Auf dem Campingplatz, in der Kirche, zu Hause: Immer häufiger werden massive Fälle von Kindesmissbrauch bekannt. Oft gibt es mehrere Täter, Videomaterial und die Taten bleiben jahrelang unentdeckt.
Derzeit sind Kinder noch verletzlicher: In immer mehr Familien gibt es seit Beginn der Pandemie häusliche Gewalt. Die Jugendämter verzeichnen einen Höchststand der Fälle von Kindeswohlgefährdung. Darin nicht inbegriffen: die Dunkelziffer. Denn oft bleibt der Missbrauch im Verborgenen, weil Erwachsene nicht eingreifen.
Wie kann das sein? Und was tut man, wenn man eine Ohrfeige auf der Straße beobachtet, als Lehrer:in blaue Flecken auf den Armen einer Schülerin entdeckt, oder die eigenen Kinder vor Missbrauch schützen will?
Darüber habe ich mit der Sozialpädagogin Martina Huxoll-von Ahn gesprochen. Sie ist stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes.
Frau Huxoll-von Ahn, ich sehe auf der Straße, wie ein Erwachsener einem Kind eine Ohrfeige verpasst. Was tue ich?
Sie könnten die Person darauf ansprechen und ihr sagen, dass das nicht in Ordnung ist. Das ist allerdings ein Balanceakt, weil sie nicht wissen, welche Folgen das für das Kind hat, ob sich das Elternteil später an dem Kind rächt. Aber sie könnten ein Ablenkungsmanöver versuchen.
Ablenkungsmanöver?
Das Problem ist folgendes: Wenn man Eltern in der Öffentlichkeit auf etwas anspricht, das sie nicht dürfen, beschämt man sie. Deshalb lenken wir ab, um nicht direkt auf die Aktion zu regieren, sondern alle Beteiligten zu entlasten – und die Situation zu deeskalieren. Dabei kommt es darauf an, wie alt das Kind ist.
Sagen wir, sieben Jahre.
Dann könnten sie das Kind ablenken und es beispielsweise auf sein Spielzeug ansprechen. Wie gesagt, das Ziel ist die Deeskalation.
Eine Ohrfeige ist aber eindeutig eine eine körperliche Bestrafung und gesetzlich verboten.
Bin ich also als Beobachter verpflichtet zu handeln?
Moralisch ja, aber nicht juristisch. Wenn sie den Verdacht haben, dass ein Kind Misshandlungen ausgesetzt ist – und ihm weitere drohen –, könnte man interpretieren, dass sie Wissen über eine geplante Straftat haben. Dann wäre es Bürgerpflicht, dieses Wissen an die Polizei weiterzugeben. Fälle, in denen Beobachter:innen so eine konkrete Tat voraussehen, sind allerdings sehr selten.
Wenn ich höre, wie einem Kind gedroht wird: „Später bekommst du eine ordentliche Tracht Prügel“, rufe ich aber die Polizei?
Und das Jugendamt. Dann machen sie als Beobachter:in alles richtig. Sie müssen aber damit rechnen, dass sowohl Polizei als auch Jugendamt, wenn sie solche Beobachtungen auf der Straße machen, dem nur schlecht nachgehen können. Denn die Menschen sind ja auf der Straße in Bewegung. Wenn sie nicht nur zufällig eine Misshandlung beobachten, sondern beispielsweise der Nachbar sind und somit der Ort zu lokalisieren ist, ist das anders.
Ich wohne in einem fünfstöckigen Haus in Berlin. Nehmen wir an, ich höre täglich Geschrei von Erwachsenen und das Weinen eines kleinen Kindes aus der Nachbarwohnung. Ich vermute, dass es geschlagen wird, bin aber nicht sicher. Gehe ich mal klingeln?
Die erste Frage ist: Kennen sie die Nachbarn? Dann können sie klingeln und die eigenen Beobachtungen schildern.
Aber statt „Ich höre immer ihr Kind schreien, weil sie es misshandeln“ empfehle ich zu sagen: „Ich bin in Sorge, weil ich ihr Kind so oft weinen höre.“ Man muss ja nicht direkt die vorwurfsvolle Vermutung äußern, dass das Kind Gewalt erfährt und kann bei der eigenen Sorge bleiben. Im besten Fall kommen sie dann ins Gespräch. Es kann ja auch viele andere Gründe für ein solches Verhalten geben.
Und wenn die Eltern abweisend sind?
Dann gibt es die Möglichkeit, das Jugendamt anzurufen, das verpflichtet ist, den Hinweisen nachzugehen. Das können sie übrigens auch anonym. Wenn sie allerdings den Eindruck haben, Gefahr ist im Verzug und das Kind wird hier gerade massiv misshandelt, informieren sie besser die Polizei.
Welche Formen der Kindesmisshandlung gibt es denn?
Wir sprechen heute von Gewalt gegen Kinder, denn das schließt alle Formen ein: Es gibt körperliche Gewalt, psychische Gewalt, sexualisierte Gewalt. Auch wenn Kinder Zeug:innen von elterlicher Partnergewalt werden, zählen wir das darunter. Eine passive Form der Gewalt ist die Kindesvernachlässigung. Das bedeutet, dass Bedürfnisse von Kindern chronisch nicht ausreichend berücksichtigt werden.
Laut polizeilicher Kriminalstatistik sind im vergangenen Jahr 152 Kinder gewaltsam getötet worden – 115 waren jünger als sechs Jahre.
Ich finde es furchtbar, dass wir in dieser aufgeklärten Gesellschaft mit diversen Unterstützungs- und Hilfemöglichkeiten trotzdem eine so hohe Zahl von zu Tode gekommenen Kindern haben.
Die Frage ist immer, gerade bei sehr kleinen Kindern: Wer hätte das denn merken können? Wir leben nunmal nicht in einem Überwachungsstaat.
Wenn Kinder körperliche Gewalt erfahren, fällt das wahrscheinlich zuerst an Schulen und Kitas auf. Welche Warnzeichen muss ich als Erzieher:in oder Lehrer:in kennen?
Bei körperlicher Misshandlung sind oftmals Spuren zu sehen, aber nicht jeder blaue Fleck ist das Ergebnis einer Misshandlung. Hier sind vor allem die Kinderärzt:innen gefordert. Sie machen in der Regel eine Plausibilitätskontrolle: Sie erfragen, woher ein bestimmter blauer Fleck kommt – und dann müssen Eltern eine Erklärung dazu abgeben.
Die Eltern könnten einfach behaupten, dass ein Geschwisterkind für die Verletzungen verantwortlich ist.
In diesen Fällen muss der Arzt schauen, ob die Geschichte zur Verletzung passt. Es gibt eindeutige Verletzungen, die auf eine äußere Form von Gewalt hinweisen: Beispielsweise blaue Flecken an den Innenoberschenkeln. So etwas zieht sich ein Kind nicht beim Spielen mit den Geschwistern zu. Auch Narben von Zigaretten, die auf der Haut ausgedrückt wurden, sind eindeutig zu erkennen.
Es gibt da eine ganze Fülle von Verletzungen, aus denen Ärzt:innen Rückschlüsse ziehen können. Es gibt für Kinderärzt:innen eine bundesweite medizinische Kinderschutzhotline, die an der Uni Ulm angesiedelt ist. Interdisziplinär zusammengesetzte Berater:innenteams, die die Ärzt:innen dabei unterstützen, was zu tun ist.
Diese Berater:innen schauen sich beispielsweise auch Röntgenbilder an, die von den Ärzt:innen anonymisiert und pseudonymisiert eingereicht werden können. Allerdings wissen wir, dass Eltern, die ihre Kinder kontinuierlich misshandeln, immer wieder die Ärzte wechseln.
Wenn ich mir als Lehrer oder Erzieherin Sorgen mache, kann ich aber nicht einfach beim Kinderarzt anrufen.
Sie können den Eltern mitteilen, dass das Kind Verletzungen hat, die dringend behandelt werden müssen. Und wenn sie danach als Lehrer:in den Eindruck haben, dass die Eltern nicht zum Kinderarzt gehen, dann müssen sie das Jugendamt informieren. Dazu sind sie nach dem Bundeskinderschutzgesetz verpflichtet.
Wie erkenne ich als Lehrer:in psychische Gewalt? Die hinterlässt keine blauen Flecken.
Das stimmt. Wir sprechen von psychischer Misshandlung, wenn Kinder zum Beispiel dauerhaft niedergebrüllt werden. Oder ihnen ständig gesagt wird, dass sie nichts wert sind. Wenn sie oft eingesperrt und ihnen Kontakte zu Gleichaltrigen verwehrt werden.
Das zu entdecken, ist nicht einfach. Wenn ein Kind plötzlich Verhaltensänderungen zeigt, möglicherweise ein Leistungseinbruch in der Schule, oder sich sozial isoliert, dann sind das Hinweise, dass etwas nicht in Ordnung ist. Diesen Auffälligkeiten sollten sie nachgehen. Denn einen Grund gibt es immer, der aber nicht zwingend auf Gewalt zurückzuführen ist.
Zuerst müssen Lehrer:innen das Gespräch mit den Eltern und dem Kind suchen, um herauszufinden, wie es zu den Verhaltensänderungen gekommen ist. Denn es ist durchaus möglich, dass ein Elternteil erkrankt oder der Opa verstorben ist.
Wenn es dafür keine gute Erklärung gibt, und sie den Eindruck haben, dass hier etwas nicht stimmt, können sie sich Rat bei einer telefonischen Fachberatungsstelle suchen.
Eine Möglichkeit ist hier das Hilfetelefon des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, das auch beim Thema psychische Gewalt vermitteln und weiterhelfen kann.
Es ist also nicht einfach zu erkennen, wann Kinder gefährdet sind – und wen man in welchem Fall einschaltet. Stimmt es, dass Kinderschutz und Gewaltprävention bis heute kein fester Bestandteil des Lehramtsstudiums sind?
Das ist leider korrekt.
Warum ist das so?
Ich weiß von Professor:innen, die das Thema in ihren Vorlesungen behandeln. Das ist aber die Ausnahme und kein fester Bestandteil des Curriculums der Hochschulen und Universitäten. Aus meiner Sicht müssten die Landesregierungen der Bundesländer klare Vorgaben formulieren, die es bis heute nicht gibt.
Lassen sie uns über Erziehung sprechen. Wie können Eltern ihre Kinder schützen?
Zuerst einmal geht es darum, dass wir alle Kinder als Wesen begreifen, die eigene Rechte, Bedürfnisse und Grenzen haben.
Der Klassiker ist: Die Oma kommt zu Besuch und möchte einen Kuss auf den Mund. Das Kind möchte aber nicht. Man kann dem Kind zugestehen, dass es das nicht machen muss und das sowohl der Oma, als auch dem Kind kommunizieren.
Können sich Kinder auch selbst schützen?
Grundsätzlich kann man Kinder über ihre Rechte aufklären. Sie sollten lernen, dass sie nein sagen dürfen, sich nichts gefallen lassen müssen und ein Recht auf Hilfe und Unterstützung haben. Das bedeutet aber nicht, dass sie für ihren eigenen Schutz verantwortlich sind. Zwischen Kindern und Erwachsenen besteht ein Machtungleichgewicht, Erwachsene sind immer überlegen. Kinder müssen und können sich nicht selbst helfen.
https://www.youtube.com/watch?v=4d1878xkAe0
Sicher. Aber wenn keine Vertrauensperson den Missbrauch entdeckt, müssen Kinder ja für sich selbst sprechen
Wenn Kinder in der eigenen Familie missbraucht werden, kommen sie in ungeheure Loyalitätskonflikte. Denn sie lieben in aller Regel trotz allem ihre Eltern. Sie geben wenig von dem preis, was innerhalb der Familie passiert. Gerade beim Thema häusliche Gewalt sind Kinder sehr vorsichtig, wenn sie sich anderen anvertrauen. Auch weil die Täter:innen natürlich Druck ausüben, um das Geheimnis zu wahren. Dennoch geben die meisten Kinder Signale, die aber oft von den Erwachsenen nicht gut genug gesehen und verstanden werden.
Was für Signale sind das?
Die Signale sind sehr individuell. Das macht es Erwachsenen so schwer, sie zu erkennen oder richtig einzuordnen. Es können etwa Verhaltensänderungen sein, die auch andere Gründe haben könnten. Zum Beispiel ein Leistungsabfall in der Schule, sozialer Rückzug oder Situationen, die das Kind spielt, um Erlebnisse zu verarbeiten. Auch sprachliche Andeutungen sind denkbar.
Was bewegt Menschen dazu, ihre eigenen Kinder zu misshandeln?
Der Klaps auf den Po oder die Ohrfeige entstehen meistens in Überforderungssituationen. Wir wissen, dass der überwiegende Teil der Eltern den Anspruch hat, ihre Kinder gewaltfrei zu erziehen, aber das klappt im Alltag nicht immer.
Aber eine kleine Gruppe von Eltern misshandelt ihre Kinder absichtsvoll und vorsätzlich und es wird in Kauf genommen, ihren Kindern Schaden zuzufügen. Das weist auf eine tiefgreifende Beziehungsstörung zwischen Eltern und Kind hin. Sexueller Missbrauch wiederum ist eine geplante Tat.
Wie gehen die Täter:innen dabei vor?
Sexuelle Misshandlung wird vorwiegend von Männern ausgeübt, die immer geplant und manipulativ vorgehen und nie zufällig misshandeln. Wir sprechen hier von einem sogenannten „Grooming-Prozess“, in dem die Täter testen, wie Kinder auf Grenzüberschreitungen reagieren, die die Täter dann weiter steigern.
Wir sprechen hier von zwei Gruppen. Erstens: Pädosexuelle, die eine sexuelle Orientierung auf Kinder oder Jugendliche haben. Dieses Interesse kann man nicht loswerden. Es bleibt.
Zweitens: Eine Gruppe der sogenannten situativen Täter:innen, die aus persönlich empfundenen Notlagen sexualisierte Gewalt gegen Kinder ausüben – aber eigentlich eine sexuelle Orientierung auf Erwachsene haben. Bei der ersten Gruppe ist die Gefahr einer Wiederholung höher, als bei der zweiten.
Aus Notlagen?
Das sind Situationen von „ich habe den Job verloren“ bis zu „mit meiner Frau klappt es gerade nicht so gut“, die dazu führen, dass sich diese Täter:innen an Kindern bedienen. Auch dieses Vorgehen ist immer strategisch geplant.
Was kann man präventiv tun, um Kinder zu schützen?
Die Charité in Berlin betreibt das Präventionsprojekt „Kein Täter werden“ für Pädophile, die nie übergriffig waren. Dort können sie lernen, wie man sein Leben einrichten kann, ohne diese sexuellen Interessen auszuleben. Wir sprechen von Pädosexuellen, wenn sie Täter:innen wurden und von Pädophilen, bei denen das nicht der Fall ist.
Ich nehme an, dass Väter die Haupttäter sind.
Nein. Betrachten wir all die verschiedenen Formen von Misshandlungen, sind es sowohl Mütter als auch Väter. Leider wird in diesem Bereich zu wenig geforscht. Beim Thema sexualisierte Gewalt wissen wir etwas mehr: Nach heutigem Kenntnisstand sind Männer zu 80 Prozent die Täter.
Zurück zur Frage, wie Erwachsene Missbrauch verhindern können. Sprechen wir über den Fall Bergisch Gladbach: 2020 verurteilte das Landgericht Köln Jörg L. zu zwölf Jahren Haft. Er soll den Missbrauch seiner Tochter schon einen Tag nach der Geburt geplant haben. Er arbeitete früh daran, seine Tochter an andere Pädophile zu gewöhnen und machte Fotos und Videos von seinen Taten. Laut der Staatsanwaltschaft nutzte er die Zeiten, in denen seine Ehefrau nicht zuhause war. Wie oft kommt es vor, dass ein Elternteil am anderen Elternteil vorbei das eigene Kind missbraucht?
Das gibt es häufiger, als wir uns vorstellen können und hat damit zu tun, dass die Täter in diesen Fällen hochstrategisch und -manipulativ vorgehen. Wenn der oder die Partner:in dann im Schichtdienst arbeitet, nutzen sie das aus und alles wird daran gesetzt, damit die andere Person nichts davon mitbekommt.
Es gibt natürlich Fälle, in denen Mütter die Augen davor verschließen. Man kann aber nicht grundsätzlich davon ausgehen, dass der andere Elternteil von den Misshandlungen etwas erfährt.
Im Fall Bergisch Gladbach handelte es sich um ein Kind, das der Vater von klein auf missbrauchte. Im Kleinkindalter gibt es ohnehin kaum Bezugspersonen, die eine Verhaltensveränderung feststellen können. Das ist das Problem: Die Gewalt bleibt in der Familie. Ein ganz anderer Fall war Lügde.
Ein Fall, in dem auf einem Campingplatz an der Grenze zu Niedersachsen Täter jahrelang Kinder missbrauchten. In mindestens 271 Fällen, wie das Gericht feststellte. Das Jugendamt hatte dem Haupttäter trotz zahlreicher Missbrauchshinweise ein Kind zur Pflege überlassen. Ein Untersuchungsausschuss im nordrhein-westfälischen Parlament hat zwei Jahre lang aufgearbeitet, wie es zu der Missbrauchsserie kommen konnte.
Auf dem Campingplatz fiel der Hauptbeschuldigte unter anderem einem anderen Mann auf, weil er komische Bemerkungen machte und Kindern selbstverständlich zwischen die Beine fasste.
Der beobachtende Mann wandte sich schon zwei Jahre, bevor der Fall bekannt wurde, an das Jugendamt und die Polizei. In so einem Fall sind Kinder auf andere Erwachsene angewiesen, die über Beobachtungen ein komisches Gefühl haben und aktiv werden.
Wie häufig werden Täter:innen aufgrund solcher Hinweise von Beobachter:innen überführt?
Dazu gibt es keine Statistik. In einigen Fällen machen die Mütter eine Anzeige gegen ihren Partner – und sehen das als Grund, sich von ihrem Partner zu trennen. Ein Problem ist, dass es bei einem Verfahren über sexuellen Missbrauch oft keine Beweise körperlicher Verletzungen gibt. Die betroffenen Kinder sind Opfer und gleichzeitig die einzigen Zeugen. Je nach Alter des Kindes werden dann Glaubwürdigkeitsgutachten angefertigt, um zu überprüfen, ob man den Erzählungen des Kindes glauben kann.
Wenn dies nicht der Fall ist und keine Beweise vorliegen, müssen Verfahren eingestellt werden. Nicht, weil nichts vorgefallen ist – sondern weil es nicht bewiesen werden kann.
Allerdings ist die Praxis der Glaubwürdigkeitsgutachten in der Fachwelt, also bei allen Professionen, die sich mit sexueller Gewalt beschäftigen, stark in der Kritik.
Nur ein kleiner Teil der Taten wird allerdings angezeigt. Oft bleiben Kinder mit ihren Gewalterfahrungen allein, bis sie erwachsen sind. Was können Betroffene Jahre oder Jahrzehnte später tun?
Beim Thema sexualisierte Gewalt haben wir sehr lange Verjährungsfristen: Man kann warten, bis man volljährig ist, und hat dann bei schwerem sexuellen Missbrauch noch 30 Jahre Zeit, um eine Anzeige bei der Polizei zu machen. Bei allen anderen Formen der Gewalt tritt eine Verjährung schon nach zehn Jahren ein. Das Problem ist, dass es häufig nach so langer Zeit schwierig sein kann, die notwendigen Beweise dafür zu erbringen und möglicherweise Aussage gegen Aussage steht.
Meine Empfehlung ist, sich an Beratungsstellen und spezialisierte Therapeut:innen zu wenden. Dort würde ich mir auch Gesprächspartner:innen suchen, wenn ich sie in meinem sozialen oder familiären Umfeld nicht habe.
Wie kann eine betroffene Person das Gespräch in der Familie suchen, wenn diese jahrzehntelang darüber geschwiegen hat?
Nehmen wir das Beispiel, dass der Vater der Täter war. Oft leiden Kinder und Jugendliche darunter, dass der andere Elternteil, hier die Mutter, möglicherweise davon wusste, aber nicht eingeschritten ist und das Kind nicht beschützt hat. Man kann als Erwachsene:r versuchen, die Eltern darauf anzusprechen. Ob diese dann gesprächsbereit sind, ist sehr unterschiedlich.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert