Für Krautreporter-Mitglied Julia ist Sex wichtig, sagt sie. Und dennoch schläft sie manchmal wochenlang nicht mit ihrem Partner: „Die Lust kommt im Alltagstrott eben nicht von alleine.“ Julia ist 39 Jahre alt, arbeitet als Projektmanagerin und ist mit ihrem Partner seit mehr als drei Jahren zusammen. Seit einiger Zeit leben sie in einer gemeinsamen Wohnung.
Während Paare zu Beginn ihrer Beziehung oft die Finger nicht mehr voneinander lassen können, lässt der Drive bei vielen mit der Zeit nach. Heißer, aufregender Sex wird durch Chips, das Sofa und „Squid Games“ oder „In aller Freundschaft“ ersetzt. Auch bei Julia: „Es ist zwar schön, zuhause zusammen Netflix zu schauen, aber wenn man es jeden Abend macht, kann es ein Lustkiller sein.“ Doch wie wichtig ist Lust überhaupt für eine Beziehung? Ist Sex der Kitt, der zwei Menschen zusammenhält – oder kann es ohne genauso schön sein?
Sex in Beziehungen ist heute so facettenreich wie vielleicht nie zuvor. Für manche Menschen spielt Sex in einer Beziehung überhaupt keine Rolle – etwa weil sie asexuell sind, also gar kein Verlangen haben. Andere Paare brauchen Sex umso mehr und setzen auf ein offenes Beziehungsmodell, bei dem beide körperliche Nähe auch mit anderen Menschen teilen. Eine Studie, die im Deutschen Ärzteblatt erschien, fand heraus, dass das leider auch oft unausgesprochen gilt: Demnach gehen 21 Prozent der Männer und 15 Prozent der Frauen in festen Beziehungen fremd. Oft, weil ihnen in der Partnerschaft etwas fehlt. Welchen Stellenwert spielt Sex also wirklich in einer Beziehung?
Umut Özdemir ist Diplom-Psychologe, Psycho- und Sexualtherapeut in Berlin. Er sagt: „Es ist schwierig, eine allgemeine Antwort darauf zu geben.“ Das Sexleben gestalte sich schließlich bei jedem Paar individuell. „Aber feststeht, dass Sex für viele Paare wichtig ist und zu einer funktionalen Beziehung dazugehört.“
„Ohne Sex wäre es nur eine Wohngemeinschaft“
Um uns einen Überblick über euer Sexleben zu verschaffen, haben wir eine Umfrage gestartet, bei der rund 750 KR-Mitglieder teilgenommen haben. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, haben uns aber gezeigt, dass Sex bei den meisten Befragten einen eher hohen Stellenwert hat: Auf unserer Skala von 1 bis 7 liegt das Mittel bei 4,8.
Auf die Frage, warum das so sei, sagte etwa der 28-jährige Tobias: „Sex ist die Möglichkeit, mich meiner Partnerin körperlich nah zu fühlen, ihren Körper kennenzulernen und uns gegenseitig ein tolles Gefühl zu geben.“ Eine 26-jährige Teilnehmerin, die anonym bleiben möchte, sagt: „Sex ist für mich eine andere Form der Kommunikation in der Beziehung. Keinen Sex mehr zu haben, wäre ein bisschen so, wie nicht mehr miteinander zu reden.“ Und eine 44-jährige Person sagt, Geschlechtsverkehr sei für sie ein Teil der Partnerschaft, genauso wie gemeinsame Urlaube oder Hausarbeit: „Ohne Sex wäre es nur eine Wohngemeinschaft.“
Paartherapeut Umut Özdemir sagt, dass Sex vor allem am Anfang einen hohen Stellwert hat: „Körpersprache und Zeichen der Zuneigung sind vor allem beim Daten wichtig.“ Denn Sex gebe Menschen beim Kennenlernen die Möglichkeit, auszuprobieren, ob sie auf verschiedenen Ebenen zueinander passen. Aus Therapiesitzungen mit vielen Paaren weiß er aber auch: „Bei einem Teil der Paare spielt Sex leider nach einer längeren Zeit eine weniger wichtige Rolle.“ Die Häufigkeit nehme mit den Jahren ab und das oft gar nicht freiwillig. Dabei hänge das Sexleben häufig damit zusammen, wie zufrieden man in der Beziehung ist: „Wir wissen aus Befragungen, dass Paare, deren Beziehung langfristig gut funktioniert, auch regelmäßig Sex miteinander haben.“
Anfangs wirkt ein Orgasmus wie Kokain
Bei Julia, die wir schon am Anfang dieses Textes kennengelernt haben, ist es so: Sex spielt für sie zwar eine bedeutende Rolle, aber dass sie heute weniger Bedürfnis nach ihrem Partner hat, habe damit zu tun, dass aus dem „krassen Verliebtsein“ eben Liebe geworden sei. Die Liebe sei beständig, der Partner verlässlich – aber die Beziehung dadurch eben weniger aufregend: „Wenn du länger zusammen bist und eine gemeinsame Wohnung hast, gehst du ja davon aus, dass dein Partner morgen und übermorgen auch noch da ist.“ Das Prickeln habe bei Julia irgendwann abgenommen. Deshalb müsse sie mit ihrem Partner immer wieder daran arbeiten, das Sexleben aufregend zu gestalten: „Eine Beziehung ist Arbeit, für die man immer etwas machen muss.“ Die Paartherapeutin Esther Perel hat dieses Dilemma in einem sehr beliebten Tedtalk so zusammengefasst: „Können wir begehren, was wir schon haben?“
Dass das Prickeln gerade am Anfang einer Beziehung spürbar ist, liegt daran, dass Verliebte einen besonders hohen Dopaminspiegel haben. Der Botenstoff wird auch beim Orgasmus ausgeschüttet und wirkt auf das Belohnungszentrum im Gehirn tatsächlich so ähnlich wie Kokain. Das führt dazu, dass wir schon beim Gedanken an eine Person zufriedener oder euphorischer sind. Doch wie bei regelmäßigem Drogenkonsum gewöhnt sich unser Hirn irgendwann an den Stoff. Die Folge: Die Wirkung lässt nach. Das führt dazu, dass der Botenstoff nach drei bis vier Jahren Beziehung nur noch spärlich aus den Nervenzellen abgegeben wird. Deshalb sind Paare nach einer Weile einfach nicht mehr so heiß aufeinander wie zu Beginn. So geht es auch vielen KR-Leser:innen. Martin, 53, berichtet, dass er und seine Parterin weniger miteinander schlafen, seit seine Partnerin in der Menopause sei. Dadurch hätte Sex für sie derzeit einen niedrigeren Stellenwert als für ihn. Und eine 40-jährige anonyme Person sagt: „Seit wir Kinder haben, haben wir viel seltener (aber nicht weniger intensiv!) Sex. Die Beziehung spielt sich auf anderen Ebenen ab.“
Tatsächlich ist der Dopamin-Abbau nicht der einzige Grund dafür, dass die Lust abnimmt, sagt Sexualtherapeut Özdemir. In Befragungen habe man herausgefunden, dass Paare häufig etwa bis zu einem Jahr nach der Geburt eines Kindes gar keinen Sex haben. In dieser Lebensphase braucht zum einen der weibliche Körper Zeit, um sich zu regenerieren. Andererseits dauert es, bis man sich als Paar an die neue Situation gewöhnt hat. Und nicht nur Neugeborene, sondern auch andere Herausforderungen im Leben wirken sich auf das Sexleben aus: „Die Lust auf Sex geht häufig verloren, wenn man belastet ist“, sagt Özdemir. Stress und Ärger im Job können die Lust genauso beeinflussen wie ein Todesfall oder eine chronische Krankheit.
Zieht sich eine sexlose Phase besonders lange hin, kann das auch negative Auswirkungen auf eine Beziehung haben, sagt Özdemir: „Regelmäßiger Sex, der als gut erlebt wird, trägt dazu bei, dass emotionale Intimität aufgebaut und verstärkt wird.“ Das wirke sich positiv auf die emotionale Nähe im Alltag aus.
Je sicherer man sich miteinander fühlt, desto weniger Sex hat man
Die 70-jährige Katinka, die hier nur unter Pseudoym zitiert werden möchte, war verheiratet und zog mit ihrem Ehemann drei Kinder groß. „Wir haben eine glückliche Ehe geführt, aber der Sex nahm irgendwann ab“, sagt sie. Nach mehr als 40 Jahren Ehe verstarb ihr Mann. In der schwierigen Zeit nach seinem Tod habe sie ihr Leben neu sortiert. Reisen, Arbeit, Familie und ihre beste Freundin haben ihr dabei geholfen: „Ich hatte acht Jahre keinen Sex und es hat mir auch nicht gefehlt.”
Soweit will Julia es nicht kommen lassen. Deshalb gibt es auch Abende, an denen sie den Fernseher ausgeschaltet lässt und sich mit ihrem Partner zu einem Date verabredet. Statt es sich zuhause bequem zu machen, machen sie sich schick und verlassen das Haus: „Der Moment vor dem Sex, in dem Lust entsteht, ist mir besonders wichtig“, sagt Julia. Manchmal fühle sich das zwar etwas erzwungen an, sagt sie, „aber es ist mir wichtig, an der Leidenschaft zu arbeiten.“
Das sieht KR-Leserin Nina, 31, genauso. Sie lebt mit ihrem Freund in einer gemeinsamen Wohnung im Ruhrgebiet. „Ich versuche, immer wieder neue Dinge zu initiieren“, sagt sie. Im Dezember kaufte sie deshalb einen erotischen Adventskalender. Und Rollenspiele haben sie auch schon ausprobiert.
Der Paartherapeut Umut Özdemir sagt: „Wenn beide das wollen, kann es sinnvoll sein, Neues auszuprobieren.“ Was genau dem Paar hilft, sich körperlich wiederzuentdecken, sei dabei ganz individuell: „Manche benutzen gerne eine Augenbinde beim Sex, andere schauen sich gemeinsam einen Porno an.“
Die Wissenschaft hat eine erfreuliche Erklärung dafür, dass wir beim Sex nach einigen Jahren ein wenig Nachhilfe brauchen: Je länger eine Beziehung andauert, desto weniger haben Partner:innen das Gefühl, sich gegenseitig ihre Liebe beweisen zu müssen. Während Sex anfangs vor allem als Bindemittel eingesetzt wird, fühlt sich ein Paar irgendwann einfach sicher genug. Aus Entdeckungsfreude wird dann im besten Fall Vertrauen – und andere Dinge werden wichtiger. „Menschen, die in Langzeitbeziehungen sind und diese auch als positiv wahrnehmen, beschreiben alle – neben Vertrauen und Respekt – dass sie sich als Paar gemeinsam weiterentwickeln“, sagt Umut Özdemir. Häufig gehe es dabei um gemeinsame Grundwerte und Ansichten.
Wenn ein Paar aber nur noch selten miteinander schläft oder sogar ganz darauf verzichten möchte, sei das auch in Ordnung. Vor allem dann, wenn beide sich einig sind. „Für alle anderen kommt früher oder später in der Regel der Moment, in dem man vermisst, was man früher miteinander hatte.“
Besonders problematisch wird es dann, wenn der eine will und der andere nicht. So wie bei KR-Leserin Ute, 57: „Für meinen Partner ist eine Beziehung ohne regelmäßigen Sex nicht möglich. Ich sehe das anders. Deshalb ist es ständig Thema und Streitpunkt.“ Und der 54-jährige Steffen sagt: „Es belastet mich sehr. Ich habe seit fast fünf Jahren keinen Sex mehr mit meiner Frau.“ Dann hilft laut Umut Özdemir nur noch eines: miteinander reden.
Fast 15 Prozent sprechen mit der Partner:in gar nicht über Sex
Offene Kommunikation ist laut Umut Özdemir das wichtigste Element einer funktionierenden Beziehung. Das sehen immerhin die Hälfte der Befragten in der KR-Community auch so: Rund 50 Prozent gaben in unserer Umfrage an, dass sie mit ihrem oder ihrer Partner:in offen darüber sprechen, was ihnen im Bett gefällt. Jede:r dritte Teilnehmer:in wünscht sich wiederum, mehr darüber zu sprechen. Rund 15 Prozent sagen im Bett allerdings gar nicht, was sie scharf macht. Im Gespräch mit Freunden scheint das Tabu sogar noch größer zu sein. Nur knapp ein Drittel der Befragten gab an, offen mit Freund:innen über Sex zu sprechen. Die Hälfte der Teilnehmenden sagt, dass sie das Thema Sex lieber umschiffen.
„In den meisten Beziehungen wird einfach nicht kommuniziert“, sagt Umut Özdemir. Das liege auch daran, dass wir dazu erzogen werden, wenig über Sex zu sprechen: „Wir gehen beim Thema Sex gesellschaftlich nicht in die Tiefe.“ Deshalb könnten zwar viele Männer über Sex und ihre Eroberungen prahlen, gleichzeitig aber nicht offen über ihre Gefühle sprechen. Und die Frauen? „Befragungen aus verschiedenen Ländern deuten darauf hin, dass Frauen ihre Orgasmen lieber vortäuschen, statt anzusprechen, was beim Sex verbessert werden könnte.“
Unser Gehirn, das größte Sexualorgan?
KR-Leserin Katinka lernte das mit ihrem heutigen Partner. Nach 40 Jahren Ehe und acht Jahren ohne Partner lernte sie bei einer Yogareise einen Mann kennen, der 15 Jahre jünger ist als sie. Obwohl sie keine Beziehung wollte, wurden die beiden ein Paar. Katinka, die heute 70 ist, bricht damit ein weiteres Klischee: Dass bei älteren Menschen im Bett nichts mehr geht. Denn bei Katinka ist das nicht so: „Sex spielt jetzt eine wichtige Rolle für mich und ich war erstaunt darüber, was alles wieder möglich war“, sagt sie. Auch nach zwei Jahren mit ihrem Partner spüre sie noch immer ein Kribbeln: „Ich kann es nicht beschreiben, aber ich freue mich immer noch jedes Mal darauf.“
Verschiedene Studien der vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass die Lust auf Sex im Alter normalerweise abnimmt. Andere Untersuchungen zeigen aber ebenfalls, dass Menschen, die sich im Alter noch fit und jung fühlen, mit höherer Wahrscheinlichkeit ein befriedigendes Sexleben haben als die, die sich zu alt für Sex fühlen. Manche Forschende sagen deshalb etwas flapsig, dass unser größtes Sexualorgan eigentlich das Gehirn sei.
Für sexlose Phasen habt ihr allerdings viele großartige Ideen. Die meisten Umfrageteilnehmer:innen empfehlen ganz schamlos: regelmäßige Masturbation. Viele von euch denken dabei übrigens am liebsten an ihre Partnerin oder ihren Partner. Auch Sport kann helfen. Nicht nur dabei, sich selbst abzureagieren, sondern, wie einige von euch schreiben, auch um beim gemeinsamen Schwitzen wieder heiß aufeinander zu werden. Ein anderes KR-Mitglied empfiehlt die Beziehungspodcasts von Psychotherapeutin Esther Perel oder auch deren 7-Tage-Programm „The Art Of Foreplay“. Und natürlich haben viele von euch auch auf Pornos verwiesen. Falls euch schnödes Rein-Raus da aber nicht reicht, hat Bastian, 49, für euch diesen Tipp: feministische Pornos von Erika Lust.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger