Eine Hand einer ertrinkenden Person erstreckt sich aus dem Meer.

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Flucht und Grenzen

Wasser ist die perfekte Waffe

Alles Leben kommt aus dem Wasser. Doch für Millionen von Menschen bedeutet es den Tod. Der ist politisch geplant.

Profilbild von Benjamin Hindrichs
Reporter für Macht und Demokratie

Das Sterben im Wasser kann eine Woche dauern oder mehrere Monate. Dann löst sich die menschliche Haut im Wasser langsam vom darunterliegenden Gewebe ab. Der Körper beginnt, sich zu zersetzen. Wie lange die Verwesung genau dauert, hängt von Meeresströmungen, dem Ökosystem, der Wassertiefe und der Wassertemperatur ab.

In kaltem Wasser dauert das Sterben länger. Durch eine Veränderung des Fettgewebes entsteht Adipocere, eine wachsige, seifige Substanz, die die Verwesung des menschlichen Körpers verlangsamt. Seenotretter:innen bergen deshalb manchmal den noch völlig intakten Körper eines Menschen, der schon wochenlang tot ist.

Im Jahr 2022 sind laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen bereits mehr als 1.500 Menschen im Mittelmeer verschwunden. Viele, die auf der Flucht ertrinken, werden nie gefunden. Sie bleiben gesichtslose Nummern in den Registern für Vermisste. Es gibt viele Gründe für das Sterben im Mittelmeer: Kriege, Klimakrise und globale Ungleichheit befeuern Fluchtmigration. Ich glaube aber, um Flucht als globales Phänomen in Gegenwart und Zukunft zu verstehen, müssen wir uns nur ein einziges Element anschauen: Wasser.

Wasser hat den Grundstein dafür gelegt, dass wir heute in Nationalstaaten leben und Menschen nach Pässen mit mehr oder weniger Macht sortieren. Wasser war essentiell für die Kolonialisierung des Globalen Südens. Die Nachwirkungen bestimmen bis heute das weltweite Machtgefälle. Gleichzeitig war Wasser schon immer einer der wichtigsten Gründe für Migration und wird es auch in Zukunft bleiben. Und Wasser ist die ultimative Waffe: Kein anderes Element lässt sich so leicht missbrauchen, um Menschen zu bekämpfen.

Der Nationalstaat ist aus dem Wasser geboren

Unsere Beziehung zum Wasser ist „in das Gefüge der Gesellschaft eingebrannt“, schreibt der Klimawissenschaftler Giulio Boccaletti in seinem Buch „Water: A Biography“. Boccaletti schreibt, Wasser präge nicht nur Landschaften, sondern auch unseren Glauben, unser Verhalten und unsere politischen Institutionen, vor allem eine Institution, die vielleicht wichtigste und machtvollste von allen, die bis heute für Flucht und Migration bedeutend ist: den Nationalstaat.

Alles begann am 26. Juli 1581 in Den Haag. Mehr als ein Jahrzehnt nach Kriegsausbruch der Niederlande gegen die spanische Herrschaft unterschrieben Vertreter:innen von sieben niederländischen Provinzen dort die „Plakkaat van Verlatinghe“. Darin erklärten sie ihre Unabhängigkeit vom spanischen König Philipp II. Der dachte nicht einmal daran, den Affront zu akzeptieren und kämpfte weiter. Oft heißt es heute, der Achtzigjährige Krieg sei ein Religionskonflikt gewesen, der reformierte Norden des Landes gegen den katholischen Süden und die Spanier. Das ist aber nur ein Teil der Geschichte: Der andere ist das Wasser.

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Lange war Europa ein zersplitterter Kontinent aus Monarchien, Stadtstaaten, Feudalherren und kirchlichen Institutionen. Im 15. Jahrhundert änderte sich das. Der Handel blühte auf, die Macht der Kirchen und Monarch:innen bröckelte. Und ein riesiges Netz von Handelsrouten zu Wasser entstand. Dort reisten Waren, Menschen und Ideen durch Europa. Eine dieser Ideen war der Liberalismus, eine andere der unabhängige Nationalstaat. Eine der wichtigsten Handelsrouten dieser Aufbruchszeit war die Schelde. Die Schelde entspringt in Frankreich, fließt dann durch Belgien. Sie mündet in den heutigen Niederlanden im Meer und ist dort verbunden mit der Maas und dem Rhein. So verschaffte sie Händler:innen Zugang zum wirtschaftlich wichtigen deutschen Hinterland.

Ab Beginn des 15. Jahrhunderts, hatte die „Kleine Eiszeit“ Europa fest im Griff. Während vielerorts die Landwirtschaft zusammenbrach, fluteten in Dänemark, Deutschland und den Niederlanden Stürme die Küstengebiete. Um den Wassermassen zu entgehen, wurden viele Gebiete trockengelegt und konnten nicht mehr mit Schiffen befahren werden. Das verbliebene Wasser aber strömte mit immer größerer Wucht durch immer weniger Wasserwege, die dadurch tiefer und breiter wurden.

So entstand Mitte des 15. Jahrhunderts ein schiffbarer Wasserweg zwischen Antwerpen, im heutigen Belgien, und der Nordsee. Der Handel darauf florierte: Gewürze, Wein, Lebensmittel und Luxusprodukte aus aller Welt wechselten die Besitzer:innen. Antwerpen wurde zur wichtigsten Hafenstadt Europas. Das aber führte zu Streit. Die Provinz Zeeland, heute Teil der Niederlande, forderte Gebühren für die Nutzung des Wasserweges. Das Geld sollte dazu dienen, die Schelde für die Schifffahrt in Stand zu halten, hieß es. In Antwerpen dachte man nicht daran zu bezahlen. Schließlich hatte die Natur den Wasserweg zum Meer geschaffen.

Wie aber den Konflikt beilegen? Es brauchte eine anerkannte Institution für die Rechtsprechung über das Gebiet. Theoretisch wäre das die Zuständigkeit des Papstes oder des Monarchen gewesen. Doch ihre Macht war längst am Schwinden. Also wurde eine neue Form der Organisation notwendig: ein souveräner Staat, der bestimmte, wem die Schelde gehören sollte. Das verschaffte einer heiklen Idee Aufschwung. Der Idee, dass Menschen in einem unabhängigen Nationalstaat zusammenleben können, der klare territoriale Grenzen hat. Im Westfälischen Frieden von 1648 erkannte der spanische König Philipp II. die staatliche Souveränität der Niederlande an.

Bis zu diesem Zeitpunkt galt: Monarchien herrschten über Menschen. Das änderte sich nun. Staaten und Monarchien herrschten fortan in erster Linie über ein Territorium – und die dort lebende Bevölkerung. Institutionen mussten geschaffen werden, um diese Herrschaft zu verwalten. Der Nationalstaat war aus dem Wasser geboren.

Die Niederlande machten damals von der neuen, anerkannten Macht über ihr Territorium direkt Gebrauch und erklärten die Schelde für Antwerpen geschlossen. Viele Händler:innen zogen aus Antwerpen nach Rotterdam, dort luden große Meeresfrachter ihre Ware auf kleinere Schiffe um, die die Waren über Rhein und Maas weiter verschifften. Die Niederlande erhoben Zölle und wurden zu einer wohlhabenden Nation. Rotterdam ist bis heute der größte Hafen Europas, Antwerpen der zweitgrößte. Im Jahr 1602 wurde die Dutch East India Company gegründet, um mit Spanien und Portugal in der Unterwerfung neuer Gebiete zu konkurrieren. Die Niederlande, eine aus einem Wasserkonflikt geborene Nation, wurden zu einer Supermacht der Meere.

Nicht nur in den Niederlanden war das Wasser dabei die treibende Kraft: In England befeuerte es den Aufstand gegen die Monarchie, als die Kirche große Teile der sogenannten Wetlands in Ost-England trockenlegen wollte, um Land zu gewinnen. Die USA wurden zur doppelten Wassernation. Im Inland wurde die Unabhängigkeit maßgeblich von Wasserkonflikten getragen. Nach außen baute das Land bald auf den transatlantischen Sklavenhandel. Und Thomas Jefferson soll sich an der niederländischen Erklärung orientiert haben, als er die amerikanische Unabhängigkeitserklärung verfasste.

Die Herrschaft über ein Staatsgebiet wurde zur wichtigsten politischen Entwicklung der Moderne: Nationalstaaten wurden Akteure in internationalen Konflikten, in Kriegen und im Kolonialismus.

Wasser ermöglichte den Kolonialismus

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm das Wettrennen um die Unterwerfung und Ausbeutung der Welt an Fahrt auf. Die europäischen Staaten schickten mehrere Expeditionen auf den afrikanischen Kontinent. Die meisten davon nutzten die Wasserwege des Nils oder des Kongo-Flusses, um ins Inland vorzudringen. Sie berichteten von reichen natürlichen Ressourcen und schiffbaren Wasserwegen. Und europäische Herrscher, wie der belgische König Leopold II., sahen ihre Gelegenheit gekommen: Unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe gründete Leopold II. die International Africa Association. Ein Privatclub, den er selbst finanzierte und der dazu diente, die Gewalt, Ausbeutung und Unterwerfung des heutigen Kongos zu rechtfertigen.

Nicht nur Leopold II. erhob Anspruch auf riesige Ländereien. Andere europäische Staaten wollten ihr Stück vom Kuchen. Auf der sogenannten Kongokonferenz 1884 teilten die europäischen Kolonialmächte sich den afrikanischen Kontinent auf. Eines der Kernstücke des Abkommens – neben der willkürlichen Grenzziehung mit dem Lineal, die bis heute auf jeder Karte sichtbar ist und zahlreiche Kriege und Konflikte geprägt hat – war ein Abkommen über die kostenlose wirtschaftliche Nutzung des Kongo-Flusses. Man einigte sich darauf, den Fluss gemeinsam zur Ausbeutung der jeweiligen Kolonien zu nutzen.

Das legte den Grundstein für die Ausschiffung von Mineralien und Menschen, Bodenschätzen und Kulturgütern. Kurz: für eine globale Ungleichheit, die sich bis heute fortschreibt. Für Kolonialverbrechen, deren Erbe bis heute oft verschleiert wird. Und für Grenzkonflikte, die bis heute zu Flucht und Migration führen.

Wassermangel zwingt Menschen zur Flucht

Vor etwa 45 Jahrhunderten ging in den Tälern Mesopotamiens das Reich von Akkad unter. Eine Legende besagt, dass die Bevölkerung den Gott Enlil erzürnt hatte. Er brachte Dürre und Hunger über das erste Großreich der Menschheitsgeschichte und besiegelte dessen Ende. „Als wäre es vor der Zeit gewesen, in der Städte gebaut und gegründet wurden, brachten die großen Ackerflächen kein Getreide hervor, die überschwemmten Flächen keinen Fisch, die bewässerten Obstgärten keinen Sirup oder Wein, die dicken Wolken keinen Regen“, heißt es in der Überlieferung „Fluch von Akkad“.

Es war kein göttlicher Fluch, der das Reich dem Untergang weihte. Es war ein Klimakollaps, der auf schwache politische Institutionen traf.

Der Herrscher Sargon von Akkad hatte das Reich im 24. Jahrhundert vor Christus gegründet, zwischen Euphrat und Tigris. Eine der Stützen des Reichs war der Handel. Überschüssiges Getreide tauschten die Akkadier:innen gegen Güter, die durch den Golf von Oman in das Reich kamen. Der Handel florierte, das Reich wuchs. Sargons Enkel Naram-Sîn übernahm die Macht und eroberte weitere Gebiete, die heute im Iran, im Irak und im Nordosten Syriens liegen.

Dann änderte sich alles. Es wurde trocken. Regenfälle blieben aus. Weniger Regen führte zu weniger Ernte. Und damit nicht nur weniger Nahrung, sondern auch weniger Einnahmen, um Armee, Verwaltung und Transportinfrastruktur aufrechtzuerhalten.

Die Dürre setzte einen Dominoeffekt in Gang: Zahlreiche Menschen in der Region des Khabur-Flusses in Nordsyrien verließen ihre Dörfer. Die Menschen flohen, die Verwaltung war überfordert, der Staat verlor die Kontrolle über die Situation. Das Reich von Akkad brach in sich zusammen.

Die Aufzeichnungen über den Zusammenbruch sind die ersten, die den Zusammenhang zwischen Wasserverfügbarkeit, staatlicher Infrastruktur und Migration nachzeichnen. Sie zeigen, wie Klimaveränderungen wie Hitze und Dürre einen Staat schwächen. Wenn sie auf einen Staat treffen, der nicht vorbereitet ist, können sie ihn sogar das Überleben kosten.

Wasser ist ein häufiger Kriegstreiber

Dieselbe Lektion würde in derselben Weltregion erneut wichtig werden. 45 Jahrhunderte nach dem Zusammenbruch des Reichs von Akkad forderten im Jahr 2011 Zehntausende in Syrien politische Reformen und den Rücktritt des Machthabers Baschar al-Assad. Die Revolte mündete im syrischen Bürgerkrieg. Millionen von Menschen mussten ihre Heimat verlassen. Die meisten flohen innerhalb des Landes oder in die umliegenden Länder, in die Türkei oder den Libanon. Zahlreiche Menschen machten sich auch auf den Weg nach Europa.

Die bekannte Geschichte geht so: Unzufrieden mit der Armut und Arbeitslosigkeit im Land gingen ab 2011 Tausende gegen das Assad-Regime auf die Straße. Die Regierung schlug die Proteste nieder, das befeuerte weitere Massendemonstrationen und Aufstände. Doch es gibt einen Teil der Geschichte, der oft unerzählt bleibt.

Von 2006 bis 2011 herrschte im Land eine verheerende Dürre. In der Region Aleppo lag die Regenmenge im Winter 2006 bei 15 Prozent des Durchschnitts normaler Jahre. Mit der Dürre brach die Landwirtschaft im Nordosten zusammen, dem „Brotkorb“ Syriens. Kleine und mittlere Bauern fuhren praktisch keine Ernte mehr ein, Viehzüchter verloren ihre Herden. Die Preise für Weizen, Reis und Viehfutter stiegen.

Als die Dürre kam, gab es keine Reserven. Die Regierung hatte ihre Getreidereserven verkauft, weil die Preise auf dem Weltmarkt hoch waren. Es war eine Katastrophe.

Geschätzte 1,5 Millionen Menschen flüchteten vor der Dürre. Die meisten zogen in die Städte des Landes, nach Damaskus, Daraa, Homs oder Aleppo. Dort hofften sie, Arbeit zu finden. Und trafen auf zahlreiche Menschen, die aus dem Irak nach Syrien geflohen waren. Die Städte wuchsen schnell, die Regierung kümmerte sich kaum, die Armut nahm zu. Genau wie der Unmut über die Regierung, die das Land seit Jahrzehnten mit Terror überzog.

Im März 2011 tauchte in der Stadt Daraa ein Graffiti an einer Schulwand auf, das sich an den Machthaber Baschar al-Assad richtete. Es besagt: Du bist als Nächstes an der Reihe. Die Polizei nahm eine Gruppe von Jugendlichen fest, die angeblich die Wand besprüht haben sollte. Sie folterte und misshandelte sie. Kurz darauf zogen Menschen auf die Straße, um gegen die Gewalt der Sicherheitskräfte zu protestieren.

Es war der Beginn der sogenannten Arabellion. Und der Beginn des syrischen Bürgerkriegs, der bis heute andauert. Inzwischen haben mehr als 300.000 Zivilist:innen ihr Leben verloren. Knapp 14 Millionen Menschen sind auf der Flucht. 5,6 Millionen haben laut UNHCR das Land verlassen.

Die Dürre, die Abwesenheit von Wasser also, war nicht der einzige oder ausschlaggebende Grund für den Konflikt. Aber er schuf einen Nährboden aus Armut, Hunger und Unzufriedenheit mit der Regierung.

Den Zusammenbruch des Reichs von Akkad und den syrischen Bürgerkrieg unterscheidet vieles. Doch sie haben eine Gemeinsamkeit: Wassermangel traf auf eine labile staatliche Infrastruktur. Wenn das Wasser ausbleibt und es keine Institutionen gibt, die den Mangel auffangen und das Überleben der Bevölkerung sichern können, haben die Menschen keine andere Wahl, als die Flucht zu ergreifen.

Dass Klimaveränderungen Flucht und Migration befeuern, war schon immer so. In Zeiten der Klimakrise wird das zunehmen. Denn wenn Ernten ausbleiben und Wetterextreme Lebensräume zerstören, sehen sich immer mehr Menschen dazu gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen. Wie viele genau, das ist noch nicht absehbar. Aber die Weltbank schätzt, dass bis zum Jahr 2050 bis zu 143 Millionen Menschen zu Klimaflüchtlingen werden könnten.

Wasser dient als Waffe

Olivenhaine, Weinreben und sagenhafte Kunst und Architektur: Florenz ist eines der florierenden Zentren europäischer Kultur. Und die Stadt war die Heimat eines der wichtigsten Staatsphilosophen der Neuzeit, Niccolò Machiavelli. Er war von 1498 bis 1512 für die Außen- und Sicherheitspolitik von Florenz zuständig. Nebenbei schrieb er Bücher. Sein Lieblingsthema blieb die Macht. Und eine seiner Lieblingsideen, um das verfeindete Pisa zu bezwingen, war es, Wasser als Waffe einzusetzen. Machiavelli wollte den Flusslauf des Arno künstlich verändern, der von Florenz nach Pisa fließt. Pisa sollte vom Wasser abgegraben und die Landwirtschaft dadurch geschädigt werden. Umsetzen konnte er den Plan nie. Die Idee der Verwendung von Wasser als Waffe lebt aber in unserer Gegenwart fort.

Ende Februar 2020 setzte die Türkei den EU-Türkei-Deal aus. Der besagte, dass die Türkei Geflüchtete davon abhält, nach Europa zu reisen. Dafür bekam die Türkei Geld von der EU. Als die Türkei den Deal aussetzte, versuchten Tausende Menschen, die Grenze nach Griechenland zu überqueren. Dort drängten EU-Grenzbeamte die Menschen gewaltsam zurück. Sicherheitskräfte setzten Gummigeschosse und Tränengas gegen die Geflüchteten ein. Und sie benutzten Wasserkanonen, um blaue Farbe auf die Menschen zu sprühen. Diejenigen, denen es gelang, die Grenze zu überqueren, sollten sichtbar bleiben.

Einem Fernsehbericht zufolge soll Bulgarien Tage zuvor auf Bitten der griechischen Regierung den Ivaylovgrad-Damm geöffnet haben, um die Wassermenge im Fluss Ardas zu erhöhen. Der wiederum fließt in den Evros, den Grenzfluss zwischen Griechenland und der Türkei. Ein höherer Wasserstand, so das Kalkül, würde Menschen davon abhalten, den Grenzfluss nach Europa zu überqueren. Von der „Verwendung des Flusses als Waffe“ schreiben Stefanos Levidis und Ifor Duncan vom Rechercheprojekt Forensic Architecture in einem Bericht über die Region. In anderen Worten: An ihren Außengrenzen setzt die Europäische Union Wasser als Waffe ein. Die Natur, schreiben die Autoren, „ist direkt in die Produktion des Todes an der Grenze eingebunden.“ Durch gezielte Eingriffe in die Natur entsteht ein Raum, in dem Gewalt ungestraft bleibt.

Schon der US-General John W. Donaldson wies darauf hin, dass die geophysikalischen Grenzen eines Staates versteckte Verteidigungsmöglichkeiten offenbaren. „Natürliche“ Grenzen wie Meere, Flüsse, Berge oder Wüsten dienen dazu, diejenigen fernzuhalten, die als unerwünscht gelten. Reicht das nicht, hilft man nach. Denn Wasser ist beweglich, Meere, Küsten und Flüsse sind Räume, die manipuliert werden können. Das zeigt ein Beispiel der griechisch-türkischen Grenze. Die türkische Regierung leitete die Geflüchteten im Frühjahr 2020 nach Karaağaç, dem einzigen Ort, an dem der Evros-Fluss nicht die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei markiert. Das griechische Staatsgebiet beginnt hier auf einer weiten, kahlen Ebene, auf der eine kilometerlange Grenzanlage steht. So unüberwindbar, dass sie Geflüchtete in gefährlichere Routen zur Flucht drängt, in die Strömungen des Evros oder der Ägäis, im Mittelmeer.

Seit 2014 sind mehr als 24.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Seenotrettungsmissionen wurden eingestellt, die Arbeit von privaten Organisationen kriminalisiert, überwacht und erschwert. Wenn Wasser aber eine Waffe ist, ist das Sterben im Mittelmeer keine unterlassene Hilfeleistung, sondern hybride Kriegsführung. Der Tod im Wasser ist geplant, wie
schon so oft in der Geschichte der Menschheit. Nach der Erfindung des Nationalstaats, dem Kolonialismus und politischen Konflikten um Fluten und Dürre erleben wir ein weiteres Kapitel des politischen Missbrauchs von Wasser.

In anderen Worten: Wasser ist die perfekte Waffe. Es wirkt indirekt und verschleiert Verantwortung. Wenn Menschen ihr Leben in den Tiefen verlieren, können die beteiligten Staaten auf ihre Unschuld verweisen. Dafür könne man nun wirklich keine Verantwortung übernehmen. Das sei nun einmal die Natur.


Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger

Wasser ist die perfekte Waffe

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