreien.
Vielleicht gibt es eine Menge Ukrainer:innen, die mit Anastasija gechattet haben und jetzt in ihr Kopfkissen oder in den Wald brüllen. Wahrscheinlich gibt es auch eine Menge Ukrainer:innen, denen es dank ihr ein bisschen besser geht.
Und wie hat der Krieg sie selbst verändert?
„Ich habe eine stärkere Verbindung zu meinem Land und zu den Menschen“, sagt Anastasija. Sie spüre so stark wie nie zuvor, wie die Bevölkerung zusammenhalte. Beispielsweise wenn Ukrainer:innen Geld sammeln für Menschen, deren Wohnung die russischen Bomben zerstört haben. „Wir stützen uns gegenseitig.“
Anastasija vermisst ihr Zuhause. Normalerweise isst sie einmal pro Woche Borschtsch, das ukrainische Nationalgericht. In Deutschland hat sie im ganzen vergangenen Jahr aber noch keinen Borschtsch gekocht. Zwar könnte sie die Zutaten auch hier kaufen: Rote Bete, Kohl, Kartoffeln. Aber das will sie sich aufheben. Borschtsch will sie erst wieder zu Hause essen.
Die Frage der Woche
Ein KR-Mitglied fragt: „Warum sind die Ukrainer so stark?“
Als Russland im Februar vergangenen Jahres die Ukraine angriff, überraschten die Ukrainer:innen die ganze Welt. Nur wenige hatten damit gerechnet, dass sie sich so erbittert zur Wehr setzen, dass sich so viele zur Armee melden oder ehrenamtlich engagieren würden. Jewgen Golowacha, Direktor des Instituts für Soziologie der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Kyjiw, sagte in einem Interview: „Der Krieg hat erreicht, was die Ukraine in 30 Jahren Unabhängigkeit nicht geschafft hat.“
Kurz gesagt sind das die Gründe: Die Ukrainer:innen lernten durch den Krieg ihr Land wertschätzen. Außerdem wuchs ihr Vertrauen in den Staat, der nun dezentral verwaltet wird. Ich führe das nochmal für dich aus:
Es klingt absurd, aber laut einer Umfrage sind die Menschen in der Ukraine im Krieg mit ihren Lebensbedingungen zufriedener als vorher. Im November 2021 schätzten 53 Prozent der Befragten die Lebensbedingungen in der Ukraine als schlecht ein. Im Mai 2022, drei Monate nach dem russischen Angriff, fanden nur noch 28 Prozent die Lebensbedingungen schlecht. Umgekehrt stieg der Anteil derjenigen, die die Lebensbedingungen erträglich oder gut finden, von 38 auf 62 Prozent. Eigentlich ein Widerspruch, schließlich ist das Leben im Krieg kaum besser als davor. Der Soziologe Golowacha sagt, dass die Ukrainer:innen erkannt hätten, was sie zu verlieren haben. „Der Krieg hat die Regionen in dem Glauben geeint, dass die Ukraine einmal besser leben wird.“
Außerdem habe sich die Einstellung zum eigenen Staat grundlegend geändert: „Die Ukrainer haben in allen Regionen an ihren Staat geglaubt, und deshalb sind sie so resistent gegen den Aggressor“, sagt Golowacha.
Wolodymyr Jermolenko, ukrainischer Philosoph und Schriftsteller, sieht die Gründe in der Geschichte der Ukraine. Die ukrainische politische Kultur beruhe auf der Vorstellung einer Republik, in welcher der Kontakt zu den Bürger:innen wichtig sei. Er nennt die Kosak:innen als Beispiel, die im 17. Jahrhundert einen ukrainischen Staat gründeten. Laut Jermolenko beruht die russische politische Kultur dagegen seit Jahrhunderten auf der Idee eines Imperiums, wo die Politik hierarchisch sei und alles nur aufgrund von Befehlen passiere.
Ein Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD kommt zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Darin heißt es, dass der Beitrag von lokalen und regionalen Verwaltungen ein „Schlüsselfaktor“ für die gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit ist. 2014 gab es in der Ukraine Reformen, um die Verwaltung zu dezentralisieren und lokalen Behörden mehr Macht zu geben. Dadurch konnten lokale Behörden besser und schneller Hilfe für die Menschen vor Ort organisieren. Sie sind zum Beispiel dafür zuständig, Sozialgelder auszuzahlen oder Binnenflüchtlinge zu registrieren. Laut dem Bericht hat das „die lokale Demokratie des Landes wiederbelebt.“
Der Link der Woche
Wie ist das, wenn die Wohnung, in der man 30 Jahre lang gelebt hat, in Trümmern liegt? Wenn der Partner oder der Sohn an der Front stirbt? In dieser 45-minütigen Doku hat Reporter Vassili Golod Menschen in der Ukraine begleitet. Es sind viele berührende Szenen darin, die zeigen, wie die Ukrainer:innen mit dem Krieg leben.
Die Hoffnung der Woche
Eine Liebesgeschichte, trotz Krieg und Flucht: Tetjana kommt aus dem südukrainischen Mykolajiw und floh mit ihrem Sohn nach Polen. So berichtet es der ukrainische Sender Suspilne News auf seiner Seite. Im nordpolnischen Olsztyn engagierte sich Tetjana ehrenamtlich und lernte den Polen Ariel kennen. Die beiden verliebten sich. Heute hat sie ihn auf Polnisch als „meine Seele“ in ihrem Telefon eingespeichert.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger