„Männlichkeit muss nicht toxisch sein, aber toxische Männlichkeit zerstört die Welt.“ Als die britische Feministin Laurie Penny diesen Satz schrieb, konnte sie nicht ahnen, dass gut zwei Wochen vor Erscheinen ihres neuen Buchs „Sexuelle Revolution“ der russische Präsident Wladimir Putin einen aggressiven Angriffskrieg gegen die Ukraine führen würde. Die Beobachtungen, die Penny macht, sind jetzt aktueller denn je. Dies ist ein leicht gekürzter Auszug aus dem Kapitel „Heldendämmerung“.
Irgendwo am Fransenrand meines zweiten Lebensjahrzehnts wurde mir klar, dass ich mich in Bezug auf Männer geirrt hatte. Ich hatte ihre Bedürfnisse und Gefühle über meine eigenen gestellt, nicht weil ich ein besonders netter Mensch bin, sondern weil ich gehört hatte, dass ich so auf der sicheren Seite wäre. Ich hatte da etwas falsch verstanden. Wie viele andere war ich davon ausgegangen, dass populistische Tyrannen und ultrarechte Demagogen die Welt überrennen und mit der Clownskarre der Kultur in den Klimakollaps steuern, weil Männer unglücklich sind. Vor allem weiße Männer. Vor allem bourgeoise weiße Männer. Ich dachte, ihr Wohlbefinden sei einfach wichtiger als die Einwilligung von uns anderen. Ich habe mich geirrt.
Einer der zentralen Irrtümer moderner Männlichkeit ist die Annahme, Männer würden emotional unterdrückt. In Wahrheit sind Männer und Jungs emotionale Analphabeten, wird doch den meisten von ihnen in ihrer Erziehung beigebracht, emotionale Kompetenz sei etwas Unmännliches. Wie sonst konnten wir in dieser toxischen, verqueren Welt landen, in der Männer gewohnheitsmäßig ihre Gefühle mit Fakten verwechseln, in der Männer ihre eigene Liebe oder Lust als übermächtige Befehle erleben, denen sie zu gehorchen haben?
Eine ernsthafte, ehrliche Debatte über die Gefühle von Männern
Männer haben nicht von Natur aus weniger emotionale Fähigkeiten als Frauen. Doch von Mädchen wird schon sehr früh erwartet, dass sie lernen, die eigenen Gefühle zu zügeln und auf die anderer Rücksicht zu nehmen. In den vielen Jahrzehnten, in denen nun schon menschliche Gehirne seziert und untersucht werden, hat man keine Drüse für menschliche Empathie und Gefühlskontrolle finden können, die bei den männlichen Exemplaren unserer Spezies fehlte. Entscheidend ist hier nicht, dass so viele Männer nicht in der Lage sind, mit ihrem Unbehagen fertig zu werden, sondern dass die Gesellschaft insgesamt nicht in der Lage ist, mit ihrem Unbehagen fertig zu werden, weil es als unmännlich gilt, wenn einer auch nur die einfachsten Bewältigungsstrategien erlernt, die ihm in Zeiten des Wandels und der Unsicherheit helfen würden. Während das mögliche Unbehagen von Männern ein Problem ist, das gelöst werden muss, wird der Schmerz von Frauen als normal hingestellt, unsichtbar gemacht und – zumindest bis zu einem gewissen Grad – als unser Schicksal in Natur und Schöpfung hingenommen.
Es ist nicht antifeministisch, wenn wir die Gefühle von Männern ernst nehmen. Antifeministisch ist es, wenn gefordert wird, die Gefühle von Männern privilegiert zu behandeln, wenn männliche Erfahrungen ernster genommen und Frauen schikaniert oder einschüchtert werden, damit sie das Wohbefinden der Männer über die eigene Sicherheit stellen. Es ist nicht falsch, wenn wir Männern helfen, ihre Blessuren zu behandeln und sich weiterzuentwickeln, doch wir dürfen beides nicht über Sicherheit und Entwicklung einer ganzen Community stellen.
Eine ernsthafte, ehrliche Debatte über die Gefühle von Männern könnte allerdings wehtun. Es könnte sein, dass wir an den weichen und schmerzhaften Stellen unter dem Panzer männlichen Gebarens herumstochern müssen. Es könnte sein, dass wir das gesamte emotionale Spektrum besprechen müssen, einschließlich Verletzlichkeit, Enttäuschung, Einsamkeit, Verlegenheit und Angst, diese „unmännlichen“ Gefühle, die zur Kenntnis zu nehmen Männern und Jungs ausgetrieben wurde.
Es bringt nichts, wenn Männer und Jungs sich selbst hassen
Heterosexuelle Männer leiden oft unter dem erdrückenden Widerspruch, das hassen zu müssen, was sie begehren. Gebrochene Männer versuchen auf eine sehr spezielle und unvorhersehbare Art, ihren Selbsthass im Körper einer Frau zu begraben und Intimität in einen Akt der Dominanz zu verdrehen, und wer einer Frau so etwas antut, kann sie unmöglich gleichzeitig als Individuum mit einem eigenen, gleichermaßen wertvollen Leben respektieren. Die mir bekannten Männer, die Frauen – auch mir persönlich – den größten Schaden zugefügt haben, zählen zu den gestörtesten Menschen, die ich kenne. Das ist keine Entschuldigung, ganz und gar nicht. Verletzte Menschen verletzen nicht immer und unweigerlich auch andere. Wir wissen das, weil es vielen männlichen Missbrauchs- und Traumaopfern gelingt, den Gewaltkreislauf zu durchbrechen. Sie haben den Mut aufgebracht, sich ihr Leben nicht vom eigenen Trauma diktieren zu lassen. Sie wissen, dass diejenigen, die sich dieser Aufgabe stellen, ein besseres Leben und bessere Welten erschaffen können.
Die sexuelle Revolution verlangt von Männern und Jungs nicht, dass sie sich selbst hassen. Scham und Selbsthass sind keine hilfreichen Gefühle. Sie machen aus niemandem einen besseren Menschen, einen besseren Partner oder einen besseren Mann. Auf diesem Planeten hausen sieben Milliarden Menschenseelen, und die Wahrscheinlichkeit, dass wir, du oder ich, die besten oder schlechtesten von ihnen sind, ist verschwindend gering. Meistens behindert Selbsthass den raschen und positiven Wandel, den unsere Spezies gerade jetzt so dringend braucht. Wir alle kennen Leute, die dermaßen in ihre eigene Selbstverachtung verliebt sind, dass man sich über kleine, alltägliche, menschliche Fehler mit ihnen gar nicht unterhalten kann. Leute, die sich so darauf versteifen, ein schlechter Mensch zu sein, dass sie nicht in der Lage sind, ein besserer Mensch zu werden.
Sexuelle Gewalt drängt Scham in einen anderen Körper
Aber Männer sind, als politische Klasse betrachtet, durchaus nicht zu fragil, um mit den Folgen ihres Tuns fertig zu werden. Es ist keine freundliche Geste, wenn wir niedrige Erwartungen an einen Mann haben oder ihm ständig die emotionale Arbeit abnehmen. Es ist keine freundliche Geste, wenn wir den Drohungen nachgeben, die in Missbrauchsbeziehungen üblich sind: Wenn du nicht machst, was ich will, tue ich mir oder dir oder uns beiden Gewalt an. Lange dachte ich, es sei ein Beweis meiner Liebe, wenn ich von einem Mann nicht so viel erwartete. Falsch gedacht. Das war keine Liebesbezeugung. Es war keine freundliche Geste. Ich war einfach nur nett – und Nettigkeit ist nicht genug.
Im Kern vieler Männlichkeitsparadigmen steckt schonungsloser Selbsthass. Die meisten mir bekannten Männer, die Frauen verletzt haben, empfinden tiefe Scham, auch für die betroffenen Frauen. Sexuelle Gewalt eröffnet die Möglichkeit, die Scham in den Körper eines anderen Menschen zu verdrängen. Diese Scham – die Vorstellung, dass Männer nicht Schlechtes tun, dass Männer schlecht sind – hat nicht der Feminismus in die Welt gesetzt. Sie entspringt dem Patriarchat. Und im Mittelpunkt dieser Scham steht die Angst, „erwischt zu werden“. Denn die meisten Männer und Jungs wissen ja, dass ihr Verhalten bisweilen problematisch ist. Und die meisten Männer und Jungs haben auch ein schlechtes Gewissen. Schwierig wird es, wenn sie sich einreden, dass das schlechte Gewissen schon ausreicht.
Unterdessen kümmern sich Frauen und Mädchen um die Rehabilitation der Männer – und leiden darunter. Wenn Frauen und Mädchen mit Männern deren schwierige Gefühlslage zu der von ihnen begangenen Gewalt besprechen, leisten sie emotionale Arbeit. Viele dieser Frauen und Mädchen haben selbst Gewalt erfahren, konnten aber, als das geschah, nicht auf solche Unterstützung zählen. Ihnen wurde implizit oder explizit zu verstehen gegeben, sie sollten besser schweigen, oder sie würden schon sehen, was passiert. Wenn man sie aus ihrer Community ausschloss oder das, was sie erlebt hatten, für unwichtig erklärte, interessierte sich niemand für die psychischen Folgen.
Gerechtigkeit heißt nicht, Männer in ihrem Unbehagen zu verhätscheln
Ich habe viel dabei gelernt. Ich habe gelernt, dass manche Männer wirklich und ehrlich nicht wissen, was sie falsch gemacht haben, und auch nicht wissen, was sie nun tun sollen, und dass Schmerz, Schuld und Scham tief sitzen. Aber nur, weil sie leiden, ist der Prozess, den wir kollektiv durchlaufen, nicht ungerecht. Gerechtigkeit heißt nicht, Männer in ihrem Unbehagen zu verhätscheln.
Als in den letzten Jahrzehnten das Anrecht der Männer auf die Herrschaft im Haus und im öffentlichen Leben immer mehr ins Wanken geriet, galt es, neue Begründungen zu finden. Wer sich die Geschichte nicht mehr so zurechthämmern kann, dass sie die eigene Scham verhüllt, versucht sein Verhalten auf andere Weise wegzuerklären. Ein Freifahrtschein, den sich das Patriarchat gern ausstellt, ist der Hinweis auf die Natur und vor allem auf eine spezielle Form der Evolutionsbiologie, die mehr mit magischem Denken als mit wissenschaftlicher Präzision zu tun hat. In der männlichen Dominanz, heißt es, manifestiere sich die natürliche Auslese, in der Rape Culture ein evolutionärer Vorteil. Männer und Jungs kämen eben gewalttätig und egoistisch zur Welt, und wenn nicht Gott sie so geschaffen habe, dann sei es die Natur gewesen.
Diese Interpretation der Evolution wird als „Soziobiologie“ oder „biologischer Determinismus“ bezeichnet. Einfach und verführerisch, wie die Theorie ist, hat sie sich in der Volksweisheit mittlerweile etablieren können. Der Aktienhandel der Ideen befindet sich derzeit im freien Fall, es wimmelt nur so von zwielichtigen Händlern und faulen Krediten. Mit dem biologischen Determinismus lassen sich lausige Ideen bequem waschen und wieder auf den Markt werfen. Nach diesem konfusen Männlichkeitsbild sind Männer nichts anderes als testosterongesteuerte Tiere und folgen Naturgesetzen, die den Prinzipien des Spätkapitalismus bemerkenswert ähnlich sind: Nimm dir, was du haben willst, und zieh den anderen über den Tisch. Diese simple Geschichte halluziniert eine Welt des Heldentums und der Hierarchien, in der sich jede mögliche moralische oder ethische Schwierigkeit im Dreiklang Kämpfen-Ficken-Töten auflöst.
Der Besitz eines Penis legt nicht die ethischen Fähigkeiten lahm
Wieder einmal ist es ein Rätsel, warum sich nicht mehr Männer beleidigt fühlen von der These, der Besitz eines Penis lege von vornherein ihre ethischen Fähigkeiten lahm. Vielleicht liegt es ja daran, dass Tiere unschuldig sein dürfen. Tiere dürfen ihren Instinkten gehorchen. Wenn die Natur für das einstehen muss, was die Kultur verbockt hat, können sich moralische Memmen dadurch berechtigt fühlen, ihre persönliche Verantwortung abzugeben. Vor allem junge Männer behaupten, wenn es ihnen gerade in den Kram passt, mit seltsamer Verve, sie seien nicht besser als Tiere. Mit soziobiologischen Argumenten werden alle möglichen genderspezifischen Ungerechtigkeiten wegerklärt, seien es ungleiche Bedingungen am Arbeitsplatz (Männer haben eben ein größeres Gehirn und sind deshalb intelligenter) oder moderne Schönheitsideale (weil die Natur Frauen geschaffen hat, damit Männer sie sexuell reizvoll finden, müssen sie unbe- dingt auf das ideale Verhältnis von Taillen- und Hüftumfang achten). Wie Cordelia Fine und andere Wissenschaftler:innen akribisch aufgedröselt haben, ist „entgegen der Ansicht, dass das männliche und weibliche Gehirn auffallende Unterschiede aufweisen, kein Unterschied wirklich grundlegend. Selbst bei den größten Differenzen war die Überschneidung bei den Geschlechtern so groß, dass etwa jedes fünfte Frauengehirn „männlicher“ war als das des durchschnittlichen Mannes.“
Die Theorie der Evolution durch natürliche Auslese ist umfangreich, komplex und großartig, aber wenn sie etwas nicht ist und nie war, dann ein wie auch immer geartetes moralisches Argument. Von Anfang an aber wurde versucht, sie in ein solches umzuformen. Die Entstehung der Eugenik, nach der „schlecht angepasste“ Exemplare der Spezies Mensch an der Fortpflanzung gehindert werden sollten, erlebte Darwin noch selbst, und er wandte sich angewidert ab. Trotzdem berufen sich kleinkarierte „neomaskulinistische“ Pop-Philosophen und Youtube-Televangelisten gern auf Darwins Theorie, um die eigene Bigotterie zu legitimieren – eine Fehlinterpretation, die den Wissenschaftler wie auch seine Arbeit beleidigt.
Nicht, dass sich unter dem Morast der Evolutionsmystik keinerlei Fakten verbergen würden. Nicht, dass es keine solide Forschung, keine plausiblen Theorien gäbe, aber diese hauchdünnen Scheibchen echter wissenschaftlicher Forschung sind im schweren Frittierteig zweckmäßiger Fiktionen gewälzt, in überliefertem Wissen ausgebacken und mit der Spezialsoße populärer Vorurteile übergossen, damit sie für all jene, die den Mund schon mit tröstlichen Lügen voll haben, leichter zu schlucken sind. Das Zeug ist nicht gut für uns. Am Ende setzt es sich als Verkalkung am Herzen ab.
Moderne Männlichkeit? War schon kaputt, als wir kamen
Die Behauptung, das männliche Menschentier neige von Natur aus zu Dominanz, Gewalt und Sadismus, ist reine Propaganda. Essenzialismus ist seit jeher konservativ, aber es lohnt sich, den Schlachtruf der schwächlichen Misogynie- Apologeten – „Nicht alle Männer sind so!“ – einmal umzudrehen: Nicht alle Männer beschwören inständig die eigene Biologie. Nicht alle Männer sind unfähig, sich zu ändern. Wenn Männer Frauen kacke behandeln, so geschieht das nicht, weil Männer so sind, sondern weil Männer so fühlen und kaum Methoden für eine gewaltfreie Emotionskontrolle an der Hand haben.
Seit Menschengedenken gelten nicht Männer, sondern Frauen als ungezügelt und sexuell entfesselt. Im 19. Jahrhundert hielt man den weiblichen Sexualtrieb für animalisch und steuerungsbedürftig. Im Gegensatz dazu stellt sich die moderne Kultur die Frau als eine leere sexuelle Leinwand vor, ein erotisches Gefäß ohne ernst zu nehmendes eigenes Begehren. Wenn Frauen doch Gelüste verspüren, werden sie angehalten, sie zu behandeln wie jeden anderen Hunger, der sich in ihrem widerspenstigen Körper meldet: als etwas Gefährliches, das sie umgehend unterdrücken müssen, ehe es sie in Schwierigkeiten bringt.
Die falsche These von den natürlichen Anlagen entschuldigt nicht nur Verbrechen gegen Frauen, sie macht auch Verbrechen gegen Männer und Jungs vollständig unsichtbar. Wenn die Verhaltensweisen, die gemeinhin als männlich gelten, wirklich so natürlich wären, müssten sie nicht mit solcher Gewalt durchgesetzt werden. Wenn Sanftheit und Gefühle bei kleinen Jungs wirklich so anormal wären, würde man sie ihnen nicht wie den Teufel austreiben. Wenn aus kleinen Jungs automatisch Männer würden, müsste man sie nicht dazu anhalten, ihren Mann zu stehen. Der biologische Determinismus ist eine Ausrede: Wir erkennen dahinter das Wrack der modernen Männlichkeit, zucken mit den Schultern und sagen, tja, so haben wir das vorgefunden. Das war schon kaputt, als wir kamen.
Die langgehegte Annahme, dass Gewalt – einschließlich sexueller Gewalt – ein unvermeidlicher Fortsatz männlicher Sexualität und ein grundlegender Bestandteil männlicher Identität sei, gehört zu den perfidesten Lügen, die derzeit eine vollständige Gesundung der menschlichen Spezies verhindern. Der Sozialdarwinismus hat die Unmenschlichkeit gegen den Menschen zu einem moralischen Gebot umgedeutet. Die Sicht der „Natur“ orientiert sich meist an den sozioökonomischen Normen unserer Zeit, und im Moment hört man allenthalben, Gewalt, sexuelle und rassistische Ungerechtigkeit und erbarmungsloser Wettbewerb hätten nicht nur ihre Berechtigung, sondern seien gewissermaßen eine biologische Pflicht.
Der Versuch, menschliches Verhalten zu erklären, indem man es mit tierischem Verhalten vergleicht, erinnert an die Weissagung der Zukunft durch eine Begutachtung von Vogeleingeweiden, wie sie die alten Römer kurz vor der Plünderung einer Stadt praktizierten. Nehmen wir trotzdem einmal eine Minute lang an, das alles wäre so. Nehmen wir an, Männer wären infolge natürlicher Auslese tatsächlich brutal, sexuell ungezügelt, aggressiv, dominant und destruktiv, wohingegen Frauen ihrer Veranlagung nach passiv bleiben, hegen und pflegen und Männer ertragen. Angenommen, das wäre wirklich „natürlich“: Wäre es deshalb etwas Gutes? Hinter dem Plädoyer für die Natur steht die allgemeine Annahme, Geschichte und Biologie wären abgeschlossen, Anpassung und natürliche Auslese hätten ihre Arbeit getan, und das Endprodukt wäre der moderne Mensch.
Einige fühlen sich durch diese Vorstellung getröstet. Wer die Gegenwart verwirrend findet und die Zukunft fürchtet, verurteilt jeden Fortschritt als unnatürlich, denn das Persönliche ist nicht nur politisch. Es ist auch historisch, ökonomisch und materiell.
Einfach mal auf die verdammten Gefühle hören
Im August 1941 verfasste die Schriftstellerin Dorothy Thompson für Harper’s Magazine eine Taxonomie des Nationalsozialismus. Darin stellte sie einen einfachen Test vor, mit dem sich feststellen lasse, welche der Anwesenden eines beliebigen gesellschaftlichen Ereignisses mutmaßlich der faschistischen Versuchung nachgeben würden. „Aus freundlichen, guten, glücklichen, weltläufigen, selbstsicheren Menschen wird nie ein Nazi. […] Aber der frustrierte und gedemütigte Intellektuelle, der reiche und verunsicherte Spekulant, der verwöhnte Sohn, der tyrannische Arbeitgeber, der Bursche, der es mit dem richtigen Riecher zu Erfolg gebracht hat: Sie alle würden sich in einer Krise den Nazis anschließen.“ Das klingt plausibel. Und es gibt reichlich Belege dafür, dass auch heute Kummer und Verzweiflung viele Menschen den nihilistischen Sekten des Rassismus und des Sexismus in die Arme treiben.
Leider erschöpft sich die Geschichte nicht im Stereotyp. Zahlreiche verunsicherte, heterosexuelle weiße Gentlemen, die sich mit unwürdigen, wenn auch erwartbaren Ängsten um ihren Status in der Welt herumschlagen müssen, haben nicht von dem kryptofaschistischen Kool-Aid getrunken, so erfrischend es allen jenen, die sich in der Wüste der modernen Männlichkeit verirrt haben, auch vorkommen mag. Von solchen sanften, oft verzweifelten Seelen hören wir nichts, aber es gibt sie, irgendwo da draußen. Ich weiß das, weil ich welchen begegnet bin. Ich weiß es, weil einige meiner besten Freunde depressive, verunsicherte weiße Männer sind, die selten Sex haben und es dennoch irgendwie schaffen, sich menschlichen Anstand zu bewahren. Wenn mal wieder die Eilmeldung von einem grauenhaften Massaker über den Panikticker läuft, bekommt man von ihnen oft zu hören, in einem anderen Leben hätten sie das sein können. Aber sie waren es nicht. Warum nicht? Als ich vor ein paar Monaten mal wieder gelangweilt und gedankenschwer durchs Netz surfte, bat ich einige dieser Männer – Freunde und Fremde –, mir zu erklären, was genau sie vor diesem Weg bewahrt hat. Und sie erzählten es mir.
Es war meine Mutter, schrieb ein Mann. Sie hat mich dazu erzogen, Frauen zu respektieren. Es war mein Vater, schrieb ein anderer. Ich habe erlebt, wie er meine Mutter und meine Schwestern behandelte, und da habe ich mir geschworen, nicht zu werden wie er. Ich bin aus einer repressiven evangelikalen Gemeinde geflohen, schrieb wieder ein anderer, und habe einfach alles in Frage gestellt. Es war die Liebe zu Jesus Christus, schrieb einer. Meine Freundin auf dem College brachte Geduld für mich auf. Meine Frau hatte die Nase voll. Ich habe eine Tochter. Ich bin ein Sohn. Es waren die Mädchen in meiner Online-Gaming-Gruppe. Es war mein Karatelehrer. Ich trinke nicht mehr. Ich wurde verlassen. Ich habe mich gebessert.
Jede Antwort war anders. Gemeinsam war diesen Männern, dass sie alle eine erzählen konnten. Der eine oder andere Anlass hatte sie dazu bewegt, die Geschichte ihres Lebens umzuschreiben. Sexistische und nicht-sexistische Männer unterscheiden sich nicht dadurch, wie depressiv sie sind, sondern wie gut sie gelernt haben, damit umzugehen. Obwohl ihnen der Wegweiser fehlt, obwohl sie schreckliche Angst haben, halten sich viele Männer und Jungs von toxischer Männlichkeit fern und schreiben die Verluste ab. Und das ist mutig. Das ist Widerstand, zumindest ist es ein Anfang. Jeder Idiot kann sich eine weiße Kutte anziehen und die Fackel schwingen. Um den hasstriefenden harten Männern mit ihren lässigen Sprüchen und dem Versprechen, Männern ihren Schmerz und ihre Angst zu nehmen, ungerührt ins Gesicht zu sagen: „Heute nicht“, braucht es schon deutlich mehr. Feiglinge entscheiden sich lieber für ein Leben in brutaler, paranoider Pöbelei, weil sie davor zurückscheuen, sich einfach mal in ihr Zimmer zu setzen und auf ihre verdammten Gefühle zu hören. Echte Rebellion ist nicht, wenn man hinter jedem aalglatten faschistischen Hetzer hermarschiert, der zufällig des Wegs kommt und glorreiche Zeiten verspricht; echte Rebellion ist, wenn man sich nicht geistig zermalmen oder vereinnahmen lässt. Und vielleicht fühlt man sich danach nicht besser, aber man hat wenigstens nicht aufgegeben, und das ist heldenhaft.
„Böse“ Männer sind nicht das Problem
Die Männer, die ich besonders achte, sind nicht perfekt. Sie sind menschlich, und sie machen Fehler. Sie haben das Rückgrat, sich zu ändern, Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen, Irrtümer zu riskieren und darauf zu achten, dass ihre persönliche Entwicklung nicht zulasten anderer Menschen geht. Für Fehler ist ausreichend Raum da, man muss nur bereit sein, sie zuzugeben, sich wieder aufzurappeln und weiterzustolpern. Auch wenn man fürchtet, es womöglich zu vermasseln. Auch wenn man sich aus Angst, erwischt zu werden, lieber in seinem sicheren kleinen Panzer verschanzen würde. Das ist Mut.
Mut ist, wenn man weiß, dass emotionaler Schmerz kein Wettbewerb ist. Wenn man begreift, dass jeder Mensch ein anderes Trauma hat, dass jedes Trauma relevant ist und dass der Feminismus an dem Leid von Männern und Jungs in dieser Gesellschaft nicht schuld ist. Dass Männlichkeit nicht toxisch sein muss, aber dass toxische Männlichkeit die Welt zerstört. Dass wir gemeinsam da durchkommen oder gar nicht.
Was bedeutet es also, ein guter Mann zu sein? Die Antwort, die richtige Antwort, die mehr Männer bereit sein müssten sich anzuhören, lautet: Es spielt keine Rolle. Es spielt keine Rolle, weil „böse Männer“ gar nicht das Problem sind. Das wahre Problem ist eine ungerechte Gesellschaftsstruktur, in der Männer egal welchen moralischen Charakters den Großteil der Macht innehaben, weshalb der Verlauf eines Frauenlebens oft davon abhängt, wie vielen „bösen“ Männern sie unterwegs begegnet. Die meisten Frauen meines Bekanntenkreises, die einen „guten“ Mann zum Partner haben, schätzen sich glücklich, einen gefunden zu haben, der kein frauenfeindlicher feiger Kontrollfreak ist, aber Glück brauchen sie auch, wenn es an die Familie, Kollegen, Lehrer, Ärzte, Arbeitgeber und politischen Vertreter geht; und wenn die Würfel zu ihren Ungunsten fallen und ethische Dysphorie anzeigen, müssen sie eine Überlebensstrategie entwickeln.
Männer nehmen mit ihren moralischen Entscheidungen immer noch einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf das Leben von Frauen. Wenn Frauen und Mädchen derselbe Anteil an Macht und Ressourcen in der Gesellschaft zukäme, wäre es nicht mehr so wichtig, ob ein Mann „gut“ ist. Und das ist der Knackpunkt. Diese sexuelle Revolution zielt nicht darauf ab, dass sich Männer bessern. Diese sexuelle Revolution peilt eine Welt an, in der ein Frauenleben nicht davon abhängt, ob alle Männer um sie herum „gut“ sind.
Das Buch „Sexuelle Revolution“ von Laurie Penny ist am 7. März 2022 im Verlag Edition Nautilus erschienen. Es geht darin um Sex, Macht, Trauma und Widerstand, die Geschichte (weißer) Männlichkeit und die Krise der Demokratie – und um eine Vision, wie der Feminismus diese retten kann.
Laurie Penny, 1986 in London geboren, ist Journalistin, Buch- und Drehbuchautorin sowie Bloggerin. Sie hat englische Literaturwissenschaft in Oxford und Journalismus in Harvard studiert. Ihre Themenschwerpunkte sind Politik, soziale Gerechtigkeit, Popkultur und Feminismus.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Übersetzung: Anne Emmert, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger