Der FTX Gründer Sam Bankman-Fried. Im Hintergrund sind die Umrisse seiner Dachgeschosswohnung mit Pool zu sehen.

Tom Williams / Getty Images | FTX | Seaside Real Estate

Geld und Wirtschaft

Der Jahrhundert-Betrug

Die Kryptobörse FTX ist pleite, weil ihr Gründer Sam Bankman-Fried Kundengelder gestohlen hat. Wie konnten alle auf diesen Betrüger reinfallen? Ich denke: Er hat den Leuten gegeben, was sie wollten.

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

Der Stuhl, auf dem der Milliardär saß, wackelte. Der 30-jährige Kryptounternehmer Sam Bankman-Fried war Ende September in der US-amerikanischen Talkshow „Meet The Press“ zu Besuch, und die Rückenlehne zitterte, als stünde sein Stuhl auf dem Deckel eines überkochenden Topfes.

Aber es war Bankman-Fried selbst, der zitterte und den Stuhl zum Schwingen brachte. Sein ganzer Körper zuckte in schnellen Bewegungen, während der Moderator ihm eine Frage über seine Millionen-Spenden an die demokratische Partei der USA stellte. Sam Bankman-Fried, den alle nur kurz SBF nennen, zuckte und zuckte und hörte nicht mehr auf.

Als das Interview in den letzten Septemberwochen ausgestrahlt wurde, interessierte es kaum jemanden. Vom Zucken nahm auch niemand Notiz. „Meet The Press“, eine der wichtigsten Talkshows der USA, war nur eine weitere Station für den jungen, vermeintlich brillanten Unternehmer, der in Rekordzeit Milliarden angehäuft und geschworen hatte, das ganze Geld zu spenden. Einige verglichen ihn schon mit den Titanen der Finanzgeschichte, mit Warren Buffett oder J.P. Morgan. Den „ersten Billiardär“ der Welt sahen Investoren des Risikokapitalfonds Sequoia Capital in ihm.

Auf den Fluren des Kapitols in Washington war SBF Stammgast, während er die Spitzen der US-amerikanischen Politik bearbeitete, um neue, für ihn hilfreiche Gesetze zur Regulierung von Kryptowährungen durchzubringen. Und als SBF im April eine Konferenz auf den Bahamas veranstaltet hatte, kamen der frühere US-Präsident Bill Clinton, der Football-Megastar Tom Brady, dessen mittlerweile Ex-Frau Gisele Bündchen und der ehemalige britische Premierminister Tony Blair.

SBF hatte es geschafft. Mit gerade einmal 30 Jahren. Viel mehr war nicht zu holen.

Doch dann kochte der Topf über. Die schöne Welt, die SBF für sich und die Öffentlichkeit gebaut hatte, explodierte.

Milliardenvermögen und Millionen Kundengelder – über Nacht verschwunden

Die von ihm gegründeten Unternehmen, die Kryptobörse FTX und der Hedgefonds Alameda Research, gingen innerhalb von wenigen Tagen pleite – weil SBF Kundengelder gestohlen hatte. Am 11. November unterschrieb er einen Insolvenzantrag und legte seine Ämter nieder. SBFs 25-Milliarden-Dollar-Vermögen? Hatte sowieso nur auf dem Papier existiert, aber nun war es selbst von dort verschwunden. Genauso wie die Hunderten Millionen Dollar, die seine Kunden der Kryptobörse FTX anvertraut hatten. Diese Pleite sandte eine Schockwelle durch die Kryptoindustrie – und den Kurs des Bitcoins nochmal eine Etage tiefer.

Was an Dollars und Euro verloren gegangen ist, ist aber der uninteressantere Teil dieser Geschichte. Denn die härteste Währung der Finanz- und besonders der Kryptowelt ist Vertrauen. Deswegen gibt es den Bitcoin überhaupt: Er ist Ausdruck des Misstrauens gegenüber Zentralbanken und den traditionellen Finanzinstitutionen.

Dabei liegen die Dinge nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick scheinen mögen. Eine Deutung des Fall FTX ginge ja auch so: Die libertäre Wild-West-Kryptowelt, die voller Betrüger ist, hat es einem Gauner und Betrüger eben ermöglicht, zu gaunern und zu betrügen.

SBF aber ist der Sohn von Joseph Bankman, einem Professor für Steuerrecht, der an der Universität Stanford lehrt. SBFs Mutter Barbara Fried hat drei Harvard-Abschlüsse und sammelte erfolgreich Geld für die demokratische Partei ein. Das ist US-Westküstenelite. Gleichzeitig schauten die Aufsichtsbehörden wohl nicht genau genug hin, die großen Medien der angelsächsichen Welt hofierten ihn, genauso wie viele der „besten“ Investoren der Welt. Kommen wir also zum eigentlich interessanten Teil dieser Geschichte: Wer genau hat hier eigentlich versagt?

SBF begann seine Karriere als junger Trader an der Wall Street, ehe er kurz vor dem ersten großen Kryptoboom im Jahr 2017 Alameda Research gründete, ein Hedgefonds, der sich damals darauf spezialisierte, Preisunterschiede für Bitcoin an verschiedenen Handelsplätzen gewinnbringend auszunutzen. Diese Strategie, die wegen hoher regulatorischer Hürden in der Praxis viel schwerer umzusetzen war, als es klingt, verschaffte SBF Renommee in der internationalen Finanzwelt. Ein Jahr später gründete er die Kryptobörse FTX.

Die wichtigsten Kronzeugen, mutmaßlich Mittäter beim aktuellen Betrug, arbeiteten damals schon für SBF: Caroline Ellison, Sam Trabucco, Gary Wang und Nishad Singh. Sie alle sind hervorragende Mathematiker. Zwei von ihnen hatte SBF schon im Jahr 2010 bei einem Highschool-Mathecamp getroffen. Die jungen Mathebegabten einte aber nicht nur ihr Interesse für algorithmengestützte Handelsstrategien an den Märkten, worauf sich Alameda Research schnell spezialisierte. Sie bekannten sich auch zur Theorie des „Effektiven Altruismus“, einer Spenden-Philosophie, die darauf abzielt, mit jedem gespendeten Dollar den größtmöglichen Nutzen für die Menschheit zu erzielen. Vordenker dieser Bewegung drehen den Gedanken noch weiter: Den meisten Menschen kann ein Mensch helfen, wenn er sehr schnell sehr viel Geld verdient und es dann spendet.

Um sein Image aufzupolieren, hat SBF gespendet

Und tatsächlich: SBF war der zweitgrößte Spender für die Präsidentschaftskandidatur des aktuellen US-Präsidenten Joe Biden, seine FTX Foundation stellte Gelder unter anderem für die KI- und Pandemie-Forschung zur Verfügung. SBFs persönliche Stiftung unterstützte auch progessive US-Medien wie Vox, Pro Publica oder The Intercept. Inwiefern diese Spenden direkt aus den Einlagen der FTX-Kunden finanziert worden sind, ist noch nicht zu sagen.

SBF hat aber zugegeben – so viel ist sicher –, dass ihm diese Spenden dabei halfen, sein Image aufzupolieren. Soviel zum Thema Altruismus. Zugegeben hat er das ausgerechnet in einem Interview mit einer Vox-Reporterin. Er sagt darin, dass „wir woken Menschen aus dem Westen [ein dummes Spiel] spielen, in dem wir all die richtigen Platitüden sagen, damit jeder uns mag.“

Wie erfolgreich diese Taktik ist, lässt sich an den Reaktionen auf die FTX-Pleite ablesen. Während Kryptoindustrie-Insider ihn einen Dieb, einen Betrüger, einen Hochstapler (und noch viel Schlimmeres) schimpfen, hält sich etwa die New York Times zurück. Wer nur den Times-Artikel liest, muss den Eindruck gewinnen, dass sich hier ein junger Mann etwas übernommen hat und deswegen am Ende ungefähr zehn Milliarden Dollar in seinen Firmen fehlten. Die Financial Times widmete ihren ersten großen Artikel nicht etwa SBF, sondern seinem chinesischstämmigen Konkurrenten Changpeng Zhao, der letztlich mit einer Reihe von Tweets die FTX-Pleite einleitete.

Und wenn die Spenden von SBF die Medien einlullten, dann lullten die FTX-Gewinnspannen die internationale Investorenelite ein. Noch im Januar 2022 hatte eine Gruppe von Investoren der Kryptobörse Geld im Austausch für Anteile gegeben.

Unter den Investoren waren mit Sequoia Capital, Softbank, Tiger Global, Temasek, Van Eck und Third Point Ventures Firmen, die für sich in Anspruch nehmen, zu den besten ihrer Zunft zu gehören. In einem Artikel auf der Firmenhomepage von Sequoia Capital zeigten sich die Investoren besonders beeindruckt davon, dass SBF Computer spielte, während er mit ihnen in einem Zoom-Call über die nächste Finanzierungsrunde sprach. Der Artikel ist inzwischen kommentar- und spurlos von der Homepage verschwunden. Pikant ist, dass FTX anders als üblich keinen Aufsichtsrat hatte, in dem sonst oft auch Investoren sitzen und Einblick in die Bücher bekommen können. Die Investoren vertrauten SBF und seiner Freundetruppe im Wortsinn blind. Was in dem Unternehmen wirklich passierte, wussten auch sie nicht. Sie fragten aber auch nicht nach.

FTX war ein hochprofitables Unternehmen – eigentlich

Mit 32 Milliarden Dollar wurde das Unternehmen bei seiner letzten Finanzierungsrunde im Januar 2022 bewertet. Die Logik dahinter: In einem Goldrausch solltest du die Schaufeln verkaufen. Und FTX war als Handelsplatz so eine Schaufel inmitten des Krypto-Goldrausches. Egal, ob die Kurse stiegen oder fielen, als Börse konntest du verdienen, weil von jeder Kauf- und Verkaufsorder ein kleiner Anteil einbehalten wird. Auf 270 Millionen Dollar Reingewinn konnte FTX so laut interner Unterlagen im Jahr 2021 kommen. Eine Zahl, die im Gegensatz zu vielen anderen vom Unternehmen vermeldeten Zahlen auch glaubhaft ist, denn sowohl Handelsvolumen als auch die Gebühren waren von außen einsehbar. Es ist aber auch eine Zahl, die die ganze Geschichte noch unglaublicher werden lässt. Wie kann jemand so schnell so eine Geldmaschine in einer stark wachsenden Industrie gebaut haben und am Ende doch pleitegehen?

Die genaue Mechanik dieses Bankrotts ist noch nicht vollends geklärt; das wird Sache der Gerichte in den nächsten Jahren werden. Aber ein paar Dinge sind bekannt und gesichert: Erstens, zwischen der Börse FTX und dem Hedgefonds Alameda Research gab es wenig bis gar keine institutionelle Trennung. Zum Teil saßen beide Firmen im gleichen Büro. Bis 2021 war SBF CEO beider Unternehmen. Das hatte Interessenskonflikte zur Folge, zu Lasten der Kunden von FTX. Außerdem verrichtete Alameda Research Dienstleistungen für FTX: Die Firma war der wichtigste sogenannte Market Maker auf der Börse. Das bedeutet: Alameda Research sorgte dafür, dass Kauf- und Verkaufsaufträge auch flüssig und ohne große Verluste ausgeführt werden können.

Außerdem hielten beide Firmen sehr große Anteile an einem Krypto-Token, den beide erschaffen hatten und der in engem Zusammenhang mit der Börse FTX stand. Krypto-Token sind digitale Güter, die durch die Blockchain abgesichert sind. „FTT“ hieß dieser Token, er berechtigte unter anderem zu bestimmten Handelsvorteilen auf FTX und wurde von Anlegern generell als eine Möglichkeit gesehen, am Erfolg von FTX teilzuhaben. Es war eine „Wette auf SBF“. Alameda Research und FTX kontrollierten zusammen zwei Drittel aller handelbaren FTT-Token und Alameda benutzte diese Token – das ist der wichtigste Teil, um die Pleite zu verstehen – als Sicherheit für Kredite, bei denen sie sich wertstabile, dem Dollar ähnliche Token liehen, mit denen sie dann spekulierten.

Das Sandkastentürmchen-Prinzip

Übertragen wir, was da geschehen ist, auf den Ort, an dem die Finanzwelt am verständlichsten ist: in den Sandkasten. Kind Sam hat nur ein Förmchen, hätte aber gerne viel mehr Spielzeug. Also türmt er mit seinem Förmchen mehrere identische Haufen Sand auf, erfindet eine abenteuerliche Geschichte über die Herkunft dieser Haufen und weckt damit das Interesse aller Kinder im Sandkasten. Die Sandhaufen stehen für die FTT-Token. Sie bekommen durch das Interesse der anderen Kinder plötzlich Wert als Handelsgut im Sandkasten. Das nutzt Sam aus. Er geht zu den Kindern, die viel anderes Spielzeug haben und macht ihnen ein Angebot: „Leiht mir euer Spielzeug für ein paar Stunden, falls ich es nicht zurückgebe, bekommt ihr die Sandhaufen, die alle so mögen.“ Und so hat Sam mit nur einem Förmchen Zugriff auf fast das gesamte Spielzeugarsenal des Sandkastens bekommen. Ein guter Schachzug – eigentlich.

Denn solange der Kurs des FTT-Token (also des Sandhaufens) hoch war, lief für Sam alles glatt. Es gab immer genug Sicherheit für die Kredite. Tatsächlich fiel dieser Token dadurch auf, dass er sich im Vergleich recht gut hielt. Er machte nicht die ganz großen Kursverluste des gesamten Marktes mit. Inzwischen liegt die These nahe, dass der FTT-Token sich auch deswegen so gut hielt, weil Alameda und SBF die Einlagen ihrer Kunden nutzten, um den Kurs zu stützen – was eigentlich nicht nötig gewesen wäre, wenn Alameda einfach die Kredite zurückgezahlt hätte, die es aufgenommen hat. Dann hätte ihnen der Kurs des FTT-Tokens kurzfristig egal sein können. Haben sie aber offensichtlich nicht.

Sie zahlten nicht nur die Kredite nicht zurück; sie liehen sich sogar im Sommer dieses Jahres noch mehr Geld, circa vier Milliarden Dollar. Dieses Mal aber von FTX. Das legen öffentlich einsehbare Transaktionen nahe. Und es ist dieser Kredit, der schlussendlich zur Pleite von FTX führte. SBF hatte die Gelder seiner Kunden an die Schwesterfirma verliehen und damit gegen seine eigenen AGB verstoßen, die solche Geschäfte explizit ausschlossen.

Die große Frage lautet: Mit welchen Transaktionen hat Alameda Research eigentlich diese ganzen Milliarden verloren? Es war doch ein gefeierter, zum Teil auch gefürchteter Hedgefonds. Sichere Antworten auf diese Frage gibt es noch nicht, nur Theorien und Indizien.

Schlussendlich war es der bereits erwähnte Changpeng Zhao, der dieses auf Sand gebaute Traumschloss einstürzen ließ. Zhao ist selbst Gründer einer Kryptobörse, die Binance heißt. Sie ist Marktführer und hatte in dieser Funktion immer wieder in andere Börsen-Neugründungen investiert, um die eigene Stellung abzusichern. Auch in FTX. Im Sommer dieses Jahres kaufte SBF Binance aus dieser Position heraus mit, rate mal: FTT-Token! Zhao wurde damit schlagartig zum drittgrößten Eigentümer dieser Token. SBF hatte seinem Konkurrenten unwissentlich damit den Colt gereicht, mit dem dieser sein Ende besiegeln konnte.

Denn am 2. November veröffentlichte das Fachmedium Coindesk einen Artikel, der zeigte, woraus eigentlich das Milliardenvermögen von Alameda Research bestand: zu mehr als 70 Prozent aus FTT-Token. Das war eine für die breite Masse neue Information.

Um in der Sandkastenanalogie zu bleiben: Die Kinder, von denen Sam Spielzeug geliehen hatte, wussten bis dahin nicht, dass sie alle, wirklich alle ihr Spielzeug für die Sandhaufen verliehen hatten, die Sam selbst herstellen konnte. Unruhe machte sich im Sandkasten beziehungsweise auf dem Markt breit. Denn was, wenn die FTT-Token plötzlich an Wert verlieren würden?

Und hier kommt nun Changpeng Zhao wieder ins Spiel. Am 9. November, einem Sonntag, twitterte er, dass Binance die FTT-Token verkaufen wolle; er tat das mit Verweis auf eine spektakuläre Pleite, die die Kryptoindustrie im ersten Halbjahr erschüttert hatte. Der Markt verstand das Signal. Die Anleger suchten das Weite, verkauften FTT-Token und zogen in Massen ihr Geld von der Kryptobörse FTX ab. Es begann ein schnöder, altbekannter Bankrun. Mehr Leute wollten Geld abheben, als FTX besaß. Das Endergebnis: Bankrott.

Nein, Krypto ist nicht tot

Danach übernahm John Ray III. als Insolvenzverwalter die Geschäfte von FTX. Er hatte 20 Jahre zuvor mit dem Energiehändler Enron den bis dato größten Bankrott der US-Geschichte abgewickelt. Nachdem er Einblick in die Bücher von FTX nehmen konnte, überstellte er dem zuständigen Insolvenzgericht einen Bericht, der für alle lesbar im Internet steht. Darin schreibt er: „Noch nie in meiner beruflichen Laufbahn habe ich ein derartiges Versagen bei der Unternehmenskontrolle und ein derartiges Fehlen vertrauenswürdiger Finanzinformationen erlebt.“ Ihm sei es unmöglich gewesen, eine komplette Liste aller FTX-Angestellten zu bekommen, eine zentrale Buchhaltung gäbe es nicht, genauso wenig wie geregelte Auszahlungswege für Gehälter.

„Mitarbeiter der FTX-Gruppe stellten Zahlungsanfragen über eine Online-‚Chat‘-Plattform, auf der eine uneinheitliche Gruppe von Vorgesetzten Auszahlungen genehmigte, indem sie mit personalisierten Emojis antworteten“, schreibt er. Und weiter: Die Kontrolle lag „in den Händen einer sehr kleinen Gruppe unerfahrener, unbedarfter und potenziell beeinträchtigter Personen.“

So etwas habe er noch nicht erlebt, schreibt der Anwalt, der den Milliarden-Betrug von Enron von innen gesehen hat. Reuters berichtet wenig später, dass SBF eine Hintertür bei FTX eingebaut hatte, die es ihm erlaubte, in kompletter Eigenregie die Gelder der Börse hin- und herzubewegen, ohne dass es jemand mitbekam. Auch das eine Parallele zum Fall Enron, wo die gleichen Bilanztricks angewandt wurden. SBF dementiert, dass es diese Hintertür gab.

Die FTX-Saga hat noch keinen finalen Abschluss gefunden. SBF jedenfalls ist noch auf freiem Fuß auf den Bahamas – und die geprellten Kunden werden Jahre warten müssen, bis sie vielleicht einen Teil ihres Geldes wiedersehen. Dennoch hat schon jetzt die Schlacht um die Deutung dieser Pleite begonnen. Viele Medien, die an ein Massenpublikum gerichtet sind, sehen darin „Kryptos Untergang“ (Economist), nehmen sie zum Anlass „Bye, bye Bitcoin“ (Süddeutsche Zeitung) zu rufen oder gar die alte Klischee-Schlagzeile „Krypto ist tot“ (Times of India) auszupacken.

Dabei gibt es auch noch eine andere Deutung, die auf das genaue Gegenteil hinausläuft: Gerade der Fall FTX zeigt, was Krypto ausmacht. Denn FTX war eine zentral geleitete Börse, der man vertrauen musste. Kryptoprotokolle basieren darauf, dass man nicht Menschen, sondern für jeden einsehbarem Programmiercode vertraut.

Der Berliner Martin Köppelmann hat vor Jahren mit Gnosis ein Kryptoprotokoll gegründet, das es Teams unter anderem ermöglicht, ihre Kryptocoins komplett selbst zu verwalten. Er sagt: „Es ist schon möglich, dass es strukturellen Schaden gibt. Aber trotzdem ist dieser Fall eine Bestätigung der Kryptokonzepte. Jeder, der nahe dran oder betroffen ist, ist sich nun extrem des Unterschiedes bewusst: zentrale Börse versus eigenes Wallet.“ Mit „Wallet“ werden die Programme bezeichnet, die dabei helfen, Kryptocoins komplett allein aufzubewahren. „Wir haben einen Inflow an Assets“, sagt Köppelmann. Was bedeutet: Immer mehr Menschen setzten auf Eigenverwaltung. Köppelmanns These wird durch andere Fakten gestützt: Nach der FTX-Pleite haben Anleger mehrere Milliarden Dollar von zentralen Börsen abgezogen.

Sam Bankman-Fried hat dem Publikum gegeben, was es verlangte

Was der FTX-Fall für die Zukunft der Blockchain-Technologie bedeutet, ist aber nur eine Frage, die speziellere. Die allgemeinere Frage bezieht sich auf alle Unternehmen: Denn hätte SBF seinen Betrug solange durchziehen können, wenn er sich nicht ein bisschen progressiv, ein bisschen smart, ein bisschen altruistisch geriert hätte und so das vermeintlich anrüchige „Krypto“, in dem alle nur schnell reich werden wollen, auch für Außenstehende verdaulich machte?

Immer mehr Firmen versuchen mit sogenanntem Woke-Washing ihr Image aufzubessern. Sie geben vor, nicht nur Geld zu verdienen, sondern „die Welt auch zu einem besseren Ort“ zu machen. Aber ist das die Aufgabe von Unternehmen? Oder anders gefragt: Wem nützen gute Taten, wenn sie mit Betrug finanziert werden?

Wer Schuld trägt, ist glasklar: SBF und seine Clique. Aber jeder große Betrüger kann seinem Verbrechen nur nachgehen, weil das Publikum an die Fantasie glauben will, die der Hochstapler erschafft. Der Betrüger gibt dem Publikum, wonach dieses verlangt.

SBF gab den eher linken Eliten der USA Zugang zur wilden Kryptowelt, ohne sich dabei mit halbseidenen Typen abgeben zu müssen. SBF war einer von ihnen. Das war der eigentliche Vertrauensbruch von SBF: Er gaukelte der progressiven Welt vor, dass sie die Reichtümer der Kryptowelt haben kann, ohne sich mit der Technik oder den Werten dieser Welten gemein machen zu müssen.

Von allen Täuschungen, die SBF in den vergangenen Jahren erfolgreich zu Ende brachte, war das wahrscheinlich seine größte. Das Meisterstück eines Jahrhundertbetrügers, der Menschen um ihr Geld brachte – und um ihre Illusionen.


Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Der Jahrhundert-Betrug

0:00 0:00

Einfach unterwegs hören mit der KR-Audio-App

Prompt headline