Wenig fasziniert mich so sehr wie eine falsche These. Lass mich noch genauer sein: eine These, die Jahre als wahr galt – und es plötzlich nicht mehr sein könnte.
Meistens beginnen die Zweifel mit etwas Harmlosem. Einer Statistik hier, einer Anekdote dort und irgendwann kommt dieser Moment, in dem sich alles zu einem dichten Bild formt und ich die alte These abräumen kann oder ihr eine zweite, widerstreitende starke These an die Seite stellen kann, die mich zwingt, ganz genau hinzuschauen.
So ging es mir in den vergangenen Monaten mit China. Zuvor hatte ich nur oberflächlich verfolgt, was in dem Land geschieht. Mein Denken über China war geprägt von den vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, die sich in den vergangenen 20 Jahren in der Mitte unserer gesellschaftlichen Gespräche etabliert haben: Riesenmarkt, Lokomotive der Weltwirtschaft, bald auch militärische Supermacht, gesteuert von einer Kommunistischen Partei (KPC), die klüger und weitsichtiger ist als ihre versunkenen Genossen und Genossinnen in der ehemaligen Sowjetunion. Kurzum: ein Land, das irgendwann die Erde dominieren wird.
Wer sich mit China besser auskennt als ich, rollt sicher mit den Augen. Denn diese von mir skizzierte Erzählung ist ein sehr einseitiges Erfolgsszenario, das so auch von Chinas Präsident Xi Jinping stammen könnte, der das Land bis zur 100-Jahr-Feier im Jahr 2049 zu einer globalen Macht formen will.
Denn ja, China ist ein mächtiges Land. Aber China hat auch mächtige Probleme, die nicht einfach unter den Teppich zu kehren sind. Was, wenn China nicht ganz so erfolgreich, nicht ganz so einflussreich ist und sein wird, wie sehr viele Menschen glauben?
Was gleich folgt, ist ein ziemlich wilder Ritt durch Demografie, Ökonomie und Kultur, der natürlich völlig unzureichend ist, um alles zu sehen, was wirklich wichtig ist. Dieser Text soll aber ein Gerüst bilden für diese zweite skeptische These, die der Mainstream-Erzählung zuwiderläuft. Er soll dich und mich zwingen, genauer hinzuschauen.
Zweifel an Chinas geradlinigen Aufstieg zur globalen Supermacht äußern auch chinesische Kader selbst.
Im Jahr 2014 sagt Chen Deming, ehemaliger Handelsminister: „Gehen Sie nicht davon aus, dass China die Nummer zwei ist, und gehen Sie nicht davon aus, dass wir irgendwann einmal die Nummer eins sein werden.“ Es ist nicht überliefert, wie das chinesische Publikum auf diese Botschaft reagierte. Es bleibt trotzdem ein bemerkenswerter Satz, weil er nicht zu dem passt, was die chinesische Führung sonst über ihr Land verbreitet.
Xi Jinpings Corona-Politik – zu stolz, den Fehler einzugestehen
Nachdem 2020 die Corona-Lockdowns in allen Ländern der Welt begonnen hatten, wirkte es für eine kurze Zeit so, als hätte allein China die Pandemie wirklich im Griff. Jetzt, zwei Jahre später, hat sich das Ganze umgedreht, wie der „Lockdown-Index“ der Investmentbank Goldman Sachs zeigt. Darin kombiniert die Bank Bewegungsdaten von Menschen mit Regierungsrestriktionen, um herauszufinden, wie hart Corona-Maßnahmen sich gerade auf ein Land auswirken.
Während zumindest die reichen westlichen Länder dank der mRNA-Impfstoffe zurück in die „Normalität“ konnten, springt China noch immer von Lockdown zu Lockdown (rote Linie). Aktuell sind 65 Millionen Menschen in 30 Städten im Lockdown.
Für Chinas Führung ist die Corona-Politik inzwischen zu einer Legitimitätsfrage geworden. „Zero Covid“ hatte sie als überlegenes Modell gepriesen, westliche Impfstoffe lehnt sie aber auch ab. Diese Strategie ist eine Sackgasse.
Der Weg hinaus wird unangenehm: Entweder gibt die KPC zu, dass sie Fehler gemacht hat und verliert an Standing in der Bevölkerung. Oder Millionen Chinesen werden sich mit Corona infizieren und wegen der durchwachsenen Impfquoten zum Teil auch ernsthaft erkranken. Ganz zu schweigen davon, dass die ständigen Lockdowns die Wirtschaft empfindlich treffen. Das Land wird in diesem Jahr mit etwas mehr als drei Prozent wachsen – meilenweit entfernt von den 5,5 Prozent, die die Führung als Ziel ausgegeben hatte.
Produktivität – die eigentlich wichtige Zahl einer Volkswirtschaft
Chinas wirtschaftliche Macht ist schnell erklärt: ein einziger riesiger Markt mit mehr als einer Milliarde Menschen darin. Chinas Erfolgsmodell der vergangenen Jahre ist auch schnell erklärt: Man lässt diese riesige Masse an Menschen zu geringen Löhnen Güter produzieren, die die Welt konsumiert. Chinas Problem ist aber: Was nun?
Denn das Land läuft Gefahr in eine Falle zu laufen, die Wirtschaftswissenschaftler als Middle Income Trap bezeichnen. Damit sind Länder gemeint, deren Bürger und Bürgerinnen seit Jahrzehnten jährlich zwischen 1.000 und 12.000 Dollar pro Kopf verdienen und denen es partout nicht gelingt, diesen Einkommensbereich zu verlassen.
Ein Land, das in der Middle Income Trap gefangen ist, hat den einen Wettbewerbsvorteil, mit dem es überhaupt reicher geworden ist verloren: billige Güterproduktion für das Ausland. Dieses Land kann aber gleichzeitig auch nicht mit den reichsten Ländern im Hochtechnologie-Bereich mithalten.
Diese Beschreibung könnte auf China zutreffen. Die nächsten Jahre sind entscheidend. Taiwan und Südkorea etwa haben 25 Jahre gebraucht, um der Falle zu entkommen. Das ist ziemlich exakt der Zeitraum, für den auch China als Land mittleren Einkommens gilt.
Blicken wir auf China als Wirtschaftsmacht, lassen wir uns dabei oft von dessen schierer Größe blenden. Als Volkswirtschaft, etwas abstrakter betrachtet, ist das Land aber nicht so leistungsfähig. Produktivität aber, also die Menge an Wert, die pro Stunde geschaffen werden kann, ist das wichtigste Anzeichen für die innere Stärke einer Volkswirtschaft. Chinas Produktivität wächst nur langsam, kaum schneller als die Indiens beispielsweise, wie dieser Chart zeigt. China ist die dunkelrote Linie. Der Chart zeigt, wie viel Wert pro Stunde Arbeit in den jeweiligen Ländern geschaffen wird im Schnitt.
Für China ist es dabei doppelt wichtig, produktiver zu werden. Einerseits, um als gesamtes Land der Middle Income Trap zu entkommen (den reichen Provinzen an der Ostküste ist das zum Teil schon gelungen). Andererseits, um der Demografiefalle zu entkommen. Denn kaum ein Land hat in dieser Hinsicht so schlechte Aussichten wie China.
Demografie – wie viele Chinesen und Chinesinnen gibt es denn nun?
China ist das größte Land der Erde. Oder auch nicht. Es gibt sehr plausible Berechnungen, die nahelegen, dass China schon im Jahr 2018 von Indien abgelöst wurde. Selbst, wenn nun diese spezielle Rechnung falsch ist, hat ein Bericht der Vereinten Nationen kürzlich gezeigt, dass Indien Mitte dieses Jahrzehnts zur bevölkerungsreichsten Nation der Erde aufsteigen wird.
Das ist keine Bagatelle. Der Mythos China beruht in großen Teilen auf seiner schieren Größe. Außerdem haben die Millionen arbeitsfähiger Menschen im Land das chinesische Wachstumsmodell befeuert. Im extremsten Fall, das zeigen die UN-Berechnungen im folgenden Chart (untere dunkelrot gestrichelte Linie), wird es am Ende des Jahrhunderts nur noch 500 Millionen Chinesen und Chinesinnen geben. Nigeria würde dann mehr Einwohner als China haben. Die USA vielleicht auch.
Gleichzeitig gibt es immer mehr ältere Chinesen. So verteilen sich die Altersgruppen aktuell: wenige Alte, viele Menschen im arbeits- und (wehr-)fähigen Alter. Je breiter ein Balken desto mehr Menschen in der jeweiligen Altersgruppe, die links und rechts angegeben ist.
Und so verteilen sich die Bevölkerungsgruppen im Jahr 2050, ein Jahr, nachdem China laut Xi globale Supermacht werden soll. Das wird mit so einer Bevölkerungspyramide schwieriger.
Schulden von Unternehmen und Haushalten – glatt verdoppelt
Die große Hoffnung der chinesischen Führung muss sein: Dass das exportgetriebene Wohlstandsmodell der vergangenen Jahrzehnte abgelöst wird von einem, das durch die Nachfrage im Land selbst angetrieben wird. Die KPC hatte in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder versucht, diese sogenannte Binnennachfrage anzukurbeln. Ein Hindernis dabei: Unternehmen und Haushalte sind viel stärker verschuldet als in Japan, der EU oder den USA. Der Trend begann mit der Finanzkrise. Die Privat-Schuldenquote, gemessen in Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts, steigt in China seit einem Jahrzehnt an, wie diese Grafik von Reuters zeigt. In westlichen Ländern bleibt sie konstant.
Wichtig ist dabei, wohin dieses Geld, das sich vor allem die Privatleute geliehen haben, geflossen ist.
Chinas Immobiliencrash – das Ende eines Schneeballsystems
In der Finanzkrise 2008/2009 legte China ein beispielloses Konkjunkturprogramm auf, dessen zentrale Säule neue Infrastruktur- und Immobilienprojekte waren. Westliche Ökonomen gehen in Schätzungen davon aus, dass knapp ein Drittel des gesamten chinesischen Bruttoinlandsprodukts im Immobiliengeschäft erwirtschaftet wird. Damit ist allein der chinesische Immobiliensektor größer als die gesamte deutsche Volkswirtschaft.
Du siehst es auch an der Schulden-Grafik oben sehr gut. Ab 2009 gingen die privaten Schulden nach oben. Ein Großteil dieses Geldes landete im Immobilienmarkt. Laut chinesischer Behörden sind 70 Prozent des chinesischen Privatvermögens dort gebunden – ein extrem hoher Wert, der den Schluss zulässt, dass Immobilienkrisen in China sofort Krisen nationalen Ausmaßes sind. Schließlich hängt die Legitimation der KPC an einem zentralen Versprechen: „Wohlstand für euch, Macht für uns.“
Das Problem für die KPC: China befindet sich mitten in einer gewaltigen Immobilienkrise. Matthew Klein hat dafür interessante Daten zusammengetragen: Die dunkelblaue Linie zeigt, wie viele Quadratmeter an Wohnfläche jedes Jahr neu gebaut werden, die hellblaue Linie wie viele Quadratmeter verkauft werden. Beide Zahlen fallen auf Level, die China seit der Finanzkrise nicht mehr gesehen hat.
Sie begann kurz nach der Corona-Pandemie und machte schließlich weltweit Schlagzeilen, als der Immobilienfinanzierer Evergrande in Zahlungsschwierigkeiten geriet. Bis heute ist diese Krise nicht gelöst, im Gegenteil. Im Sommer weigerten sich Immobilienkäufer im Land, ihre Immobilienkredite abzuzahlen, weil sie sich nicht mehr sicher waren, dass sie je eine Immobilie dafür bekommen würden. Traditionell nutzen die Immobilienfirmen die Anzahlungen, um bereits verkaufte Projekte zu finanzieren; ein klassisches Schneeballsystem.
Die politische Führung zwingt nun chinesische Banken, weiter Kredite zu vergeben und so das Wachstum im Immobilienmarkt anzukurbeln. Da es aber gar nicht genug Nachfrage für diese Kredite gibt, haben die Banken angefangen, sich gegenseitig Geld zu leihen oder gar Kredite zu vergeben, die sofort wieder an die Bank als Kontoeinlage zurückfließen.
Das geschieht vor dem Hintergrund immer größerer Kreditausfälle. Allein die drei größten chinesischen Banken sitzen auf faulen Krediten im Wert von 430 Milliarden Euro. Ja, richtig gelesen. 430 Milliarden Euro.
Diese Schwäche schlägt sich im Arbeitsmarkt nieder. Eine Zahl sticht besonders hervor. Knapp 20 Prozent der chinesischen Jugendlichen sind arbeitslos wie der letzte Chart von Fortune zeigt; in Deutschland sind es weniger als sechs Prozent. Manche chinesischen Jugendlichen beginnen inzwischen, sich des Systems zu entziehen. Sie legen sich einfach hin.
Soft Power – du kennst keinen chinesischen Popstar
Jetzt kommt mal kein Chart, sondern ein Filmplakat. Dieses hier.
Schon einmal gesehen? Mutmaßlich nicht. Obwohl das der erfolgreichste chinesische Film aller Zeiten ist. „Die Schlacht am Changjin-See“, dem ein Kritiker im Guardian die „Subtilität eines Raketenwerfers“ unterstellte, ist ein heroisches Kriegsepos, das ganz auf Linie der Partei die Großtaten der Roten Armee im Koreakrieg unterstreicht.
Dass dieser Film außerhalb Chinas nur wenige Menschen interessierte, ist bezeichnend für ein weiteres großes Problem der KPC: China ist nicht sexy. Die globale Jugend will keine chinesische Popmusik hören (sondern britische, nigerianische, südkoreanische und US-amerikanische), sie will keine chinesischen Filme sehen und keinen chinesischen Influencern folgen. China hat kein attraktives Angebot an die Welt, das mit der Kultur transportiert werden könnte. Ohne diese sogenannte Soft Power allerdings kann ein Land nicht zur globalen Supermacht werden.
China ist als ein stark nationalistisches Regime, dessen Blick nach innen gerichtet ist, wenig einladend. Es gibt keine Vision, keine Utopie. Die USA hatten nach dem Zweiten Weltkrieg die liberale Demokratie und Menschenrechte im Gepäck. Das Angebot Chinas an die Welt – es fällt mir als Europäer gerade schwer, es überhaupt in Worte zu fassen. Schuldenfallen und Xi Jinpings Traktate? Die Lage ist im globalen Süden noch einmal anders, wo vor allem Chinas Entwicklungsmodell (das Land hat Hunderte Millionen Menschen aus der Armut geholt) bewundert und zum Teil auch kopiert wird. Aber reicht das? Reicht ein Entwicklungsmodell allein?
Wenn wir nun all diese Dinge zusammen denken: extrem schnell schrumpfende Bevölkerung, eine nur mittelmäßig leistungsfähige Wirtschaft, hohe Schulden, wenig kulturellen Charme und eine schwelende Immobilienkrise, die schnell zu einer Bankenkrise werden kann, dann ergibt sich das Bild eines Landes, das mehr Probleme vor sich hat als hinter sich.
Folgt aus all dem, das wir China abschreiben können? Keineswegs. Dass der demokratische Westen dem kommunistischen China überlegen ist? Nein. China sollten wir nicht unterschätzen.
Überschätzen müssen wir es aber auch nicht.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger