Es gibt einen Begriff, der oft benutzt wird, wenn es um die Ereignisse in Iran geht. Er findet sich nicht nur in Berichten deutscher Medien über die Ereignisse in Iran, sondern auch in Reden vieler Politiker:innen wieder. Er lautet: Unruhen. Der Begriff steht in vielen Überschriften, egal ob im Deutschlandfunk, dem Tagesspiegel oder der Süddeutschen Zeitung, die sogar noch einen Schritt weiter geht und die Proteste „Kopftuch-Unruhen“ nennt.
Das Problem ist: Wer die Proteste in Iran „Unruhen“ nennt, legt nahe, dass dort vorher „Ruhe“ geherrscht habe. Gleichzeitig wird die Bedeutung der Proteste kleingeredet. Denn „Unruhe“ ist auch ein politischer Begriff: Irans Präsident Ebrahim Raisi bedient sich dieses Begriffs ebenso wie der iranische Kommandeur der Revolutionsgarden, Hussein Salami. Doch die Wahrheit ist: In Iran beginnt eine Revolution. Und der Westen täte gut daran, das nicht nur zu akzeptieren – sondern die Demonstrierenden endlich auch zu unterstützen.
Frauen sind per Gesetz nur die Hälfte eines Mannes wert
Es war schon früh klar, dass diese Proteste anders sind als alles, was die Islamische Republik in den mehr als 43 Jahren ihres Bestehens durchgemacht hat. Die Menschenmassen auf der Beerdigung von Jina Mahsa Amini, die Frauen, die ihre Kopftücher in der Luft schwenkten und alle zusammen „Jin, Jiyan, Azadi“, „Frau, Leben, Freiheit“ riefen: Das waren die ersten Hinweise darauf, was in den kommenden Wochen folgen würde.
Die Unterdrückung der Frau ist ein zentraler Pfeiler der Islamischen Republik. Frauen sind per Gesetz nur die Hälfte eines Mannes wert. Ein iranischer Kleriker drückte es einmal so aus: Frauen seien nichts anderes als Tiere, von Gott geschaffen, um das Verlangen von Männern zu befriedigen. So sind es besonders viele Frauen und Mädchen, die sich in diesen Wochen mutig zivil ungehorsam zeigen.
In vielen Städten des Iran ist es für Frauen in den vergangenen Wochen fast zur Normalität geworden, ohne Kopftuch aus dem Haus zu gehen. Ein Protestierender aus Teheran erzählt im Gespräch mit einem kanadischen Exil-Podcast, dass er auf seinem Arbeitsweg jeden Morgen 35 bis 40 Frauen sehe, die ohne den verpflichtenden Hijab durch die Straßen liefen. Obwohl es sie ihre Freiheit und ihr Leben kosten kann. Er strecke als Zeichen der Unterstützung immer die Faust in die Höhe und lächle ihnen zu, sagt der Iraner mit Stolz in der Stimme.
Kürzlich haben Kunststudierende aus Teheran sich im stummen Protest auf den Hof der Universität gestellt und mit ihren Körpern das Wort „Blut“ geformt, auf Farsi „khun“. Zu sehen ist das in diesem Video. Sie machten damit auf die Gewaltwelle aufmerksam, die mit den bewaffneten Kräften des Regimes durch das Land rollt. Kinder und Jugendliche werden tagtäglich verschleppt, inhaftiert, vergewaltigt und getötet. Die Angst, die ständige Repression, hält viele Menschen aber nicht davon ab, weiter zu protestieren.
Es ist fraglich, ob die junge Generation sich je wieder unterwerfen lässt
Ein anderes Video zeigt Studentinnen, die gemeinsam das Lied „Baraye“ von Shervin Hajipour singen. Bei der Liedzeile „Für die Studierenden, für die Zukunft“ werden ihre Stimmen besonders laut. Dann erblicken sie einen in Zivil gekleideten Milizionär, der sie filmt. Sie stürmen auf ihn zu, umzingeln ihn und nehmen ihm die Kamera ab.
Videos auf Twitter zeigen Schülerinnen, die sich an der Hand nehmen und „Bella Ciao“ singen, 15-, 16-Jährige, die dem Bild des obersten Revolutionsführers den Mittelfinger zeigen, Jugendliche, die ihre Hände in rote Farbe tunken und Hand in Hand „Baraye“ singen.
Es sind in dieser Revolution vor allem die jungen Menschen, die scheinbar vollständig mit der greisen Führungsriege gebrochen haben. Sie werden ihr wohl nie wieder gehorchen. Sie werden nicht in den Stand der Unterwürfigkeit zurückkehren können.
Die jungen Menschen, die Protestierenden und auch diejenigen, die aus Angst zu Hause bleiben, aber das System nicht minder wollen stürzen sehen, wehren sich gegen die Unruhe der Islamischen Republik, in der sie seit Jahren und Jahrzehnten leben. Allein in diesem Jahr kommt man kaum hinterher, die Menschenrechtsverbrechen des Regimes aufzuzählen. Anfang September erst, kurz vor Beginn der Proteste, verurteilte die iranische Justiz die zwei Frauen Zahra Sedighi-Hamadani und Elham Chobdar zum Tode, weil sie homosexuell sind. Das Urteil: Verdorbenheit auf Erden.
In Iran ist es seit Jahrzehnten nicht ruhig; es war nicht unter dem Schah ruhig, der von westlichen Staaten so verehrt wurde, und es ist erst recht nicht ruhig in der Islamischen Republik. Von Deutschland blickt man auf den Iran, auf die ganze Region, aber nur mit zwei Fragen: Betrifft uns, was dort passiert? Kann es uns schaden? Solange diese beiden Fragen mit Nein beantwortet werden, herrscht aus westlicher Sicht „Ruhe“.
So verwundert es nicht, dass die Proteste, die sich entwickelnde Revolution, als „Unruhen“ betrachtet werden, und nicht als Bewegung von Menschen, die in Teilen eher sterben würden als weiter unter der menschenverachtenden Herrschaft einer Führungsriege zu leben, die Frauenverachtung zur Staatsdoktrin gemacht hat.
Zuletzt wurden die Atomverhandlungen als Grund dafür aufgeführt, warum es wichtig sei, mit eben dieser Führungsriege zu verhandeln. Denn, ja, nukleare Waffen in den Händen dieser Machthaber wären ein Super-GAU, das schlimmstmögliche Szenario. Nur hat der Weg, den die westlichen Mächte in dieser Frage eingeschlagen haben, sich als Irrweg herausgestellt. Das Regime hat seine nuklearen Bestrebungen nicht aufgegeben, im Gegenteil.
Nur ein demokratischer Iran kann ein atomwaffenfreier Iran sein
Der Irrweg lag darin begründet zu glauben, dass ein Regime, das ohne mit der Wimper zu zucken Menschenrechtsverbrechen begeht, Russland und Syrien in seinen Kriegen unterstützt und Israel sowie die ganze Region mit Terror überzieht, ein verlässlicher Partner sein könnte. Zu glauben, dass unter diesem Regime je „Ruhe“ herrschen könnte.
In diesem Irrweg spiegelt sich einmal mehr wider, dass Menschenrechtspolitik die wahre Realpolitik ist. Zivilgesellschaft, Menschenrechtsaktivist:innen, Autor:innen, Künstler:innen und viele mehr, die in so vielen Ländern auf die Frage der Menschenrechte hinweisen, die Bedeutung dieser Rechte entgegen aller Widerstände hochhalten, werden von Politiker:innen gerne als naiv, entrückt und einfältig dargestellt. Lass die mal von Menschenrechten reden, wir kümmern uns um die wirklich wichtigen Dinge: Geopolitik, Wirtschaft, Strategie.
Dabei liefert die Geschichte immer wieder den Beweis: In Staaten, in denen die Menschen unfrei leben, in denen sie unterdrückt werden, verfolgt und getötet, für ziviles Engagement, weil sie frei sein wollen, weil sie leben wollen, weil sie lieben wollen, herrscht nie Ruhe. Mit Führungen zu verhandeln, sie als Repräsentanten ihrer Bevölkerung zu sehen, über die Köpfe der Menschen Verträge auszuhandeln, Wirtschaftsverträge, Gasverträge, Atomabkommen, wird nur immer mehr Unruhe bringen.
Nur eine Geopolitik, die auf Menschenrechten basiert, wird zu den gewünschten Ergebnissen führen. Nur eine Strategie, die auf Feminismus und Menschenrechten beruht, wird realpolitisch sein. Alles andere sind Luftschlösser, aus dem Glauben bestehend, dass Diktatoren, die Menschen einsperren und umbringen lassen, weil diese für Freiheit und Demokratie kämpfen, verlässlich sind, dass sie stabil sind, dass sie für Ruhe sorgen. Was für eine naive, was für eine verhängnisvolle Vorstellung. Auch für den Iran gilt: Der einzige Weg zu einem garantiert atomwaffenfreien Iran ist ein demokratischer Iran.
Die Frage ist, wie oft sich Geschichte wiederholen muss, bis diese Botschaft auch im Westen angekommen ist: Ihr bestimmt nicht, was „Ruhe“ ist. Der Westen muss nachfragen.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Thembi Wolf, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger