Berge, Wiesen, Kühe – das wars. Von allen abgeschiedenen Orten in Europa sind die Almen im Hochgebirge von Südtirol sicher einer der einsamsten. Im Winter gibt es keinen Strom. Käse und Brot werden selbst gemacht. Nur manchmal brausen Tourist:innen auf ihren Motorrädern vorbei.
Als Kind machte Massimiliano Corteselli jedes Jahr Halt in Südtirol, wenn er mit seinen Eltern aus Deutschland nach Rom fuhr. Damals habe er Vieles nicht verstanden: Warum sprechen die Menschen hier Deutsch, obwohl sie in Italien sind, und dann auch noch so einen Dialekt?
Seit über hundert Jahren ist Südtirol ein Teil von Italien, eine halbe Million Menschen leben hier. Eine Art unsichtbare Grenze verläuft zwischen den deutschsprachigen Südtirolern und denen, die Italienisch sprechen. Nur eines haben sie gemeinsam: Sie bleiben lieber unter sich.
Massimiliano Corteselli ist heute 27 Jahre alt, Fotograf, und zurückgekehrt an den Ort, der als Kind ein Rätsel für ihn war. Eine Woche lang ist er an der Grenze zwischen Italien und Österreich, zwischen Osttirol und Südtirol, entlanggewandert, in einem verregneten August. Seine Serie zeigt, wie bedrückend das Leben in einem Postkartenmotiv sein kann. Eine Auswahl der Bilder zeigen wir hier.
Links: „Ich habe nach Symbolen für die Zerrissenheit, die Identitätskrise gesucht“, sagt Massimiliano. Der faschistische Diktator Benito Mussolini hatte einst versucht, Südtirol zu italisieren: Orts- und Familiennamen wurden übersetzt, in der Schule wird seitdem Italienisch unterrichtet. 1939 wollte Hitler die Südtiroler:innen ins „Deutsche Reich“ umsiedeln. Nach dem Krieg wurde die Region zur autonomen Provinz innerhalb Italiens.
Rechts: Hübsche Hütten, viele Blumen: „Mit erwachsenen Augen hat sich die Idylle, die ich als Kind sah, gebrochen“, sagt Massimiliano. Die Bilder hielt er deshalb schwarz-weiß. „Tirol ist so grün im August. Ich wollte das, was die Farbe grün ausdrückt, das Idyllische und Positive, herausfiltern.“
Religion: Überall sah Massimiliano Kreuze und Kirchen. „Das erinnert mich an meine eigenen Großeltern: Religion war immens wichtig. Aber was in der Bibel steht, wussten sie nicht. Sie waren eben Katholiken, weil ihre Eltern welche waren, und ihre Großeltern.“ Die meisten Südtiroler:innen sind römisch-katholisch getauft.
Landwirtschaft: Man habe gemerkt, was für ein vertrautes, alltägliches Instrument die Sense für diesen Bauern sei. „Ich habe auch sein Gesicht fotografiert, aber die riesige Hand mit der Sense hat mich mehr beeindruckt“, sagt Massimiliano.
Links: Den in Plastikfolie gewickelten Grabstein habe Massimiliano in einer riesigen Steinfabrik entdeckt. „Ich habe das Gefühl, da war sehr viel Hülle und Schein in der Region. Man redet nicht mit Fremden oder wenn, dann nur über banale Dinge.“
Rechts: Oben im Hochgebirge leben vor allem ältere Menschen. „In großen, großen Häusern, die ihre Familien seit Generationen weitergeben. Aber jetzt sind die jungen Leute weg und die Häuser leer.“
Rechts: Mit dem alten Mann habe sich Massimiliano lange unterhalten. Er lebe sehr allein, nur mit Ziegen und ein paar Kühen. Wenn einmal Besuch komme, spendiere er umso großzügiger Käse, Schnaps und Schüttelbrot, ein hartes Fladenbrot mit Kümmel. „Er wollte gar nicht mehr, dass ich gehe. Ein paar Kilometer weiter erzählte mir sein Nachbar: ‚Dem gehts nicht so gut.“ Die Frau des Mannes sei gerade gestorben.
Der Zaun: „Das ist eine der reichsten Regionen Italiens“, sagt Massimiliano, „aber sie haben das Gefühl, sie müssten mitbezahlen für die Ärmeren.“ Er habe gesehen, wie viel Wut viele Südtiroler:innen Italien gegenüber haben. „Das hat mich an die West-Ost-Problematik in Deutschland erinnert.“
Links: Ein Stein im Wasser, rundherum steigt Sand nach oben.
Rechts: Diese Bäuerin habe gerade mit ihrem Mann im Garten gearbeitet. Die Energie und Selbstsicherheit, die sie ausstrahlt, hat den Fotografen beeindruckt. „Die Menschen, die ich fotografiert habe, waren bestimmt alle über 70. Aber alle am Arbeiten. Die hatten so viel Energie“, sagt Massimiliano. Reden wollte sie nicht: „Meine Interaktionen waren kurz, die Leute waren skeptisch.“
Links: Das Bild mit den Kaulquappen ist inszeniert. Massimiliano hatte Kinder beobachtet, die mit den Tieren spielten – und die Szene nachgestellt. „Ich finde, das Bild hat etwas Brutales. Eine Hand, die die kleinen Tiere aus ihrem natürlichen Habitat reißt.“
Rechts: Neben dem Obstanser See liegt ein Friedhof, genau auf dem ehemaligen Frontverlauf.
Nur ein einziges Mal sei Massimiliano einer jungen Frau begegnet. Eine Schafhirtin, die in dieser Hütte lebe, allein mit ihrem Hund, nahe des Defereggentals. „Sie sagte, im Winter lebe sie lieber im Dorf.“
„Ich wollte die Grenze und die Einsamkeit, respektvoll behandeln“, sagt Massimiliano. Seine Eltern halten auf dem Weg nach Rom noch immer jedes Jahr in Tirol. Er selbst fliegt lieber.
Hinweis: In einer früheren Version des Textes hieß es, Massimiliano Corteselli sei in Südtirol gewandert, er war aber auch in Osttirol unterwegs.
Redaktion: Thembi Wolf; Fotos: Massimiliano Corteselli; Fotoredaktion: Till Rimmele; Schlussredaktion: Susan Mücke