Streamer zu sein, ist der härteste Job überhaupt. Der Mann, der das behauptet, schaut in einem Twitch-Stream in die Kamera. Kranken- und Altenpfleger:innen, Paketbot:innen und Menschen, die in Fleischfabriken schuften, sehen das vermutlich anders, denkt man. Aber Zaelia, so heißt der Mann, erklärt weiter: „Stell dir vor, du sitzt jeden Tag 14 Stunden vor dem Rechner, eine Kamera und eine Lampe sind ständig auf dein Gesicht gerichtet. Und Tausende Menschen warten darauf, dass du sie unterhältst.“
Zaelia heißt eigentlich Kenn Øster Rasmusse, ist 28 Jahre alt, Däne und spielt hauptberuflich Computer. Die Videos streamt er auf der Plattform Twitch, dort folgen ihm 72.300 Menschen. Zaelia ist Teil einer neuen Klasse von Arbeiter:innen, die in sozialen Medien ihr Geld verdienen.
Influencer:innen sind das Rückgrat der sozialen Plattformen. Sie füllen die Feeds mit Inhalten. Sie bringen Nutzer:innen auf die Plattformen, die dann mit Werbung Geld verdienen. Sie machen das gern, denn das Versprechen ist groß: Weltberühmt werden und dabei Geld scheffeln.
Die Profile von Mega-Influencer:innen sind voll mit Villen in Dubai, Privatfliegern und teuren Autos. Das Geld wirkt leicht verdient. Für Werbebeiträge können sie fünf- oder sechsstellige Summen abrufen, berichten Branchenportale und die Creator:innen selbst. In diesem Text wird es nicht um diese Mega-Influencer:innen gehen.
Denn die Wahrheit ist: So weit wird es kaum jemand bringen. Nur knapp über fünf Prozent der Instagram-Accounts haben mehr als 50.000 Follower:innen.
Auch für diejenigen unter dieser Marke gibt es Begriffe. Die großen Influencer:innen ab 500.000 Follower:innen nennt man Macro-Influencer:innen. Zwischen 10.000 und 50.000 wirst du Micro-Influencer:in genannt. Und ab 1.000 bis 10.000 Follower:innen bist du schon ein:e Nano-Influencer:in.
Auch diese kleinen Influencer:innen knapp über der 1.000er-Schwelle können theoretisch Geld verdienen. Je schneller sie wachsen, desto mehr. Aber Wachstum ist nicht alles. Manche wachsen, bis sie 1.000 Follower:innen haben, andere, bis 14.000 Leute ihnen folgen. Und trotzdem machen diese Influencer und Creator:innen weiter. Sie müssen entscheiden: Kann ich davon leben? Und wenn ja: wie gut?
Gerade entsteht auf diese Weise eine neue Arbeiterklasse im Internet. Geringverdiener-Influencer:innen, könnte man sie nennen. Mit prekären Arbeitsbedingungen, den damit einhergehenden gesundheitlichen Problemen und der ständigen Unsicherheit, dass morgen alles vorbei sein könnte.
Ist Influencer:in ein Beruf der Zukunft?
Dass Influencer:in längst ein echter Job ist, erkennt man an den Katalogen der Spielehersteller. Die australische Kaufhauskette K-Mart hat ein Influencer-Spielzeugset für Dreijährige entwickelt: Das Set enthält einen Canvas-Rucksack, ein Spielzeug-Handy, eine Kamera, einen Selfie-Stick, ein Ringlicht und ein Stativ – alles aus Holz. Playmobil verkauft neben den üblichen Bussen und Piratenschiffen auch das knallpinke Set „Social Media Star“, das auch eine Karikatur einer Beauty-Influencerin sein könnte. Empfohlenes Alter: vier bis zehn Jahre. In einer kleinen Umfrage des Spieleherstellers Lego aus dem Jahr 2019 wollten mehr Kinder Youtuber:in werden als Astronaut:in.
Aber was ist das eigentlich für ein Job? Ich rufe Denny Weinhardt an. Er streamt auf der Plattform Twitch das Sammelkartenspiel Magic. Weinhardt ist ein junger Mann mit tätowierten Armen, einer ruhigen Stimme und einem hellen Arbeitszimmer, aus dem er drei bis vier Mal die Woche ins Internet streamt. Rund 200 Menschen schauen ihm dabei zu, manchmal sind es aber auch nur 50, manchmal auch mehr. Dafür investiert er 50 bis 60 Stunden im Monat. „Manchmal können es aber auch 120 Stunden werden“, sagt er.
Viel Geld verdient er nicht. Einen niedrigen dreistelligen Betrag überweist Twitch ihm durchschnittlich im Monat. „Es reicht, um Lebensmittel davon zu kaufen und sich ab und zu was zu gönnen“, sagt er. Genau darf er nicht sagen, was er verdient. So steht es in den Bedingungen, denen er als Streamer zugestimmt hat. Es lässt sich aber überschlagen: Jeder seiner knapp 90 Abonnent:innen zahlt ungefähr fünf Euro pro Monat, davon landen etwa zwei auf Weinhardts Konto. Dazu kommen Einnahmen aus den Werbungen, die Twitch beim Streaming einspielt. Fünf bis zehn Euro Stundenlohn ergibt das. Damit liegt Weinhardt unter dem Mindestlohn. Für einen Lebensunterhalt reicht das natürlich nicht, deshalb arbeitet Weinhardt 32 Stunden pro Woche in einem anderen Beruf.
Das neue Prekariat: Digitalarbeiter:innen
Expert:innen wie Nadja Enke sprechen von einem neuen Prekariat, das sich online bildet. Enke forscht an der Universität Leipzig zu Influencermarketing und hat unter anderem einen Ethik-Kodex für Influencer:innen mitentwickelt. Am Telefon sagt sie mir: „Vom Tellerwäscher zum Millionär, das ist die Geschichte, die da propagiert wird.“ Früher wollten alle Rockstar werden, erklärt Enke, heute sei es eben Social-Media-Berühmtheit.
„Es gibt sicher Menschen, die ihre Social-Media-Kanäle aus Spaß betreiben und das auch nicht unbedingt monetarisieren wollen“, sagt Enke. Den anderen aber bleibt nichts anderes übrig, als sich ein Geschäftsmodell zu überlegen. Das können zum Beispiel Kooperationen mit Unternehmen sein oder – wie bei Weinhardt – die Unterstützung seiner Community.
Für eine Villa wie bei Mega-Influencern wie zum Beispiel Bibi und Julian wird es bei den meisten vermutlich nicht reichen, sagt Enke. Trotzdem können auch viele kleinere Influencer:innen von der Arbeit in den sozialen Netzwerken leben. Und es werden immer mehr: Das Marktforschungsinstitut Linquia hat Unternehmen befragt und herausgefunden, dass 90 Prozent der befragten Firmen künftig stärker mit kleineren Influencer:innen zusammenarbeiten wollen.
Wo bleibt der Arbeitskampf?
Es ist die Soziologin Angela McRobbie, die in ihrem Buch „Be Creative: Making a Living in the New Culture Industries“ sehr klar eine Generation beschreibt, die von einem „Spreadsheet-Mindset“ in einen neoliberalen Lebensentwurf gedrängt werden würde. So würde sie dazu gebracht werden, nur in ihrem eigenen Interesse zu denken und zu handeln. Die Botschaft ist klar: Arbeite nur hart genug, dann wirst du erfolgreich.
Dafür, dass ihre Rechte beachtet werden, mussten Arbeiter:innen in vielen Branchen lange kämpfen: Für Arbeitsschutzgesetze, Arbeitszeitbegrenzungen und Arbeitnehmer:innenrechte. Aber wer kämpft eigentlich für Influencer:innen und Content Creator:innen?
In anderen Ländern tut sich bereits etwas. In den USA können sich Influencer:innen der Schauspielergewerkschaft SAG-AFTRA anschließen, der frisch gegründete Branchenverband „American Influencer Council“ will die Rechte der Netzarbeiter:innen in den USA vertreten. In Italien wollen Influencer:innen ihre eigene Gewerkschaft gründen, berichten Medien.
Ich rufe beim DGB an und frage nach, wer sich in Deutschland für Influencer:innen und Content Creator:innen einsetzt. Die kurze Antwort ist: niemand. Die lange Antwort: So gut wie alle, die Geld mit dem Internet verdienen, sind selbstständig. Das heißt, für sie gelten so gut wie keine Arbeitsschutzregeln, sie sind selbst verantwortlich für ihre Arbeitszeiten und für das, was sie verdienen. Wenn Influencer wollten, könnten sie also 18 Stunden am Stück arbeiten.
Solche Arbeitsbedingungen haben natürlich Folgen. 78 Prozent der befragten Influencer:innen und Content Creator:innen berichten einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Awin von Phasen, in denen sie Burnout-Symptome zeigen.
Kein Urlaub: Insta-Pics aus dem Wochenbett
Gleichzeitig sind die Influencer:innen abhängig von den übermächtigen Plattformen. Die entscheiden, welche Inhalte sie zulassen und fördern. Kommunikationswissenschaftlerin Enke sagt: „Das heißt, wenn Instagram morgen entscheiden würde aus irgendwelchen Gründen, ich sperre den Kanal oder ich schalte die Kommentarfunktion ab, dann ist das komplette Geschäftsmodell dieser Person weg.“
Die Logik von Kooperationen und Plattformen erzeugt einen enormen Druck. Algorithmen bestrafen längere Inaktivität, neue Inhalte werden dann seltener ausgespielt. Pausen, Urlaub oder Krankheit können sich die Influencer:innen gar nicht leisten.
Auch Weinhardt, der Twitch-Streamer, kennt diesen Druck. Gerade zu Beginn seines Kanals hatte er nach dem Urlaub oft Angst, nicht mehr relevant zu sein. Enke sagt: „Wir beobachten zum Beispiel, dass Influencerinnen, die ein Kind bekommen haben, schon aus dem Wochenbett wieder posten und eine Elternzeit gar nicht möglich ist.“ Das heißt, eine Auszeit oder ein Urlaub müssen doppelt geplant oder eben gleich mit Posts und Stories begleitet werden, so wie es viele Influencer:innen tun.
Geld gibt es nur bei Erfolg
Zur Macht der Plattformen gehört auch die ständige Verfügbarkeit von Statistiken. Mache ich einen guten Job? Bin ich effizient genug? Verdiene ich genug Geld? In einer Studie der Kommunikationswissenschaftlerin Zoë Glatt berichten Influencer:innen von dem Druck durch die ständige Bewertung ihrer Arbeit.
Eine Youtuberin erzählt: „Du siehst deine Videos auf Youtube Studio mit großen roten Zahlen. Es heißt: ‚Die Zuschauerzahlen sind rückläufig! Die Anschaudauer ist gesunken! Du machst dich schlecht! Du musst die Zahlen steigern!‘ Deswegen hasse ich es, die Youtube-Statistiken anzuschauen.“
Arbeitnehmer:innen werden nach Stunden bezahlt. Selbständige für erledigte Aufträge. Influencer:innen nach dem, was die Plattformen gerade als Erfolg interpretieren: Shares, Saves, Likes oder Follows. Die Kommunikationswissenschaftlerin Enke erklärt das so: „In der Werbeindustrie wird Arbeit, sonst nach der Arbeitszeit oder Tagessätzen entlohnt. In der Influencer-Industrie erfolgt sie nach Erfolg. Das ist schon deutliche Ungleichheit.“
Muss man alles für Geld machen?
Viel Arbeitszeit, wenig Geld. Können Influencer:innen nicht wenigstens tun, was ihnen Spaß bereitet? Auch das ist eine Frage der Größe. Accounts mit mehr als 100.000 Follower:innen bewerben oft renommierte Produkte. Sie können hohe Preise verlangen und ihre Partnerunternehmen frei wählen. Wer aber kleiner ist, sei stärker abhängig von gut bezahlten Kooperationen. Da passiere es sicherlich auch, das Kooperationen nicht umfänglich geprüft und Produkte beworben würden, hinter denen man nicht vollständig stehe, sagt Enke.
Streamer Weinhardt hat ein Beispiel: Er wurde für das Spiel „Raid Shadow Legends“ angefragt. Ob er es in einem Stream spielen und so seinen Zuschauer:innen empfehlen wolle? Als vergleichsweise kleiner Streamer hätte er für einen vierstündigen Stream bis zu 1.500 Euro bekommen. Eine Menge Geld.
Weingart mag das Spiel aber nicht und sieht es wegen seiner sogenannten Gatcha-Mechanismen, also Glücksspielmechanismen, kritisch. Weil er andere Einkommensquellen hat, konnte er ablehnen. Er kann aber auch verstehen, wenn Menschen, die wirklich auf das Geld angewiesen sind, solche Werbung machen.
Ausgebrannt mit Mitte 20!
Influencer:in ist bereits ein Karriereweg. Die digitalen Arbeiter:innen haben weniger mit dem glamourösen Lifestyle zu tun, den sie oft selbst in den sozialen Medien verbreiten, sondern eher mit den Arbeiter:innen, die vor 100 Jahren als Tagelöhner:innen vor den Fabriken standen.
Es ist eine alte Geschichte, die auf den Plattformen stattfindet. Arbeitende sollen unternehmerisch, flexibel, selbstbestimmt und immer bereit sein. Andererseits arbeiten sie „schlecht bezahlt, unter prekären Bedingungen und in ständiger struktureller Unsicherheit.“
Aber es kann auch anders kommen. Weinhardt erzählt mir von einem Freund, der früher viel Geld mit Youtube verdient hätte. Heute würde der aber nicht mehr als als Content Creator arbeiten. Warum? „Der ist ausgebrannt.“ Er habe allerdings in der Firma, die damals sein Management übernommen hatte, anfangen können. Als Medienkaufmann. Also in einem ganz normalen Ausbildungsberuf.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert