Als ich ein Video sah, in dem Autos in den Himmel flogen, hörte ich auf, ziellos durch meine Twitter-Timeline zu scrollen.
Ich hatte ein Video von Jan Kamensky gefunden. Der Artdirector aus Hamburg nimmt sich Straßen aus Paris, Berlin oder Wien vor und zeigt in seinen Werken, wie es dort aussehen könnte, wenn wir aufhörten, Autos als den Mittelpunkt städtischen Lebens zu betrachten. Das ist eine kleine, aber mächtige Idee.
Ich habe Jan ein paar Fragen gestellt.
Warum hast du angefangen, diese Videos zu bauen?
Ich wollte mich nicht länger damit begnügen, auf den immer dringenderen gesellschaftlichen Wandel zu warten, sondern selbst einen Beitrag leisten, der ihn befördert.
Ich habe mich zunächst umgesehen. Was umgibt mich und viele andere Menschen tagtäglich? Wo sehe ich dringenden Handlungsbedarf in meiner Umwelt, oder besser: Mitwelt? Die leeren Straßen zu Beginn der Pandemie führten mir schließlich vor Augen: Ich möchte mir eine Stadt ohne Autos ansehen. Was passiert mit den Straßen, wenn wir sie vom Auto befreien?
Eine Straße ohne Autos ist wie ein weißes Blatt Papier, das es zu bemalen gilt. Als Kommunikationsdesigner, der Photoshop für die Bildbearbeitung und After Effects für die Animation beherrscht, wurde mir klar: Das ist es – hier kann ich mein Talent einsetzen. Also begann ich das Experiment.
Damit bin ich in gewisser Hinsicht auch als Übersetzer tätig. Die theoretische Erkenntnis wird in die Sprache der Bilder übersetzt.
Die utopische Herangehensweise trägt dabei eine entscheidende Funktion: Nachdem die Betrachter:innen einen Blick auf die Utopie haben werfen können, kehren sie mit einem geschärften Blick in die Realität zurück. Das stellt eine Einladung zur Reflexion über unsere Wirklichkeit dar. Die Bewusstseinserweiterung steht im Vordergrund, nicht so sehr die Realisierbarkeit. Wobei ich mich durchaus über die Umsetzung freuen würde.
Was war die interessanteste Reaktion, die du bisher bekommen hast?
Einen bemerkenswerten Kommentar las ich kürzlich: „Warum ziehen Grüne nicht einfach aufs Land, statt pulsierende Metropolen in Friedhöfe verwandeln zu wollen?“
Ich möchte sicherlich nicht als Friedhofsgärtner gelten, dennoch werden Friedhöfe hier sehr einseitig, nämlich leblos dargestellt. Und das obwohl sie oftmals grüne Oasen inmitten von eher schnelllebigen und teilweise sogar lebensgefährdenden städtischen Räumen sind. Sie sprießen nur so vor Lebendigkeit! Ja, auf dem Friedhof fahren selten Autos. Und das macht sie für viele Spaziergänger:innen, neben ihrem oft sehr ästhetischen Wert, so attraktiv. Dass der stockende Autoverkehr, dessen Abgase und die zahlreichen Stehzeuge am Wegesrand mit Lebendigkeit assoziiert werden, leuchtet mir nicht ein.
Das ist ein Newsletter von Rico Grimm. Parallel zu unseren langen Magazin-Texten verschicken unsere Reporter:innen immer wieder kurze Analysen, Meinungsbeiträge und Rechercheskizzen, die einen Blick in ihre Arbeit hinter den langen Stücken ermöglichen sollen. Manche der Newsletter sind Kickstarter für anschließende, tiefere Recherchen. Deswegen holen wir sie ab und an auf die Seite.
Die Videos stellen Utopien dar. Deine Social-Accounts heißen „Utopia For Bicyclists“. Warum der utopische Fokus auf Radfahrer:innen? Was ist mit Fußgänger:innen?
Das Fahrrad ist im Vergleich zu anderen Fortbewegungsmethoden in seiner Genialität unübertroffen. Es ist emissionsfrei in seiner Anwendung, es nimmt wenig Platz ein, es lässt sich vielseitig einsetzen, es fördert nicht nur die Gesundheit der Fahrenden, sondern auch jener, die sich nicht damit fortbewegen – und zu guter Letzt macht das Radfahren oftmals große Freude. Diese Eigenschaften haben sowohl einen positiven Effekt auf Fußgänger:innen als auch auf die Umwelt. Darum ist die Utopie der Radfahrer:innen gleichbedeutend mit einer Utopie für Fußgänger:innen sowie aller anderen Menschen auf unseren Straßen und daneben.
Jedoch sehe ich ein, dass der Projektname einer Erklärung bedarf. Da ich das eher vermeiden möchte und das Projekt lieber eindeutig inklusiv wahrgenommen werden soll, spiele ich bereits mit dem Gedanken einer Umbenennung. Womöglich ist diese Frage der entscheidende Impuls dazu. Auch wenn ich das Wortspiel, das sich auf Rutger Bregmans „Utopia for Realists“ bezieht, sehr schön und passend finde.
Als ich deine Videos auf Twitter geteilt habe, kam eine Frage auf: Gibt es in deiner Utopie eigentlich keinen Lieferverkehr mehr?
Doch, doch. Und das versuche ich auch darzustellen. Unterschiedliche Cargo- und Lastenräder stehen symbolisch für den zukünftigen Lieferverkehr. Mir ist bewusst, dass manche Güter schwierig mit dem Fahrrad transportiert werden können. Doch nur weil etwas in meinen Visualisierungen nicht sichtbar ist, heißt es nicht, dass es nicht möglich wäre. Es ist ein Ausschnitt an Möglichkeiten.
Ich kann nicht alle Facetten gleichermaßen und in einer Animation abbilden. Darum stelle ich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Um das besonders deutlich zu machen, überspitze ich dabei – wie in der Kunst. Doch selbst, wenn den Betrachter:innen ein fehlender Aspekt auffällt und sie sich darüber beklagen, so ist es gut, denn sie haben sich gedanklich mit der Thematik beschäftigt. Insbesondere durch die kritische Auseinandersetzung geraten die Dinge in Bewegung. Es entstehen neue Ideen, ein Exkurs. Damit habe ich eines meiner Ziele bereits erreicht.
Um es deutlich zu machen: Ich gestalte in diesem Projekt nicht als Architekt oder Stadtplaner. Ich bin visueller Utopist, der zu einem verstärkten Bewusstsein unserer gegenwärtigen Lage beitragen möchte.
Wenn die Leser:innen alle deine Videos angeschaut haben, aber noch mehr Utopie wollen: Wen oder was sollten sie im Internet anschauen?
Ein paar Menschen unter anderem aus Lettland, Köln, Polen und Japan konnte ich bereits dazu inspirieren, selbst utopisch zu gestalten und Autos fliegen zu lassen. Ich sehe sie als Teil einer utopischen Bewegung, dem #FlyingCarMovement. Wenn ich Menschen inspirieren kann, ist das toll. Meine Fähigkeiten teile ich gerne mit anderen. Über zukünftige Workshops oder Seminare würde ich mich also sehr freuen – dafür kann man sich gerne bei mir melden.
Von einem Vortrag, den ich für Universität von Amsterdam zum Thema „Making Utopias Visible“ hielt, gibt es auch ein Video auf Youtube.
Die Utopie ist traditionell jedoch eher in der Literatur verwurzelt. Sie zeigt sich dabei in einer oftmals sehr bildhaften Sprache. Wer sich also auf eine literarische Reise in die Utopie begeben möchte, dem empfehle ich zunächst das ursprüngliche Werk des Thomas Morus, die „Utopia“. Sehr spannend ist auch die „Utopia 2048“ von Lino Zeddies, die einen Einblick in die nähere utopische Zukunft bietet. Er ist auch Teil des Zentrums für Realutopien – auf deren Website sich einige grafische Visualisierungen ansehen lassen (realutopien.de). Wer sich einen guten Überblick über utopische Werke und deren Einordnung verschaffen möchte, dem sei die „Geschichte der Utopie“ von Thomas Schölderle empfohlen.
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- Alle Videos von Jan Kamensky findet ihr hier
- Hier ist seine Patreon-Seite.
Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger