Vor zehn Jahren sagte mir eine 88-jährige Frau, dass sie in ihrem Leben keinen Sinn mehr sehe. Sie sei allein an einem Ort, an dem sie nie sein wollte, ohne den Menschen, den sie nie verlieren wollte. Sie könne nicht mehr. Und ich saß daneben – 14 Jahre alt und völlig überfordert.
Ich half damals als Praktikantin einige Wochen im Seniorenheim. Jeden Tag hatte ich mit einer Gruppe von vier Frauen zu tun: Morgens las eine die Witzespalte der Tageszeitung vor, nachmittags zockte eine 102-Jährige die anderen drei beim Mau-Mau-Spielen ab. Die vier waren immer gemeinsam unterwegs und hoben die Stimmung auf dem gesamten Flur gewaltig. Mit Ausnahme der von Frau Winkelmann*. Sie saß in einer Ecke, ein paar Meter von den anderen entfernt und schaute immer in die andere Richtung. Zwei Tage vor Ende meines Praktikums wies mich eine Pflegerin an, mich doch mal eine halbe Stunde mit der alten Dame in den Park zu setzen. Sie sei oft etwas niedergeschlagen, gehe selten raus und ich solle sie ein bisschen ablenken.
Wir waren kaum fünf Minuten gelaufen, da sagt die damals 88-Jährige: „Wissen Sie, eigentlich will ich das gar nicht. Hier draußen sein.“ Ich bot ihr an, wieder nach drinnen zu gehen. „Da will ich eigentlich auch nicht sein. Eigentlich will ich hier gar nicht sein.“ Und dann erzählte sie mir, wie sie und ihr Mann vor einem halben Jahr ins Altenheim gezogen waren. Er habe das gewollt, nicht sie, aber weil er sich so sicherer fühlte, kam sie schließlich mit. Sie habe sich gesagt: „Mit ihm kann ich eigentlich überall wohnen.“ Weniger als zwei Monate darauf starb Herr Winkelmann. Und hier sei sie nun, ohne den Menschen, mit dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, und sie habe keine Lust mehr. Ich schwieg betreten. Ich fand schrecklich, was Frau Winkelmann da sagte. Aber obwohl ich ein Teenager war, konnte ich verstehen, warum sie so dachte. Ich versuchte, sie abzulenken, sprach über das schöne Wetter, erzählte von Konzerten oder Reisen nach Italien. Als ob ich einem Menschen mit dieser Lebenserfahrung etwas erzählen könnte, was er nicht längst weiß! Ich ging schnell mit ihr die kleine Runde um die Wiese zu Ende, um sie rechtzeitig zum Kaffee wieder ins Haus zu bringen. Ich erzählte der Pflegerin von Frau Winkelmanns dunklen Gedanken. Das komme leider häufiger vor, sagte sie. Die Leute würden einsam und müde werden.
Nach dem Ende meines Praktikums war ich noch zweimal dort. Ich brachte Frau Winkelmann und den vier anderen Frauen Blumen. Beim zweiten Mal erkannte mich Frau Winkelmann schon nicht mehr. Aber das Gespräch mit ihr beschäftigt mich noch immer. Hätte ich etwas tun können, um Frau Winkelmann die Freude am Leben wiederzugeben?
Vor einiger Zeit berichtete uns Leserin Silke davon, dass ihr Mann in seinem neuen Job häufig mit alten Menschen zu tun habe, die ähnliches sagen, wie Frau Winkelmann damals zu mir. Sie fragt sich, wie ich: Wie kann ich helfen, wenn ein Mensch im Alter seine Lebensfreude verliert?
Um eine Antwort zu finden, habe ich mit Philipp Diehl gesprochen. Er ist Pflegedienstleiter auf einem Pflegebauernhof in Marienrachdorf in Nordrhein-Westfalen und kennt die Sorgen und Probleme alter Menschen aus seinem Alltag. Seiner Erfahrung nach ist im Alter vor allem eines wichtig: Gemeinschaft.
Das sagt ein Altenpfleger
„Wenn sich jemand unerwartet zurückzieht, betreiben wir erst einmal Ursachenforschung“, sagt Diehl. Seine Kollegen und er nehmen sich Zeit, in Ruhe mit den Menschen zu sprechen. Nur wenn er weiß, womit jemand zu kämpfen hat, kann er helfen. Oft empfinden Außenstehende die Probleme gar nicht als dramatisch. „Viele Konflikte entstehen in Alltagssituationen: beim Kochen oder bei gemeinsamen Aktivitäten“, sagt Diehl. Wenn Bewohner:innen miteinander einen Salat machen sollen, und jeder hat das ein Leben lang anders gemacht, werde das manchmal zu einem Problem.
Nicht jede alte Person lebt in einer Einrichtung, in der sich Pflegekräfte um solche alltäglichen Probleme kümmern können. Philipp Diehl sieht dann die Angehörigen in der Pflicht. Ein kleines Gespräch nach dem Aufstehen, eine kleine Geschichte aus der Vergangenheit nach dem Abendessen – so bleiben Menschen in Kontakt und fühlen sich gesehen. Wenn Kontakte fehlen, landen Betroffene schnell in einem Teufelskreis: Sie vereinsamen immer mehr und gleichzeitig wird die Hemmschwelle immer höher, sich jemandem anzuvertrauen. Wer bemerkt, dass sozialen Bedürfnissen nicht nachgekommen werde, sollte sich bei der Heimleitung oder beim Pflegepersonal melden, sagt Diehl.
Er weiß aber auch, dass es nicht immer einfach ist, den Menschen zu geben, was sie brauchen. „Pfleger:innen sind oft völlig überlastet, wenn die Arbeitsbedingungen nicht stimmen. Dann muss man sich als Angehörige:r einbringen.“ Wenn ich Senior:innen helfen will, mit denen ich nicht verwandt bin oder alten Leuten Gesellschaft leisten will, die im Alter vereinsamen, kann ich mich außerdem an die Pflegestützpunkte in meiner Region wenden. Diese Beratungsstellen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sind gut vernetzt und wissen meist, wo engagierte Menschen gesucht werden.
Aber was, wenn die Niedergeschlagenheit immer diffuser wird und sich jemand immer weiter zurückzieht? Dann steckt vielleicht etwas anderes dahinter als ein Konflikt unter Heimbewohnern. Dr. Ulrich Hegerl ist Psychiater, forscht seit 30 Jahren zu Depressionen und ist Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe.
Das sagt der Psychiater
Wenn ein alter Mensch die Freude am Leben verliert, kann das verschiedene Ursachen haben. Zum einen spielten die Lebensumstände eine Rolle, sagt Ulrich Hegerl. Schicksalsschläge, Einsamkeit und körperliche Schmerzen würden oft dafür sorgen, dass sich alte Menschen zurückziehen oder immer niedergeschlagener werden. In diesen Fällen können Behandlungen gegen körperliche Leiden, Besuche von Verwandten und Bekannten oder gemeinsame Unternehmungen die Stimmung verbessern.
Eine zweite mögliche Ursache für ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit im Alter sind Depressionen. Diese blieben oft unentdeckt, sagt Hegerl. „Gerade bei älteren Menschen werden Symptome einer Depression als Reaktion auf den Tod der Partnerin oder körperliche Beschwerden und nicht als Ausdruck einer schweren eigenständigen Erkrankung angesehen“, erklärt Hegerl. Dabei entstehen Depressionen meist aus einer Veranlagung und werden nicht von Schicksalsschlägen ausgelöst. Schlechte Lebensumstände können das verstärken oder eine depressive Phase auslösen – die Krankheit selbst entsteht aber unabhängig davon.
Den Unterschied zu erkennen zwischen Trauer, Einsamkeit und einer Depression, ist schwer. Es ist nicht die Aufgabe von Angehörigen, die Krankheit zu erkennen, das können nur professionelle Psychiater:innen oder Therapeut:innen.
Auf der Website der Stiftung Deutsche Depressionshilfe findet sich eine Reihe von Warnsignalen, an denen man eine Depression im Alter erkennt. Grundsätzlich unterscheiden sich die Symptome einer depressiven Phase im Alter nicht von denen eines jungen Menschen, so die Stiftung. Typisch sind eine dauerhaft gedrückte Stimmung, Schuldgefühle, Appetitverlust, Hoffnungslosigkeit und die Unfähigkeit, sich zu freuen. Was sich jedoch unterscheidet, sind die Lebensbereiche, in denen sich diese Gefühle ausdrücken.
Während eine Büroangestellte Mitte Vierzig sich durch eine Depression beispielsweise nicht mehr in der Lage sehen könnte zu arbeiten, werden bei alten Menschen häufig körperliche Schmerzen als immer unerträglicher empfunden oder sie sehen keinen Sinn mehr in ihrem Leben. Der größte Unterschied liegt jedoch in der Sichtbarkeit: Ein alter Mensch, der über Schmerzen klagt und unglücklich ist, wird oft nicht näher nach seiner psychischen Gesundheit gefragt.
„Machen Sie sich als Angehöriger bewusst: Es ist nicht Ihre schuld! Schuld ist nur die ätzende Krankheit Depression“
„Ein starkes Indiz ist es auch, wenn jemand schon früher im Leben depressive Phasen hatte“, sagt Ulrich Hegerl. Oft würden sich depressive Menschen zurückziehen und von der Welt abwenden. „Wenn ich das Gefühl habe, dieser Mensch ist verändert, den kenne ich nicht mehr, dann sollte man den oder die Betroffene:n dabei unterstützen, einen Arzt aufzusuchen.“ Vielen depressiven Menschen fehle die Kraft, sich allein Hilfe zu suchen. Körperliche Leiden erschweren den Gang zum Arzt zusätzlich. Deswegen sei es wichtig, schnell den richtigen Arzt für die psychischen Probleme aufzusuchen. An wende ich mich also, wenn ich den Eindruck habe, meine Mutter oder mein Vater sind depressiv?
Im Fall von Depressionen sind die Fachärzte Psychiater:innen. Das sind Ärzt:innen, die sich auf klinische Psychologie spezialisiert haben und falls nötig auch Medikamente verschreiben dürfen. Alternativ können auch psychologische Psychotherapeut:innen helfen, also studierte Psycholog:innen mit einer Ausbildung zur Therapeut:in. Wer in seiner Umgebung keine Fachärzte hat, kann sich auch an den Hausarzt wenden. Depressionen belasten nicht nur die Betroffenen. Auch das Umfeld spürt die Auswirkungen. Ulrich Hegerl rät deshalb, auch als Verwandte:r einen Blick nach innen zu werfen: „Machen Sie sich als Angehöriger bewusst: Es ist nicht Ihre schuld! Schuld ist nur die ätzende Krankheit Depression.“ Das gelte auch für die Behandlung. Angehörige:r können helfen, die Therapie sei aber die Aufgabe von Profis und das müsse man sich eingestehen können. „Ich kann eine Blinddarmentzündung nicht mit Liebe heilen. Das gleiche gilt für eine Depression“, so Hegerl.
Das sagt die Community
Auf meine Umfrage haben viele KR-Mitglieder ihre persönlichen Ratschläge gegeben. Viele haben selbst Verwandte oder Bekannte, die ihre Lebensfreude verloren haben. Dominik hat sich Zeit genommen, um die Biografie der Betroffenen gemeinsam aufzuarbeiten. Zusammen haben sie Dinge überlegt, die der betroffenen Person in der Vergangenheit schon einmal eine Freude gemacht haben. Dominik sagt, bei Einsamkeit sei es wichtig, die Menschen regelmäßig zu besuchen – oder einen Besuchsdienst zu organisieren.
KR-Mitglied Conny engagiert sich in einem Blasorchester und spielt regelmäßig ehrenamtlich kleine Konzerte für Seniorenheime. Eines beschreibt sie so: „Die Balkone waren voll mit alten Menschen, die uns zuhörten, klatschten und zum Teil sogar tanzten.“ „Manche ältere Menschen benötigen auch das Gefühl, noch gebraucht zu werden“, schreibt Leserin Sylke. Auch Senioren können als Ehrenamtler:innen tätig sein, solange sie fit genug sind. Beispielsweise können sie anderen einsamen Senior:innen helfen, nicht den Anschluss ans soziale Leben zu verlieren.
Wichtig ist aber auch: Achtet auf euch. In ihren Zuschriften haben viele von der schweren Belastung gesprochen, die die Pflege von depressiven Angehörigen für sie war. Wichtig ist vor allem die Gemeinschaft mit anderen Menschen, da sind sich die KR-Community und die Experten einig.
Das Alter erschwert das Leben, es wird schwerer, etwas aktiv gemeinsam zu unternehmen. Aber das ist auch gar nicht unbedingt nötig. Einfach zuhören und alten Menschen das Gefühl geben, gesehen zu werden, könnte bereits helfen. Und das ist für Senior:innen genauso wichtig wie für junge Leute. Ob Anruf, ein Besuch oder gemeinsamer Ausflug – wichtig ist, alte Menschen mit ihrer niedergeschlagenen Stimmung nicht allein zu lassen.
*Name von der Redaktion geändert
Herzlichen Dank an Silke und alle KR-Leser:innen, die sich beteiligt haben: Annette, Claudia, Anna, Kim, Manfred, Eva, Gesine, Anke, Grete, Jens, Amina, Lukas, Hardy, Dietmar, Stefan, Lena, Annette, Ulrike, Karl, Elke, Ella, Renate, Christel, Julia, Christina, Bettina, Bernhard, Wolfgang, Conny, Oliver, Friederike, Fenja, Dominik, Jens, Barbara, Nicole, Anne, Cora, Angelika, Larissa, Ute, Uli, Gerda, Sylke und Emma
Redaktion: Thembi Wolf; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger