Als ich letztens Sport auf Sky schauen wollte, war im Studio ein Influencer zu Gast. Der hatte nichts mit Sport zu tun, sondern mit Parfüms. Er hat die Moderatorin lächerlich gemacht, ihr mitten im Satz ein High Five gegeben und gesagt, er interessiere sich sowieso nicht für Fußball.
Du bist auf Jeremy Fragrance gestoßen.
Richtig. So hieß der. Was sollte das?
Dieser Typ ist ein riesiges Phänomen im Internet. Er wird dir nicht nur bei Sky begegnen, sondern auf fast allen Privatsendern und vor allem auf Tiktok und Youtube. In einem seiner erfolgreichsten Tiktok-Videos riecht er oberkörperfrei an einem Nutella-Glas und schreit danach „KRAFT, POWER, STRENGTH“ in die Kamera. Wenn dich das jetzt verwirrt: Keine Sorge, damit bist du nicht alleine. Trotzdem hat er viele Fans. Sein Youtube-Kanal hat etwa zwei Millionen Abos, über alle Plattformen folgen ihm knapp sechs Millionen Menschen.
Ob du das lustig findest, ist Geschmackssache.
Eher nicht.
Aber, sein Erfolg ist ein gutes Beispiel dafür, wie soziale Medien sich in den vergangenen Jahren verändert haben. Wie vielfältig diese Entwicklungen sind, kannst du übrigens in meinem Zusammenhang „Das Ende der sozialen Medien“ nachlesen.
Mega-Influencer funktionieren längst nicht mehr über Nahbarkeit oder Authentizität. Sie sind über Jahre hinweg entworfene Kunstfiguren geworden. Sie verbinden Konsumkultur und Memefizierung. Ich erkläre dir das an dem Mann, der ein Parfümimperium aufbaut, während er sich als moderner Clown vermarktet.
In Ordnung. Also, Nutella, Sportfernsehen und Tiktok. Was macht dieser Jeremy Fragrance überhaupt?
Wenn Jeremy Fragrance nicht gerade Datteln isst, was er in Videos ständig tut, riecht er hauptberuflich. Er ist Parfüminfluencer. Wenn du also für das Jahr 2023 noch ein Parfüm suchst, dann kann dir eines seiner Videos helfen.
Das betreibt er ziemlich ernsthaft. In einem ganzen Raum voller Parfümflakons beschreibt er die Gerüche. Mal sind sie fruchtig, sehr oft sexy. In den Kommentaren bedanken sich Fans bei ihm. Einer schreibt: „I love you Jeremy, you literally changed my life. I got into perfume but never found the ‚right one‘ for me until I watched some of your old videos.“
Okay, Lebensveränderung durch ein Parfüm also.
Aber es gibt auch andere Beispiele: Hier wühlt er im Müll und erzählt von seiner Zuckersucht. Hier filmt er sich, wie er auf dem Boden eines Flugzeuges Datteln isst. Ich würde sagen, der Reiz solcher Videos ist der Was-zur-Hölle-Moment.
Heißt der Typ eigentlich wirklich Jeremy Fragrance?
Jeremy Fragrance, 34 Jahre alt, heißt bürgerlich eigentlich Daniel Schütz, er ist in Oldenburg aufgewachsen. In seiner Jugend zeigte sich schon früh, dass Jeremy Fragrance eine Rampensau ist. Er tanzte und spielte erste Rollen beim Oldenburgischen Staatstheater. In einem Interview mit dem Youtuber Leeroy Matata sagte er: „Da habe ich Blut geleckt. Ich konnte mit coolen Dingen, die Spaß machen, Geld verdienen.“ Diese Haltung zieht sich dann durch sein gesamtes Leben, sagt er. Er wurde sogar beinahe Popstar.
Wie bitte?
Jeremy Fragrance hat sich auch eine Zeit lang Jeremy Williams genannt und war Teil der Boyband Part Six. Ein klassisches Popprodukt der 2000er, gecastet über die Jugendzeitschrift „Yam!“. Sonderlich erfolgreich wurde die Band nie, aber wenn ich einem Kind die 2000er erklären müsste, wäre dieses Video auf jeden Fall sehr hilfreich. Die stampfenden Beats, die Gelfrisuren, die in den Tanzchoreos durchgeschleudert werden, alles passt ins Boybandzeitalter.
https://www.youtube.com/watch?v=YG_XnGIWcrc
Wie kommt man denn von einer Boyband zum Influencerdasein?
Eigentlich ist er genau der Prototyp eines Influencers: Er war von Anfang an auf Erfolg gepolt und hat zielstrebig die Nischen genutzt, die sich ihm geboten haben. Das sagt er übrigens auch selbst: „Ich bin nicht in einem Lavendelfeld geboren oder da ist eine tolle Story hinter.“ Der Erfolg sei erst nach zwei Jahren gekommen. Erst die Videos, in denen er sich als Clown zeigte, wurden erfolgreich.
Also ist das alles gespielt?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Fragrance selbst sagt: „Ab wann bin ich Kunstfigur? Bin ich eine Kunstfigur, wenn ich morgens kalt dusche, einen Tee trinke und mich gesundheitsbewusst ernähre, weil ich dann mehr diese energievolle Kunstfigur bin als mein früheres Ich?“
Wer sich mit ihm beschäftigt, findet schnell den Vorwurf, er würde doch ständig koksen, so wie er drauf sei. Das streitet er ab. Er würde keine Drogen nehmen – hätte er noch nie genommen. Er ist auch nicht in jedem Video wild drauf, man findet auch andere, nachdenkliche Videos von ihm. Jeremy erzählt in einem Interview von seiner schwierigen Kindheit mit Gewalterfahrungen, er analysiert seinen eigenen Erfolg und fragt sich, wie viel Luxus und Konsum er für ein gelungenes Leben braucht. (Spoiler: Eine goldene Rolex und ein roter Ferrari sind genug!)
Aber ich würde behaupten: Es ist vollkommen irrelevant, ob Jeremy Fragrance wirklich so ist oder nicht. Das zählt in den sozialen Medien nicht mehr.
Weil sowieso alles Fake ist?
Nicht ganz. Jeremy Fragrance ist authentisch.
Du widersprichst dir.
Das passt auf den ersten Blick nicht zusammen, aber Authentizität hat heute nichts mehr damit zu tun, ob etwas „echt“ ist oder nicht.
Verstehe ich nicht. Erklär!
Delia Balaban ist Professorin für Kommunikationswissenschaften an der Universität Cluj-Napoca in Rumänien und zurzeit Gastprofessorin an der Fachhochschule Mittweida. Sie forscht zu Influencer:innen und ihrem Einfluss auf die Nutzer:innen. Sie erklärt: „In einer Welt, in der alle Inhalte gestellt werden können, wird das ‚Echte‘ immer unwichtiger.“ Influencer:innen würden vor allem dann als authentisch wahrgenommen werden, wenn sie konstant blieben.
Also immer gleich?
Genau. Influencer:innen sind authentisch, weil sie ständig in den sozialen Medien stattfinden. Und solange sie sich dort treu blieben, würden sie von ihrem Publikum als authentisch wahrgenommen werden, sagt Balaban.
Die Nutzer:innen wissen inzwischen, dass soziale Medien auch immer Inszenierung bedeuten. Sie inszenieren ja selbst auf ihren Profilen: rücken den Löffel zurecht beim Foto vom Sonntagskaffee in der Sonne und legen einen Filter auf die Urlaubsbilder. Für Jeremy Fragrance heißt das also: Solange er so bizarr bleibt, solange er seine Kunstfigur spielt, ist er „echt“.
Das ist mir ein bisschen zu philosophisch.
Lass es mich so erklären: Bis vor wenigen Jahren war die Haltung gegenüber Influencer:innen noch anders. Sie wurden als Freund:innen wahrgenommen, als nahbar. „Wir wollten die Influencer:innen in ihrem Wohnzimmer sehen“, sagt Balaban. Werbung hätte diese Illusion zerstört, weil das Sein als Influencer:in nach Arbeit ausgesehen hätte.
Heute ist das anders. An Marketing und Werbung haben wir uns gewöhnt, weil wir verstehen, dass die Influencer:innen auch von etwas leben müssen.
Deswegen ist es auch für die Fans vollkommen in Ordnung, wenn Jeremy Fragrance in einem Video Werbung für den Pay-TV-Sender Sky versteckt: Jeremy Fragrance ist in einem Supermarkt, riecht am Gemüse und preist es an. Plus einen Receiver, den er ganz zufällig auch in dem Regal findet und an dem er ebenfalls riecht.
Nichts ist mehr echt, alles wird vermarktet. Ich verstehe nicht, warum man da noch zusehen will.
Damit bist du nicht alleine. Soziale Medien machen auch krank. Sie fördern Körperschemastörungen bei Mädchen und Jungen. Jugendliche sorgen sich, eine Sucht zu entwickeln. Fake News und Propaganda sind ein ernstzunehmendes Problem in den sozialen Netzwerken und für unsere Demokratie. Und auch an Jeremy Fragrance gibt es viel zu kritisieren.
Das ist bei dem, was du geschrieben hast, nicht überraschend.
Jeremy Fragrance kennt keine Grenzen. Wenn er auf der Straße angesprochen wird, schaltet er seine Kamera an und fängt an zu filmen. Dann riecht er an den Menschen und versucht ihr Parfüm zu erraten. In diesem Club schnuppert er einfach an fremden Menschen, eine ganz schöne Grenzüberschreitung.
[Video nicht mehr verfügbar]
Jeremy Fragrance hat viele junge Follower:innen. Er propagiert aber immer wieder ein problematisches Männer- und Körperbild. Er erzählt, dass er am besten performe, wenn er nichts esse. Oder sagt Sätze über Frauen wie diesen: „Die geilsten Männer hatten immer so nette, humble Mädels im Hintergrund und nicht diese „Playboy-Bitches“.
Dazu kommt auch noch der ganze Konsum. Wenn du sagst, dass Jeremy Fragrance eine goldene Rolex und einen roten Ferrari als „ausreichend“ sieht und Parfüms für Hunderte Euro an seine Fans verkauft, dann ist das doch nicht normal.
Du sprichst eine wichtige Zutat zur erfolgreichen Influencerfigur an: Luxus! Oder zumindest der Anschein davon. Es gibt ein Milieu, in dem diese Haltung gut ankommt. Die Luxusbranche ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen – selbst in den Finanzkrisen. Gleichzeitig hat die Branche eine neue Zielgruppe für sich entdeckt: Jugendliche.
Die für Fridays for Future auf die Straße gehen? Das glaube ich aber nicht.
Ich erinnere hier mal, dass bei der letzten Bundestagswahl FDP und Grüne fast gleich viele Erstwähler:innen hatten. Während den einen eine nachhaltige Lebensweise wichtig ist, sind die anderen eher konsum- und leistungsorientiert. Da passt das gut dazu, wofür Jeremy Fragrance steht.
Balaban erzählt von einem Gespräch mit einem Zwölfjährigen über Marken: „Er sagte, wenn er irgendwann Marken wie Supreme oder Off White trägt, dann habe er es geschafft.“ Die Sinus-Milieustudie, die Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren untersucht hat, nennt solche Menschen „Konsummaterialisten“. In der Studie heißt es: „Mit Äußerlichkeiten Eindruck zu hinterlassen, bezeichen sie als eigene Stärke.“
Und so ein Leben propagiert Jeremy Fragrance?
Damit ist er nicht alleine. Eine ganze Riege an Influencer:innen protzt mit Luxusuhren und teuren Autos. Manche bauen darauf ihren ganzen Kanal auf, wie der Influencer Marc Gebauer, Anfang 30, der mit Luxusuhren handelt. Selbst wenn die meisten Nutzer:innen sich so eine Uhr nie leisten können, schauen sie die Inhalte an. Influencer:innen wie Jeremy Fragrance nutzen das aus.
Wie?
Mit einem Trick: Rabattcodes. Jeremy Fragrance vertreibt ein eigenes Parfüm. Das ist ziemlich teuer. Bei Produktionskosten von unter zehn Euro, könnte er das Parfüm auch deutlich günstiger verkaufen, das gibt er zu. Aber das würde seine Marke schwächen, weil die Leute den Preis mit Luxus verbinden. Also kostet das Parfüm 350 Euro. Aber eigentlich gibt es immer einen Rabattcode, mit dem er 66 Prozent Nachlass gibt.„So dumm sind wir“, sagt er selbst.
Ich fasse mal zusammen: Ein 34-jähriger Mann wird reich und berühmt mit Videos über Parfüm und mit skurillen Videos, in denen er manchmal einfach an fremden Menschen schnuppert. Wir leben in einer Zeit, in der das in den sozialen Medien gut ankommt. Aber wie kommt so einer denn in meine Sportsendung, der gehört doch ins Internet?
Influencer:innen sind heute eigene Medienhäuser. Ein Post von Jeremy Fragrance kann mehr Leute erreichen als die Tagesschau. Aber irgendwann ist auch mit dieser Reichweite und dem Wachstum Schluss, erklärt mir die Kommunikationswissenschaftlerin Balaban. Und dann kommt das Fernsehen ins Spiel. Die etablierten Medien, zum Beispiel Castingshows, streben in die sozialen Medien, haben da aber noch kein Publikum, weil junge Menschen heute kein Fernsehen mehr schauen. Sie gehen also auf die Influencer:innen zu. Beide profitieren von der Reichweite der anderen und erreichen neue Zielgruppen.
Also gewinnen alle?
Nicht immer. Jeremy Fragrance war neulich bei Big Brother. Eine Sendung, in der gewisse Spielregeln gelten, an die sich die Teilnehmer:innen meist auch halten.
Nur Jeremy Fragrance wollte, obwohl anders vereinbart, seinen weißen Anzug, ein Markenzeichen, nicht ausziehen. Schließlich zog er nach sechs Tagen freiwillig aus dem Haus aus, statt wie geplant 22 Tage zu bleiben. Die Botschaft: Jeremy Fragrance muss sich nicht an Spielregeln halten.
Wenn es in Zukunft nur noch solche durchkomponierten, künstlichen Influencer:innen gibt, woher weiß ich denn, wer noch echt ist?
Weg gehen die nicht mehr. Aber ich kann dich beruhigen. Das ist die eine Seite der sozialen Medien. Eine, die abstrus bis, je nach Einstellung, abstoßend und kein Stück authentisch wirkt. Die Seite ist gefüllt mit Influencer:innen wie Jeremy Fragrance. Das mag uns nicht gefallen. Aber es gibt ja auch noch die andere Seite. Die unter anderem gefüllt ist mit Influencer:innen zu Konsumkritik oder nachhaltigen Lebensweisen. Für die gilt übrigens das gleiche wie für Jeremy Fragrance: Das Konzept von Authentizität hat sich grundlegend verändert. Nichts, was wir über unsere Bildschirme und die sozialen Netzwerke konsumieren, ist echt, wir nehmen es trotzdem als das wahr.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert