Wann hast du das letzte Mal auf Facebook den Beitrag einer Freundin gesehen? Ein Urlaubsfoto vielleicht oder eine Suche nach einer Bohrmaschine? Geht es dir wie mir, dann ist das schon sehr lange her. Stattdessen sehe ich Beiträge der Südddeutschen Zeitung, unsere Krautreporter-Kacheln und Posts aus dieser Hip-Hop-Vinyl-Verkaufsgruppe, in die ich vor Jahren eingetreten bin – und wo ich noch nie etwas gekauft habe. Oh und natürlich Werbung! Für gefälschte Leinenhemden zum Beispiel oder eine Uhr, die „von Messinstrumenten der Seefahrt inspiriert ist“.
Bei Instagram ist es ähnlich: Bis auf wenige Ausnahmen dominieren Influencer:innen – große wie kleine – und Medien meinen Feed. Oft frage ich mich, ob überhaupt noch echte Menschen in den Sozialen Netzwerken posten.
Die Sozialen Netzwerke verändern sich gerade massiv. Plattformen wie Facebook und Instagram legen weniger Wert auf Freunde und soziale Verbindungen und setzen uns stattdessen Inhalte vor: Videos und Posts von Influencer:innen.
Das verändert, was wir in unseren Timelines sehen. Aber auch, wie wir kommunizieren, was wir konsumieren – und wie unsere Aufmerksamkeit zu Geld gemacht wird.
Du bist Facebook zwei Dollar wert – im Monat!
Im Film „The Social Network“, über den Aufstieg von Facebook, gibt es eine Szene, die den Riesen Facebook fast niedlich wirken lässt. Mark Zuckerberg hockt mit Freunden in seinem WG-Zimmer und programmiert die erste Version von dem, was später Facebook wird. Aber eine Sache fehlt ihm: Ein Algorithmus, der – vereinfacht gesagt – die Daten strukturiert, die vorher einfach nur willkürliche Ansammlungen von Zahlen und Buchstaben sind. Dafür braucht er seinen Freund Eduardo Saverin. Der kennt nämlich einen Algorithmus, der Zuckerberg dabei helfen soll: Den Elo-Algorithmus, der normalerweise die Stärke von Schachspieler:innen bewertet.
Am Ende der Szene stehen gerade mal 38 schnell gekritzelte Ziffern an dem kleinen WG-Zimmerfenster. Ein Mix aus Zahlen und Buchstaben soll aus Menschen Bewertungen machen. Aus ihnen entsteht der Algorithmus, von dem Expert:innen inzwischen sagen, selbst die Programmierer:innen würden ihn nicht mehr ganz verstehen.
Jeden Tag nutzen fast 1,96 Milliarden Menschen Facebook. Facebook ist damit immer noch das größte Soziale Netzwerk der Welt.
Oder besser gesagt eine der größten Werbeplattformen der Welt. 98 Prozent der Einnahmen des Konzerns stammen aus Werbung. Die Einnahmen übertrafen in den vergangenen Jahren regelmäßig die Erwartungen von Analyst:innen. Im ersten Quartal 2022 wuchsen sie um fast sieben Prozent auf 27,9 Milliarden US-Dollar. Jede:r Nutzer:in bringt also acht Dollar im Quartal. So schreibt es der Economist in einer Analyse des Konzerns.
Anfang November 2022 schien der Geldregen auf einmal vorbei zu sein. Medien berichteten von Massenkündigungen. 11.000 Mitarbeiter:innen sollen Meta, den Facebook Mutterkonzern, verlassen müssen. Das sind 13 Prozent der Angestellten. Die Gründe dafür beschreibt Mark Zuckerberg in einem Statement: „Zu Beginn von Covid hat sich die Welt rasch ins Internet verlagert, und die Welle des elektronischen Handels führte zu einem überdurchschnittlichen Umsatzwachstum.“ Viele, so schreibt er weiter, hätten erwartet, dass der Trend anhalten würde, auch nach der Pandemie. Auch Zuckerberg hatte deswegen die Investitionen massiv erhöht – und sich damit verschätzt. Inflation, die steigenden Zinsen und der Krieg spielen alle für Firmen eine Rolle, wenn sie entscheiden, ob sie in den sozialen Netzwerken – also auch auf Facebook – Werbung schalten sollten.
Wohin also steuert Facebook? Zuckerberg gibt einen Einblick in das, was ihm in Zukunft wichtig sein wird. Er nennt das „high priority growth areas“, also Wachstumsbereiche mit hoher Priorität. Prominent findet sich dort ein Punkt, der an die Szene im WG-Zimmer erinnert. „AI discovery engine“ steht dort. Zuckerberg will also am Algorithmus drehen, der entscheidet, was du auf Facebook siehst.
Das könnten in Zukunft wohl immer weniger Fotos von Freund:innen sein. Es könnte, sagen Beobachter:innen, die TikTokisierung von Facebook werden, die Zuckerberg da plant: Nichts wäre dann in Sozialen Medien mehr, wie es mal war. (Wenn du nicht genau weißt, wie Tik Tok funktioniert, empfehle ich dir diesen Text von mir.)
Der soziale Graph: Wen magst du?
Um das Ende der Sozialen Medien zu verstehen, müssen wir den Unterschied zwischen den Algorithmen auf Facebook und TikTok verstehen.
Alles beginnt in einer Mädchenschule 1932 in Hudson, im Bundesstaat New York. Eine Gruppe Mädchen ist ausgebüxt. Die Schulleiterin Fannie French Morse engagiert den Psychologen Jacob Moreno, um herauszufinden, warum. Moreno hätte die Mädchen einfach nach ihren Gründen fragen können. Stattdessen fragt er lieber danach, wer mit wem befreundet ist, er rekonstruiert das soziale Gefüge der Freundinnen. Er zeichnet ein Diagramm, in dem jedes Mädchen einen Punkt darstellt und die Freundschaften untereinander als Linien zwischen den Punkten. Moreno erstellt also ein soziales Netzwerk. So kann er die Anstifterin für die Flucht ausmachen: Die 17-Jährige Ruth ist die Übeltäterin. Sie ist als erste Schülerin abgehauen, um ihren Ex-Freund zu besuchen.
Seine Forschungen veröffentlichte Moreno im Buch „Who shall survive“. Heute gelten sie als Grundlage für Theorien zu sozialen Netzwerken. Moreno entwickelte einen Klassifizierungsprozess, der, wie er schreibt, „Individuen zusammenzubringen soll, die zu harmonischen zwischenmenschlichen Beziehungen fähig sind.” Moreno möchte also diejenigen zusammenbringen, die besonders gut zusammen passen und zu einer sozialen Gruppe schweißen. Das klingt nach dem, für das Facebook mal gemacht war: Freunde und Familien zusammenzubringen, die über der ganzen Welt verstreut sind.
Übertragen auf Facebook heißt das: Der sogenannte „Social Graph“, also das Diagramm mit dem Wissen über dein soziales Netzwerk, liegt bei Facebook. Du erweiterst das Wissen mit jeder neuen Freundschaft und mit jeder Interaktion.
Brad Fitzpatrick, ein Programmierer und Schöpfer der Bloggingplattform LiveJournal, hat soziale Graphen mal als eine “globale Karte aller Menschen und ihrer Verbindungen” beschrieben. Und ja, Facebook malt wirklich so eine Karte.
Das klingt abstrakt, ich weiß. Ich versuche es mit einem Bild: Stell dir Facebook als Post vor. Die kennt deinen Namen, deine Adresse, die deiner Nachbar:innen und weiß, wer wem Briefe schickt. Wir können uns untereinander Postkarten aus Urlauben in Südspanien oder Uruguay schicken, immer werden sie durch die Post transportiert.
Die Post entscheidet so, was du von den Urlauben deiner Freund:innen mitbekommst. Und verdient etwas Geld damit, Werbung von Firmen auszuliefern. Eine Firma, die Sonnenhüte verkauft, könnte also zum Beispiel die Post beauftragen, all denen Werbung zu schicken, die selbst besonders oft Postkarten aus dem Urlaub schicken. Denn die können sicher Sonnenhüte gebrauchen. Nennen wir das: die soziale Post.
Nutzer:innen und die soziale Post schließen also eine Art Symbiose ab. Die Nutzer:innen schreiben Briefe und Postkarten aus ihrem Leben. Die soziale Post schickt diese Post quer durch die Welt. Und ergänzt die Briefkästen der Menschen manchmal mit der Werbung von Firmen, die sie bezahlen.
Der Empfehlungsgraph: Was willst du sehen?
Die Sozialen Netzwerke stehen vor einem Problem: Das durchschnittliche Leben ist, ehrlich gesagt, ziemlich langweilig. Nicht umsonst gibt es Promimagazine schon fast so lange, wie es Zeitschriften gibt. Also: Du hast zwar ein großes Netzwerk aus Freund:innen und Familie, die ihr Leben auf sozialen Plattformen teilen. Aber vielleicht interessiert dich die Harzwanderung deiner Cousine gar nicht so sehr. Zumindest weniger als die Flitterwochen von Britney Spears. Oder du erfährst über andere Wege davon, wie deine Cousine sich zwischen Quedlinburg und Halberstadt verlaufen hat. Zum Beispiel, weil du jeden Sonntag mit deiner Großmutter telefonierst. Also verlässt du die Plattform wieder und suchst die Beschäftigung woanders. Zum Beispiel bei der Gala.
Musst du dich erst durch öde oder uninteressante Inhalte wühlen, fühlen sich Plattformen an wie Arbeit. Das erklärt der Kommunikationswissenschaftler Andreas Schellewald. Er forscht zu Gaming und Social Media an der Goldsmiths Universität in London. „Menschen wollen oft nicht die Kontrolle darüber haben, was sie genau sehen“, sagt er. Die Auswahl aus einem riesigen Sortiment überfordere sie. Es reiche, wenn die Videos grob in die Richtung gehen würden, die Menschen gefalle. Wer früher schon mal viel zu lange durch eine Videothek gestreunt ist, nur um am Ende wieder einen Herr-der-Ringe-Teil auszuleihen, versteht, was er damit meint. Und Internet ist eine Videothek auf Crack. Es gibt eine unendliche Auswahl und ständig kommt Neues hinzu.
Hier tritt der sogenannte Empfehlungsgraph auf die Bühne. Gestützt auf Algorithmen, empfiehlt er Nutzer:innen Inhalte. Das ist das Erfolgsgeheimnis der Empfehlungsmedien. Sie nehmen uns Arbeit ab und halten uns mit ständig neuen interessanten Inhalten bei Laune.
Wir kennen das von Youtube, wo wir uns von einem Video ins nächste klicken und Stunden damit verbringen, zum Beispiel Dokumentationen über Erdmännchen zu schauen. Auch Netflix schlägt uns Filme und Serien vor, ohne dass wir darum gebeten haben.
Die Plattform TikTok aber treibt den Empfehlungsgraphen auf die Spitze. Und verzichtet sogar fast komplett auf den Social Graphen. Es gibt zwar eine Abo-Funktion, der Fokus liegt aber ganz klar auf dem endlosen Vorschlagsbandwurm, zugeschnitten auf dich und deine Vorlieben.
Zurück zum Bild mit der Post: In einer Welt mit einer Empfehlungspost würdest du jeden Tag Briefe im Postkasten finden, die zwar an dich adressiert sind, aber bei denen die Post entschieden hat, dass sie dich besonders interessieren könnten. Und je nachdem, welchen Brief du öffnest, bekommst du beim nächsten Mal angepasste Briefe.
Die fünf Lebensphasen eines Sozialen Netzwerkes
Facebook hat zu spät auf den Empfehlungsgraphen gesetzt. Und nun? Soziale Netzwerke verschwinden nicht so einfach (außer vielleicht Twitter, aber das ist eine andere Geschichte.) Das Soziale Netzwerk meiner Jugend StudiVZ gab es zum Beispiel bis März 2022, obwohl der Niedergang der Seite schon Ende 2009 begonnen hat, also dann, als Facebook größer wurde. Um bis zu 80 Prozent sollen die Seitenaufrufe bei StudiVZ damals eingebrochen sein.
Um zu ahnen, wie die Zukunft von Facebook aussehen könnte, sollten wir uns die Lebensphasen sozialer Netzwerke anschauen. Die funktionieren immer ähnlich, in fünf Phasen schreibt der Kulturwissenschaftler Michael Seemann in „Die Macht der Plattformen“.
Die erste Phase ist die Graphnahme. Die Plattform versucht, ein bestehendes Beziehungsnetzwerk anzuzapfen. Also zum Beispiel eine Universität, wie es bei Facebook der Fall war.
Die zweite Phase beschreibt Seemann als einen American-Football-Spieler, der mit dem Graphen losrennt. Es geht um Wachstum, darum, besser und schneller zu sein als andere Soziale Netzwerke. Denn nur so können die Beziehungen unter den Nutzer:innen besser beschrieben werden. Seemann schreibt: „Wachstum ist alles, was man hat, und Wachstum ist alles, was zählt.“
Phase drei ist die „Konsolidierung“, in die es nur die wenigsten Netzwerke schaffen. In dieser Phase geht es vor allem darum, ein nachhaltiges Geschäftsmodell zu entwickeln. Die Plattform muss sich jetzt für die Investor:innen auszahlen.
Das setzt sich in der vierten Phase fort. Seeman schreibt dazu: „Das Ende ist abzusehen, besser wird’s nicht mehr, also nimmt man mit, was geht.“ Also zum Beispiel Daten der Nutzer:innen, denen das Angebot es so schwierig wie möglich macht, die Plattform zu verlassen.
Erst gegen Ende dieser Phase und mit Beginn von Phase fünf, dem Niedergang, beginnt die Plattform zu schrumpfen. Erst langsam und dann immer schneller, weil immer mehr Menschen merken, dass die Plattform immer langweiliger oder einsamer wird. Nutzung und Umsätze schrumpfen in dieser Phase, erklärt Seemann, aber nicht auf Null. Deswegen wird die Plattform weiter gemolken, so lange es geht.
Ich rufe Seeman an. Ich will von ihm wissen, ob er Facebook schon abschreiben würde. „Wir befinden uns gerade in einer Phase der Instabilität“, sagt er. Facebook sei schon lange sehr stiefmütterlich von Mark Zuckerberg behandelt worden und spüre eben jetzt den Druck des schwächelnden Werbemarktes. Der konzentriert sich zum Beispiel auf TikTok, wo Nutzer:innen immer mehr Zeit verbringen.
Trotzdem habe Facebook ausgerechnet einen Vorteil, den TikTok nicht hat: Den Social Graph. Der ließe sich auch nicht so einfach kopieren, erklärt Seemann.
Die Empfehlungsgraphen dagegen schon. „Man braucht den Algorithmus nur mehr oder weniger nachzuahmen und kann dann den gleichen Service anbieten.“ So groß sie auch erscheinen mögen, hätten die Empfehlungen deshalb einen „prekären Erfolg“. Einen, der morgen auch wieder vorbei sein könne. Sollte, wie es manche Analyst:innen erwarten, TikTok in den USA irgendwann verboten werden, könnte zum Beispiel einfach ein anderer Dienst übernehmen, der nicht aus China stammt.
Wo wir im Netz in Zukunft unsere Urlaubsfotos teilen werden
Wo treffen wir uns also in Zukunft im Internet? Der Informatiker und Autor Cal Newport hat in einem Podcast eine These dazu: An vielen, vielen Orten. Wenn Newport Recht hat, dann wird es keine riesigen marktbeherrschenden Plattformen geben.
Die These passt zu den Beobachtungen anderer Analysten. Tyler Cowen, ein Wirtschaftsprofessor, prophezeit, in Zukunft werden wir viel mehr privat kommunizieren, also über Messenger wie Whatsapp.
Dazu kommen die halboffenen Communitys. Discord-Server oder Telegram-Gruppen zum Beispiel. Dort vernetzen sich Gleichgesinnte oft mit anonymen Profilen, ohne dass ein großes öffentliches Netzwerk dahinter steht. Trotzdem bilden sich Communitys, Freund:innen, die enge soziale Netze aufbauen.
Die Sozialen Netzwerke selbst, also Facebook, Instagram, würden in diesem Szenario zu reinen Konsummedien werden. Ein personalisierter Strom aus Inhalten, wie Tiktok. Das „Sozial“ könnte man dann eigentlich streichen. TikTok selbst möchte das ja auch gar nicht sein und spricht von einer „Entertainment-Plattform“.
Der Journalist Scott Rosenberg beschreibt diese zukünftigen Plattformen als ein „Mutanten-Fernsehen, mit einer unendlich großen Anzahl kontextfreier Kanäle, durch die man mit rasender Geschwindigkeit zappt.“ Professionelle Produzent:innen sorgen für Inhalte, die uns Empfehlungsgraphen zuschanzen.
Als ich Seemann, den Kulturwissenschaftler, danach frage, überlegt er kurz. Das könne schon so kommen. Aber wo sei dann ein Ort für öffentliche Kommunikation, der die Plattformen eigentlich auch sein sollten?” Also ein „Marktplatz der Ideen“, was Twitter immer sein sollte. Seeman ist überzeugt, dass es ein Bedürfnis in der Gesellschaft danach gebe. Aber vielleicht ist dort dann auch Platz für ein paar Urlaubsfotos oder die Suche nach einer Bohrmaschine.
Redaktion: Thembi Wolf; Schlussredaktion: Esther Göbel; Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Christian Melchert