Collage: Bekannte Tiktoker:innen vor einem Hintergrund aus Katzen

Jan Kopřiva, Cyrus Chew, Zoë Gayah Jonker, Manja Vitolic/Unsplash, David Livingston, Tristar Media, Pascal Le Segretain/Getty Images, Tiktok

Internet und Technologie

Wieso Tiktok mehr als nur Quatsch ist, verständlich erklärt

TikTok zeigt dir zwischen Katzenvideos und tanzenden Menschen Propaganda und Fake News. So verändert die App aus China gerade die Welt.

Profilbild von Tarek Barkouni
Reporter für das digitale Leben

Anfang Oktober 2022 fürchteten Eltern in den USA um ihre Kinder. Medien berichteten von einem gefährlichen Trend auf TikTok: Kinder und Jugendliche würden Teller und Tassen im Küchenmixer zermahlen, um das Pulver wie Kokain durch die Nase zu ziehen.

Wie bitte? Das ist ja furchtbar. Typisch Internet.

Niemand tut das wirklich. Es war ein sogenannter Hoax. Einzig der 23-jährige Schauspieler Sebastian Durfee hatte ein Video hochgeladen, in dem er die „Porzellan-Challenge“ vorspielt. Um die „Boomer“ ausflippen zu lassen, erklärte er.

Hat es funktioniert?

Absolut. Durfee forderte seine Follower:innen auf, in lokalen Facebook-Gruppen über „die Gefahren der Porzellan-Challenge“ zu berichten. Sein Video wurde über eine halbe Million Mal aufgerufen, und TikTok versah es mit einem Warnhinweis. Medien auf der ganzen Welt berichteten. Dass der Hoax so gut funktionierte, hat einen Grund: TikTok.

Diese Plattform mit den schnellen Videos.

TikTok, das ist für viele ein schwarzes Loch, aus dem nichts Gutes kommen kann. Noch dazu steht dahinter ein chinesischer Internetkonzern. Die App ist von den Handys vieler Jugendlicher aber kaum mehr wegzudenken – und auch von meinem nicht. Denn auf TikTok findest du das Rezept, aufgrunddessen Feta an vielen Orten in den USA ausverkauft war.. Aber auch Videos, die Wahlen beeinflussen sollen und Völkermorde verharmlosen.

TikTok verbreitet Hass und zensiert Menschen, die nicht in das Weltbild des Konzerns passen. Und die Plattform ist voller Fake News. Manche ernst, manche absurd, immer haben sie das Potenzial, viral zu gehen. Wie neulich, als die US-Behörden TikToker:innen warnten, Hühnchen in Erkältungsmedizin zu kochen.

Also ist es richtig, wenn ich meinem Kind TikTok verbiete?

Das kannst du ja mal versuchen. Anfang 2016 hat die Plattform noch 10 Millionen Nutzer:innen, ein halbes Jahr später 90 Millionen und nochmal ein Jahr später über 200 Millionen Nutzer:innen. Heute vertreiben sich monatlich eine Milliarde Menschen mit TikTok ihre Zeit. Facebook hat zwar fast drei Milliarden monatlich aktive Nutzer:innen, TikTok ist aber deutlich jünger: Ein Drittel der Nutzer:innen sind unter 18. Verbieten dürfte also unmöglich sein. Auf dem Schulhof sind garantiert genügend andere Smartphones mit der App unterwegs. Aber es hilft, wenn du weißt, was auf TikTok abgeht. Wie der Hype entstand – und wo die Gefahren liegen.

Worum geht es auf TikTok: Tanzen vor allem, richtig?

Das war mal so. Früher – das heißt in Social-Media-Jahren: 2017 – ging es bei TikTok um kurze Tanzchoreografien und Playback-Gesangseinlagen. Damals hieß die App noch Musical.ly und hat ganz einfach funktioniert: Nutzer:innen nahmen ein Video auf und hinterlegten den Clip mit einem Song.

Je professioneller die Nutzer:innen wurden, desto ausgefeilter fielen die Choreografien aus. Die eineiigen Zwillinge Lisa und Lena sind zum Beispiel zwei der ersten, erfolgreichen deutschen TikToker:innen, schon mit 14 Jahren begann ihre Karriere.

https://www.youtube.com/watch?v=j4CKfnjiIns

Ich weiß, was du jetzt denkst.

Ach, ja?

Das ist doch albern, überflüssig und merkwürdig. Warum sollte sich das jemand anschauen?

Ja, so ähnlich. Außerdem ist es nicht besonders gut.

2018 wurde aus Musical.ly dann TikTok, die Grundprinzipien blieben aber gleich.

Lisa und Lena löschten ein Jahr später, mit 16, ihren TikTok-Account. Da waren sie bereits reich. Nach einer Pause kehrten sie 2022 zurück und haben heute 13,5 Millionen Follower:innen. Das ist viermal die Bevölkerung von Berlin.

TikTok hat also Deutschland erreicht?

Ja und es wächst. Aktuell sind knapp 11 Millionen Menschen auf der Plattform aktiv. Auch die älteren finden immer mehr Spaß daran. In nur fünf Jahren ist die App zu einer der bekanntesten, am meisten heruntergeladenen Apps geworden. Im Jahr 2021 machte TikTok einen Umsatz von 58 Milliarden US-Dollar, größtenteils durch Werbung. Das ist fast doppelt so viel wie der Berliner Haushalt für das Jahr 2022.

Ich will mir TikTok gerade nicht herunterladen, wie funktioniert die App denn nun?

Grundsätzlich wie viele andere soziale Netzwerke. Es gibt eine Kommentarfunktion, einen Like-Knopf, eine Teilen-Funktion, die Möglichkeit Beiträge zu speichern und Profilen zu folgen.

Aber: Bei TikTok wischst du dich durch einen unendlichen Feed von Videos. Stell es dir so vor: Du liest einen superkurzen Artikel auf unserer Webseite und am Ende erwartet dich nicht die Kommentarspalte, sondern die nächste Überschrift. Eine, die dich neugierig macht. Also liest du weiter, um noch eine Überschrift präsentiert zu bekommen. Und dann noch eine. Und noch eine.

Und so endet dein Plan, nur diesen einen besonders interessanten Artikel über künstliche Intelligenz zu lesen damit, dass du zwei Stunden lang vorm Bildschirm klebst. So funktioniert TikTok: Die Videos sind wie auf einer Perlenkette aneinandergereiht, mit jedem Wisch landest du bei einem Neuen. Und interessant sind die meisten, denn ein Algorithmus, der dein Verhalten kennt, wählt sie für dich aus.

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So wie Google mir die besten Ergebnisse anzeigt?

So ähnlich. Über den Algorithmus von TikTok ist nicht sehr viel bekannt. Aber im Prinzip funktioniert er so: Wenn ich durch meinen Feed wische und mich einige Zeit treiben lasse, bleibe ich viel häufiger bei den Katzenvideos hängen, ich gebe ihnen viel häufiger ein Like oder kommentiere sogar. Ähnliches wird bei Rezepten mit Spinat passieren. Gehe ich auf das Profil, das das Video gemacht hat, scrolle nochmal zurück, pausiere oder geht mein Daumen Richtung „Folgen“-Knopf, registriert der Algorithmus das. Dann zeigt mir TikTok viele, viele, viele Katzen- und Spinatvideos.

Das ist natürlich stark vereinfacht. TikTok vermerkt auch, woher ich komme, welche politische Einstellung ich habe, welche Menschen ich attraktiv finde, welche Musik ich höre, ob ich ein Auto besitze und dass ich wirklich jedes verdammte Video von @adventuresinaardia like. Eugene Wei, ein Tech-Blogger hat mal gesagt: „Wenn du in TikTok hineinschaust, schaut TikTok in dich hinein.“

Gruselig!

Der Kommunikationswissenschaftler Andreas Schellewald forscht zu den Mechanismen auf TikTok. Er hat mir gesagt, dass der TikTok-Algorithmus manchmal sogar zu gut ist.

Wie das?

Es gebe ein Mindestmaß an Personalisierung, das Menschen als angenehm empfinden, sagt er. Manchmal sei der Algorithmus aber „scarily precise”. Er spiele also beispielsweise ein Video, das einfach zu gut auf die eigene Situation passt.

Als ich bei einer viel zu langen TikTok-Session auf einmal ein Video vor mir hatte, das sich über die IKEA-Bettwäsche lustig gemacht hat, die gefühlt jede:r hat und die auch ich gerade auf meinem Bett aufgezogen hatte, musste ich das Handy erstmal weglegen.

Bei manchen Menschen löst das noch stärkere Ablehnung aus, sagt Schellewald: „Die Beziehung zwischen Nutzer:innen und Algorithmus ist sehr fragil. Manchmal reicht ein Video, um diese Beziehung in Frage zu stellen.”

Der Algorithmus lernt uns also kennen. Wenn ich auf TikTok gehe, sieht die Seite demnach ganz anders aus als für dich.

Genau. Was du hier siehst, sind Screenshots von den ersten drei Videos, von meinem Feed und dem eines Freundes.

Fast immer, wenn wir uns sehen, spielen wir unser TikTok-Spiel. Dann legen wir unsere Telefone nebeneinander und schauen uns die unterschiedlichen Feeds an. Es passiert selten, dass wir mal das gleiche Video treffen.

TikTok ist für mich eine Art riesiges Wimmelbild. Diese Bilder habe ich als Kind schon geliebt: Überall gibt es was zu entdecken, manche Sachen sind absonderlich, andere einfach inspirierend (wie die Videos von Marie, die ich mal in meinem Newsletter vorgestellt habe) und wieder andere einfach nur wahnsinnig lustig.

TikTok ist aber auch für seine irre viralen Videos bekannt. Manchmal reicht ein einziges Video aus, um ein Millionenpublikum zu erreichen.

Da kenne ich ein paar! Das mit dem Feta im Backofen oder das mit dem Typen, der gelangweilt auf Life Hacks reagiert.

Ein anderes Beispiel: Der TikTok-Nutzer @querindenwesten hat im Sommer mit einem 31-Sekunden Video 7,7 Millionen Menschen erreicht.

Eigentlich sagt er darin nur diesen Satz: „Hi, ich bin Jean, ich bin 18 Jahre alt, ich habe vor drei Tagen mein Studium abgebrochen und dachte mir, ich lauf einfach Mal quer in den Westen.”

Ein Reise-Influencer also?

Eher das Gegenteil. Knapp 360 Kilometer hatte Jean damals vor sich, er hatte nichts vorbereitet, nur ein paar Schlappen und einen Schlafsack dabei. Er kam nicht mal 50 Kilometer weit. Aber das Video wurde sofort ein Hit! Menschen machten es ihm nach, luden ihn ein und Jean wurde ein Meme.

Weil TikToks so kurz und der Feed so schnellebig ist, weiß TikTok sehr schnell, welches Video viral gehen könnte, ohne dass Menschen es selbst aktiv teilen müssen.

Ich selbst habe gemerkt, wie schnell ich dem Algorithmus zutraue, dass er weiß, was mich interessiert. Manchmal werden mir Videos in den Feed gespült, die Tage oder sogar Wochen alt sind. Manche behandeln Themen, die mich schlicht nicht interessieren, aber trotzdem schaue ich sie mir an. Ich lasse mich von einem Video ins nächste treiben. Zugegebenermaßen vergesse ich dabei auch mal die Zeit und mir selbst gesetzte Limits.

Du weißt also, dass TikTok nicht gut für dich ist und tust es trotzdem?

Von außen betrachtet, mag das so aussehen. Eine stumpfe endlose Berieselung von Videos, viele kleine Dopaminschübe. Die Suche nach der perfekten Unterhaltung, einem perfekten Video, sagen wir, ein Kätzchen, das einen Spinatauflauf kocht.

Die Zeit, die Menschen auf TikTok verbringen, wächst stetig. Um zwei Drittel seit 2008. Nutzer:innen in Deutschland verbringen jeden Monat durchschnittlich 23 Stunden mit der App. Ich gehöre dazu. Liebe Chefredaktion, liebe Mutter, den nächsten Satz bitte überlesen: Laut meinem Handy verbringe ich aktuell im Schnitt zwei Stunden täglich auf TikTok. Was mich gerade dazu gebracht hat, eine maximale Nutzungsdauer einzustellen.

Okay, ich fasse zusammen: Ein sehr schneller und guter Algorithmus scannt auf TikTok Nutzer:innnen und sorgt dafür, dass man lange auf der Plattform bleibt. Zu sehen gibt es vor allem Tanz, Rezepte und Fake News. Und wenn man lange genug sucht, spinatkochende Kater.

Ein deutscher TikToker beschrieb das, was er an der Plattform so liebt, als: „Erstens Halbkreativität, dann Relatabilty und Anarchie.“

Halbkreativität, Relata…

Der Dresdner Professor Simon Meier Vieracker ist Linguist und hält ein Seminar zu TikTok. Außerdem hat er einen gut laufenden TikTok-Account mit über 60.000 Follower:innen, auf dem er die deutsche Sprache erklärt. Er sagt: Auf TikTok könne man seine Kreativität schnell mit einem kurzen Video ausleben, ohne großartige Vorkenntnisse. Deswegen könne man auch relaten, also sich identifizieren, weil alle – egal ob Politiker:innen oder Studierende – auf dieselben Trends und Sounds reagieren.

Gib mir doch mal ein Beispiel.

Ich habe sogar drei: Schau dir diesen Artikel in der New York Times über Angelica Hicks an: Sie stellt aus Haushaltsgegenständen Outfits von den großen Laufstegen nach. Da entsteht aus Klopapier und Panzerband ein Kleid, das vorher auf der New York Fashionweek vorgestellt wurde. Oder der Account @leopartnik, der Tiervideos mit Strichen und kleinen Ergänzungen so bearbeitet, dass aus einem Papagei zum Beispiel ein dramatisch marschierender Ritter wird! Und drittens der Trend, bei dem aus diesem Video, in dem sich eine Frau ihre Hüfte an ihrem Bett anschlägt, eine musikalische Offenbarung entsteht.

Naja. Finde ich weder witzig noch kreativ.

Musst du auch nicht. Trotzdem verändert in der Realität TikTok das Leben von Menschen. Das beste Beispiel hierfür ist Khaby Lame – der König von TikTok.

Wer ist das?

Er hat die meisten Follower:innen von allen, du hast ihn vorhin schon erwähnt: Der Typ mit den Life Hacks. Während der Corona-Pandemie verlor Lame seinen Job in einer Fabrik in Italien. Zwei Jahre später macht er Werbung für die Kleidermarke BOSS und ist Multimillionär. Er verdient mit jedem neuen TikTok schätzungsweise 700.000 €.

Das Krasseste daran ist: Er hat das alles geschafft, ohne ein Wort zu sagen und mit demselben, sich endlos wiederholenden Witz. Seine Videos folgten immer einem Muster. Lame reagiert auf einen vermeintlich heftigen Lifehack oder ein Werkzeug, das verspricht, das Leben viel einfacher zu machen. So wie hier, wo er eine Banane einfach schält, anstatt sie kompliziert mit einem Messer zu filetieren.

Das ist schon lustig.

Lustiger Content dominiert eben auf TikTok. Das Pew Research Center hat übrigens gezeigt, dass TikTok beim Konsum von Nachrichten kaum eine Rolle spielt. Gerade mal zehn Prozent der erwachsenen Amerikaner:innen bekommen ihre Nachrichten auf TikTok, auch wenn zum gesamten Bild gehört, dass die Zahl – im Gegensatz zu fast allen anderen sozialen Netzwerken – steigt.

Und auch Aktivist:innen haben gemerkt, dass Aufklärungsinhalte auf TikTok gut funktionieren. Tara-Louise Wittwer ist so eine Aktivistin und betreibt den Account @wastarasagt. Dort zeigt sie auf TikToxic misogynes Verhalten von anderen Accounts auf – zum Beispiel von Möchtegern-Datingcoaches.

Und TikTok ist auch ein wichtiger Raum für marginalisierte Gruppen.

Na da bin ich mal gespannt.

Viele finden auf TikTok eine Community, in der sie sich verstanden fühlen. So gibt es auf TikTok eine große LGBTQ-Community, ADHS-Patient:innen helfen sich dort gegenseitig oder Menschen mit Migrationsgeschichte teilen ihre Erfahrungen mit dem deutschen Staat, der deutschen Gesellschaft oder rassistischen Kommentator:innen).

Vorhin hast du noch Fake News erwähnt.

Das stimmt leider. Im Vorfeld der letzten Bundestagswahl gab es viele Kanäle, die sich als prominente Politiker:innen ausgegeben haben. Die Überprüfung und Kennzeichnung durch TikTok und die deutsche Presseagentur dieser Fake-Videos hat nicht effektiv funktioniert, hat die Mozilla-Foundation analysiert.

Ich habe beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) nachgefragt. Das Amt kümmert sich darum, dass unsere Netzwerke sicher vor Hackerangriffen sind, aber auch um großangelegte Fake News-Pläne. Das BSI hat mir zwar gesagt, dass es keinen Fall von Wahlbeeinflussung auf TikTok kennt, aber man würde natürlich auch TikTok beobachten.

Vor den Parlamentswahlen in Kenia hatte die Mozilla-Foundation auf TikTok mehr als 130 Videos gefunden, die Fake-News verbreitet haben. Insgesamt wurden diese Videos vier Millionen Mal angeschaut.

Erinnerst du dich, dass ich beschrieben habe, dass man immer mehr von dem Content bekommt, den man mag?

Ja. Der Algorithmus.

Das kann in eine Abwärtsspirale aus Hass, Wut oder gesundheitsgefährdendem Verhalten führen. Der Spiegel hat gezeigt, wie schnell das gehen kann. In einem Experiment haben Redakteur:innen verschiedene Profile erstellt. Eines, bei dem es der fiktiven Person um Gewichtsverlust geht, eines, in der sich das Profil mit Einsamkeit, Depression, Liebeskummer und Suizid beschäftigt und eines, das bei harmloser Astrologie anfängt und bei Impfskepsis landet.

Ich habe das auch ausprobiert.

Und was kam raus?

Ich habe ein leeres Profil angelegt. Am Anfang hatte ich die Wahl aus Fitness, Tanz und Kochvideos, Politisches war nicht darunter. Erst später, als TikTok gemerkt hat, dass ich deutsche Videos bevorzuge, zeigte es mir auch politische Inhalte.

Aus welcher politischen Ecke?

Am Anfang waren aufklärende Videos darunter, die, die Verschwörungserzählungen aufgedeckt haben. Aber auch Videos, in denen Frauen ihre Rechte abgesprochen bekamen oder die Angst vor einer kalten Wohnung und Stromausfällen geschürt haben. Die habe ich geschaut und unverfänglichere Videos übersprungen.

Mein Versuch hat einen halben Tag gedauert, dann war ich in der Spirale drin. Am Ende war mein Profil fast das genaue Gegenteil von dem, was ich sonst schaue: Viele schnelle Autos, Männer, die in die Kamera schreien, dass ich ein Weichei sei und härter werden müsse – und Survival-Tipps.

Wo wir über politische und ideologisch gefärbte Inhalte sprechen: TikTok ist doch eine chinesische Firma oder?

Vollkommen richtig. TikTok gehört der Firma ByteDance. Die Software-Firma hat der Chinese Zhang Yiming vor zehn Jahren gegründet. Heute hat das Unternehmen seinen Sitz auf den Kaimaninseln und wird von Investoren auf der ganzen Welt finanziert, darunter das amerikanische Unternehmen General Atlantic und die japanische SoftBank.

Der Hauptsitz des Unternehmens befindet sich in Peking. Wie andere große chinesische Unternehmen unterliegt es damit dem offiziellen und inoffiziellen Einfluss der Kommunistischen Partei Chinas.

Wie sieht dieser Einfluss denn aus?

Ein Beispiel: 2018 war ByteDance gezwungen, die App Neihan Duanzi zu löschen, mit der über 200 Millionen Nutzer:innen einfache Witze ausgetauscht haben. Die chinesische Medienaufsichtsbehörde hatte behauptet, dass dort „unangemessene“ Inhalte „starken Unmut unter den Internetnutzern“ ausgelöst hätten. Zhang, der Gründer von ByteDance, entschuldigte sich öffentlich: „Das Produkt ist auf Abwege geraten und hat Inhalte veröffentlicht, die den sozialistischen Grundwerten widersprechen. Das ist alles meine Schuld. Ich akzeptiere die gesamte Strafe, da es nicht gelungen ist, die öffentliche Meinung in die richtige Richtung zu lenken.“

Heftig, aber da geht es ja nicht um TikTok…

Die chinesische Regierung und TikTok leugnen jeden Vorwurf, dass Einfluss auf TikTok genommen wird. Es gibt aber immer wieder Hinweise, dass doch Zensur stattfindet.

So hatten Menschen mit Behinderung und dicke Menschen Anfang 2020 systematisch weniger Reichweite auf TikTok.

Bitte was?

Der Vorwurf lautete damals, dass TikTok intern eine „ugly content policy” verfolgte. Moderator:innen, das berichteten Investigativmedien 2020, sollen dazu angehalten worden sein, bestimmte Inhalte zurückzuhalten. Unter „ugly”, also hässlich, fielen auch Menschen mit Behinderung und dicke Personen. Genauso sollten Slums besser nicht gezeigt werden. Bei TikTok habe man so neue Nutzer:innen nicht abschrecken wollen.

Stell dir das mal vor: Du möchtest auf TikTok Aufmerksamkeit für Diskriminierungen, die du erfährst, schaffen – nur um dann von genau dieser Plattform diskriminiert zu werden. Das trifft übrigens auch die queere Community. TikTok setzt offenbar Wortfilter ein, die eine Diskussion über bestimmte Themen erschweren. Dazu gehört, Berichten zufolge, auch LGBTQ, außerdem gay, homo und schwul.

Was noch?

Sex natürlich. Und Begriffe, wie Heroin, Drogen und Prostitution. Außerdem findet der Angriffskrieg in der Ukraine im inzwischen abgeschalteten russischen TikTok nicht statt. Ebenfalls ein Skandal: TikTok hat Videos versteckt, die die Existenz der Unterdrückungslager für Uiguren gezeigt haben. Der deutsche Journalist Sebastian Meineck hat das für das Online-Magazin Vice getestet. In Videos kritisiert er China und fragt sich, „ob ‚kultureller Genozid’ ein passender Begriff für die Verbrechen Chinas an der uigurischen Bevölkerung ist.” Keines seiner Videos bekam sonderlich viel Reichweite, was bei der Masse an täglich hochgeladenen Videos nicht ungewöhnlich ist. Dass die Videos in der Suche nach dem entsprechenden Hashtag nicht auffindbar sind, hingegen schon.

Wie reagieren die Nutzer:innen auf diese Zensur?

Die meisten dieser Wortfilter sind noch aktiv. Deshalb verwenden User Ersatzbegriffe in Beschreibungen oder Texttafeln in Videos. Zum Beispiel „de4d“ für das Wort „dead“, also tot. Ein anderer Begriff für Suizid ist „Unalive“. So schaffen die Nutzer:innen es, die Wortfilter zu umgehen und trotzdem über Themen wie Depressionen und suizidale Gedanken zu sprechen. Mit verfremdeten Wörtern oder Emojis werden auch pornografische Inhalte verschlüsselt.

Als ein Rechercheverbund aus NDR, WDR und Tagesschau TikTok mit den Zensurvorwürfen konfrontiert, verspricht eine Sprecherin eine „gründliche Überprüfung” und gibt an, zumindest in einem konkreten Fall den Fehler „korrigiert” zu haben.

Problematisch an TikTok ist also die Zensur politischer Inhalte. Wie ist das eigentlich mit den Daten?

Die App hat Zugriff auf die Daten von Hunderten Millionen Menschen, ihre Interessen und die privaten Nachrichten, die sie sich auf der App hin- und herschicken. Das ist für eine große Unterhaltungsplattform nicht ungewöhnlich. Weil TikTok aber eben aus China stammt, sehen viele darin ein Sicherheitsrisiko.

Nach chinesischem Recht darf die Regierung nämlich mehr oder weniger alle Daten von chinesischen Unternehmen verlangen – auch solche, die im Ausland gespeichert sind. Und es gibt immer wieder Berichte darüber, dass die TikTok-Daten in China abrufbar sind – und auch abgefragt werden. Zum Beispiel auch Passwörter, die im App-eigenen Browser eingegeben werden, der sich öffnet, wenn du einen Link in der App öffnest.

Oha. Gut, dass ich mir TikTok noch nicht heruntergeladen habe…

Ich habe den Bundesdatenschutzbeauftragten gefragt, wie und ob TikTok den deutschen Datenschutzbestimmungen gerecht wird: Tut es nicht. „Die Plattform kann nach unseren vorläufigen Erkenntnissen nicht datenschutzkonform genutzt werden. Der BfDI kann daher von einer TikToK-Nutzung nur abraten.“ Das gelte besonders für politische Entscheidungsträger, an denen die chinesische Regierung natürlich besonderes Interesse hat.

Natürlich halten sich nicht alle daran. So hatte das Gesundheitsministerium unter Jens Spahn 2020 einen Account, auf dem während Corona eine Impfkampagne lief. Der wurde zwar nach zunehmenden Sicherheitsbedenken wieder geschlossen, zeigt aber das Dilemma in dem Politiker:innen stecken. Die CSU hat zum Beispiel einen recht gut laufenden Account und spielt dort für Deutsche verhältnismäßig professionell mit viralem Content.

Wow. Ich weiß gar nicht, wie ich mich entscheiden soll. Man scheint der Plattform ja nicht entkommen zu können – obwohl von Propaganda über Zensur bis zum Datensammeln so viel problematisch daran ist. Wie gehst du denn damit um – kannst du guten Gewissens TikTok-User sein?

Keine Ahnung, mein Profil wird weiterhin erstmal ein halbwegs anonymer contentloser digitaler Fußabdruck sein. So wie ich es auf anderen Plattformen auch gestalte.

Eigentlich ist es aber auch egal, wie ich TikTok nutze. Denn der Einfluss der App ist inzwischen so groß, dass auch Instagram das Prinzip der kurzen Videos – die sogenannten Reels – kopiert haben. Wir werden nun auch dort von Empfehlungsalgorithmen gesteuert – darum geht es in meinem nächsten Text. Wenn du den nicht verpassen willst, kannst du hier meinen kostenlosen Newsletter Hyperfixation abonnieren.

Klar ist aber: TikTok hat – genau wie Facebook vor 15 Jahren – verändert, wie wir die Welt sehen. Ob wir mitswipen, oder nicht.


Danke an über 100 Teilnehmer:innen meiner Umfrage. Eure Fragen haben diesen Text strukturiert.

Redaktion: Thembi Wolf; Schlussredaktion: Lisa McMinn; Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger, Marie Schendel

Wieso Tiktok mehr als nur Quatsch ist, verständlich erklärt

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