Glaubst du, dass du Erfahrungen verstehen kannst, die du selbst nie gemacht hast? Kann ein Mensch, der nie sexuell belästigt wurde, verstehen, wie es sich anfühlt, als Frau nachts allein auf einer Straße unterwegs zu sein? Muss man auf einer Intensivstation gelegen haben, um zu begreifen, dass es gefährlich sein kann, am Coronavirus zu erkranken? Ist eine Depression nur nachvollziehbar, wenn man sie selbst hatte?
Die Intensivmedizinerin Rana Lee Adawi Awdish schreibt, sie glaube nicht mehr daran, dass man etwas erleben muss, um es zu verstehen. In ihrem sehr lesenswerten Artikel geht es darum, wie es war, die Pandemie zu erleben – aus Sicht von Ärzt:innen und Pflegekräften. Ihr Leiden wurde wenig gesehen. Awdish berichtet von einer Pflegerin, die mit einem sterbenden COVID-Patienten allein war und nicht wusste, ob sie seine Hand halten, ihn wiederbeleben oder sich selbst schützen sollte.
Kann ein Mensch, der nie in dieser Situation war, ihre Verzweiflung nachvollziehen?
„Ich bin ein Mensch, kein Fall“
Awdish glaubt: ja. Sie schreibt: „Wir müssen mit dem Mythos aufräumen, dass niemand es verstehen kann, außer denen, die mit uns dort waren.
Ob wir als Gesellschaft unsere komplexesten Probleme lösen können, hängt davon ab, ob wir verstehen können, was wir nicht selbst erlebt haben. Es geht um moralische Vorstellungskraft: Die Probleme von Fremden als unsere eigenen zu betrachten.“
Awdish musste am eigenen Leib erleben, was es bedeutet, von Ärzt:innen nicht als Mensch gesehen zu werden: Vor einigen Jahren wurde sie hochschwanger und mit unerträglichen Unterleibsschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert. Niemand hörte ihr zu. Die Ärzt:innen entschieden über ihren Kopf hinweg. Das hatte schlimme Folgen: Awdish verlor ihr Baby. Sie selbst überlebte nur knapp.
Auch deswegen ist Awdish heute eine Expertin für Empathie im bestmöglichen Sinne. Sie hat das Buch „Ich bin ein Mensch, kein Fall“ geschrieben und sagt: Sogar, wenn wir selbst bestimmte Erfahrungen nicht gemacht haben, können wir die Gefühle verstehen, die Menschen erlebt haben. Scham, Verlorenheit, Angst, Hoffnungslosigkeit: Jede:r kennt diese Gefühle. Wir können sie verstehen, selbst wenn wir die Auslöser nicht selbst erlebt haben.
Ich bin schlecht im Zuhören geworden
Das zu begreifen, kann dabei helfen, bessere Gespräche zu führen. Denn es ist klar, dass der Ton in der Gesellschaft seit Jahren immer rauer wird. Das trifft selbst Politiker:innen, deren Job es ist, harte Kritik auszuhalten. Immer mehr von ihnen sprechen neuerdings offen über Burnout, Depressionen und Angst. Ein Grund dafür, schrieb ein politischer Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit kürzlich, sei die Verrohung der Debatten. Noch nie seien so viele Abgeordnete freiwillig aus dem Bundestag ausgeschieden wie in der letzten Legistlaturperiode (allein bei der SPD war es jede:r Dritte, schreibt der Autor).
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Die Krisen, die wir erlebt haben und die noch kommen, werden konstruktive Diskussionen nicht gerade einfacher machen. Wir spüren es jetzt schon: Wenn wir mit Freund:innen nicht mehr übers Impfen reden können, ohne dass eine:r sehr wütend wird. Wenn jemand einen unbedachten Satz ins Internet postet und Kommentator:innen ihn mit Gift zuschmeißen. Aber selbst, wenn der Umgangston höflich bleibt, habe ich manchmal das Gefühl, dass die Menschen aneinander vorbeireden, weil wir über Identitäten und Weltanschauungen reden und nicht über Inhalte.
Ich nehme mich davon selbst nicht aus. Ich merke, dass ich bei manchen Themen sehr ungeduldig geworden bin. Wenn jemand von „den Massenmedien“ oder „der Pharmaindustrie“ redet, schalte ich innerlich sehr schnell ab, weil ich den Text, der dann als nächstes kommt, auswendig zu kennen glaube. Ich bin schlecht im Zuhören geworden. Ich denke schnell „noch ein Schwurbler“, wenn jemand sagt, die Menschen seien viel zu „wissenschaftsgläubig“.
Awdishs Perspektive hat mir geholfen. Sie hat mich daran erinnert, dass es gut ist, auf die Emotion hinter den Aussagen zu hören. Was nicht heißt, dass ich allem und jedem zuhören will. Aber ich kann respektieren, wie jemand sich fühlt, auch wenn ich anderer Meinung bin. Es kann sogar gut sein, dass wir das Gefühl teilen, auch wenn wir andere Schlüsse daraus ziehen.
Die Intensivmedizinerin und die Maskegegnerin
Die Ärztin beschreibt in ihrem Artikel, wie sie inmitten der Pandemie einer Patientin begegnet, die sie eigentlich sehr mag.
Ich lächelte unter meiner Maske, als ich den Untersuchungsraum betrat. Sie rollte mit den Augen, dann starrte mich an. Sie zog die vom Krankenhaus vorgeschriebene Maske herunter und spuckte: „Oh, nehmen Sie die Maske ab! Wovor haben Sie Angst? Gerade Sie sollten doch wissen, dass das alles nur eine Geldmacherei ist.“
In diesem Moment verschwand sie. Sie verschwamm in einem wirbelnden Dunst des Hasses (…) Ich spürte, wie eine sehr reale und feurige Wut in mir anschwoll.
Awdsih holte tief Luft und erklärte der Patientin ruhig, dass sie sich selbst schützen wolle und daher die Maske aufbehalten werden. Dann fragte sie ihre Patientin, wie es ihr ging.
Sie begann zu schildern, wie ihr Sohn sie daran hinderte, ihre Enkelkinder zu sehen – das das Einzige, was ihr auf der Welt wichtig war. Sie hatte sich nicht an die Sicherheitsmaßnahmen gehalten und war nicht geimpft. Sie gab zu, dass sie sich entbehrlich und im Stich gelassen fühlte. Darauf beschreibt Awdish in ihrem Text ihre eigene Emotion:
Ich erkannte mich in ihren Worten wieder. Auch ich fühlte mich entbehrlich und im Stich gelassen. Unser Kummer zitterte in der Luft zwischen uns. Unterschiedliche Frequenzen, aber füreinander spürbar.
Eine der wichtigsten Fähigkeiten
Ich denke: Wenn eine Intensivmedizinerin eine Maskengegnerin verstehen kann, kann ich mich definitiv anstrengen, wieder geduldiger zu werden.
„Um die Klimakatastrophe auszuhalten, müssen wir es irgendwie schaffen, unterschiedliche Sichtweisen zu integrieren“, schrieb mir neulich eine Kollegin. Der Schmerz will gesehen werden, egal wie unterschiedlich er sich äußert. Es gibt im Erleben von Verlust eine kollektive Erfahrung, die man würdigen kann, trotz aller Differenzen.“
Vielleicht ist es sogar eine der wichtigsten Fähigkeiten, die wir in Zukunft brauchen werden.
Redaktion: Lisa McMinn, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Esther Göbel, Audioversion: Christian Melchert