Wir Deutschen sind vernarrt in die Selbstdisziplin. Wir packen gerne an – und ziehen unsere Aufgaben durch, auch wenn wir längst keine Kraft mehr dafür haben. Wir sind doch nicht aus Zucker! Penibel überprüfen wir nach getaner Arbeit, ob wir tatsächlich nichts vergessen haben. Denn es gibt nichts Schlimmeres als leichtsinnige Schludrigkeit. Wenn wir Flüchtigkeitsfehler entdecken, korrigieren wir diese natürlich auf der Stelle. Ist das nicht herrlich?
Im Handelsblatt schrieb der amerikanische Journalist Peter Ross Range vor ein paar Jahren über die Deutschen:
„Was einen amerikanischen Besucher erstaunt, ist nicht die Werkstatt, nicht einmal die Sauberkeit und Raffinesse der Maschinen und der Produktion. Es ist die Zeit, die investiert wird, die Liebe zum Detail, die Gründlichkeit, mit der alles gemacht wird. In einem Familienunternehmen mit seiner Freiheit, längerfristig zu denken und nicht an Quartalsberichte, scheinen alle klassischen deutschen Tugenden zu gedeihen: Organisation, Disziplin, Ordnung und Struktur.“ (Pssst! Bin das nur ich oder steht da ein Substantiv zu viel? Ein undisziplinierter Autor! Alle guten Dinge sind doch drei, nicht vier!)
Wir Deutschen klopfen uns gegenseitig auf die Schultern, wenn wir – ohne zu murren – eine 60-Stunden-Woche nach der nächsten abarbeiten. Nicht nur in Schwaben ist die Arbeitsmentalität „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ weiterhin stabil.
Unsere heiß geliebte Selbstdisziplin hat allerdings Nachteile, die manche allzu gerne übersehen. Oder wollen wir vielleicht gar nicht so genau hinschauen? Denn warum sollten wir diese kostbare Tugend hinterfragen? Meine Google-Suche jedenfalls hat gezeigt, dass (gefühlt) 999 von 1.000 Texten über Selbstdisziplin kein bisschen kritisch sind. Im Gegenteil: Selbstdisziplin wird im Netz sehr gefeiert. Diese fast fanatische Besessenheit macht mich stutzig.
In diesem Text werde ich genauer hinsehen. Mir geht es nicht darum, die urdeutsche Tugend der Selbstdisziplin schlechtzureden, bis nichts mehr von ihr übrig ist. Ich möchte vielmehr verstehen, ob und wenn ja, wie viel Selbstdisziplin uns guttut – und wann sie ungesund wird. Vielleicht schärft das ja auch meinen Blick, wie ich mit mir selbst in Zukunft umgehe.
Selbstdisziplin hat viele Vorteile
Dafür rufe ich bei dem Psychologen Michail Kokkoris an, der an der Vrije Universiteit in Amsterdam über Selbstkontrolle forscht. Pünktlich um 10 Uhr morgens hebt ein freundlicher Mann mit einer angenehmen Stimme ab. Erwartungsvoll stelle ich ihm meine ersten, sauber ausgefeilten Fragen. Doch ich bekomme nicht die Antworten, die ich hören will.
„Selbstkontrolle hat viele Vorteile. Sie ist wichtig für unsere individuelle Entwicklung, denn wir müssen lernen, Versuchungen zu widerstehen. Sonst können wir unsere Ziele nicht erreichen“, sagt Kokkoris. „Und das wiederum ist grundlegend für unsere Karriere – genauso, wie gute Ernährung wichtig ist für unsere Gesundheit.“
Kokkoris scheint ein Freund der Selbstdisziplin zu sein. Denn er spricht nicht nur von den Vorteilen der Selbstkontrolle für Karriere und Gesundheit, sondern auch fürs Zwischenmenschliche. „Wir erleben durch Selbstdisziplin sogar bessere Beziehungen, weil wir dadurch in der Lage sind, negative Emotionen wie etwa Aggressionen zu kontrollieren.“
Kokkoris erklärt mir, warum Selbstkontrolle in praktisch allen Lebenslagen von Vorteil ist. „Wenn wir unsere Emotionen im Griff haben, können wir besser mit Schwierigkeiten im Leben umgehen. Das ist auch gut für die psychische Gesundheit. In unserer Forschung haben wir herausgefunden, dass Menschen, die Selbstkontrolle haben, auch einen Sinn in ihrem Leben finden.“
Die Erklärung dafür sei, dass disziplinierte Menschen Struktur, Rituale und Gewohnheiten im Alltag hätten. Dies erzeuge bei ihnen das Gefühl, ihr Leben sei von Bedeutung.
Habe ich den falschen Forscher angerufen? Obwohl mir das überhaupt nicht passt, stimme ich ihm zu. Kokkoris räuspert sich. „Aber.“
Selbstdisziplinierte Menschen haben oft das Gefühl, nicht sie selbst zu sein
Und dann spricht er über die dunkle Seite der Selbstdisziplin. „In unserer Forschung haben wir entdeckt, dass bei manchen Menschen Selbstkontrolle dazu führen kann, dass sie sich weniger authentisch fühlen. Sie haben den Eindruck, ihr echtes Selbst zu unterdrücken.“
Die Unterdrückungsarbeit habe Konsequenzen, weil diese Menschen zunehmend mit ihren Entscheidungen unzufrieden werden – obwohl sie das Richtige tun. „Ist das nicht ein bisschen ironisch?“, fragt Kokkoris. Allerdings, denke ich. Erst reißt du dich zusammen, und dann merkst du, dass das auch nicht richtig ist.
Besonders betroffen von dem Phänomen seien Menschen, die sich selbst als emotionale Entscheider sehen. „In Momenten, in denen sie sich beherrschen, fühlen sie sich nicht mehr wie sie selbst“, sagt Kokkoris.
Darüber spreche ich auch mit Melodie Michelberger. Die Body-Image-Aktivistin und Buchautorin hat auf Instagram fast 60.000 Menschen, die ihr folgen.
„Ich würde sagen, dass ich ein sehr emotionaler Mensch bin – und ich hatte immer das Gefühl, dass das die echte Melodie ist“, sagt Michelberger.
Melodie Michelberger begann mit zwölf Jahren ihre erste Diät
Schon im Alter von sieben Jahren lernte Melodie Selbstdisziplin kennen. Als sie unbedingt einen Rock anziehen wollte, verweigerte ihre Mutter ihr diesen Wunsch, denn „das betont deinen dicken Hintern doch noch mehr.“ Und obwohl Melodie kein dickes Kind war, begann sie im Alter von zwölf Jahren ihre erste Diät.
Von ihren Eltern bekam sie immer wieder vermittelt, dass die Eintrittskarte zum Frauenleben die Züchtigung ihres Körpers sei. Ihre Leistungen beim Abnehmen wurden gefeiert. Oft hörte sie Sätze wie: „Mensch, toll, dass du so diszipliniert bist und nur einen Apfel am Tag isst. Ich könnte das nicht.“ Ihre Eltern trichterten ihr ein, dass sich Frauen am Riemen reißen, auf bestimmtes Essen verzichten und abends fasten sollten. „Ich hielt mich an der Disziplin fest, weil ich gespiegelt bekam, dass es etwas Gutes ist, seinen Körper so herunterzuhungern.“ Doch das war es nicht.
Michelberger rutschte in eine Magersucht.
Anerzogene Selbstdisziplin kann massive psychische und körperliche Folgen haben. Denn Kinder wollen ihren Eltern und Freund:innen gefallen. Sie wollen hören und spüren, dass sie liebenswert sind. Und dafür würden sie alles tun. Auch hungern bis zum Umfallen.
Wir sehen auf Menschen herab, von denen wir glauben, dass sie nicht selbstdiszipliniert sind
Auch Kokkoris hat sich mit dem Zusammenhang von Selbstdisziplin und Körperbild beschäftigt. Er erzählt, dass etwa die Diskriminierung von Dicken gesellschaftlich anerkannt sei. „Viele Menschen haben kein schlechtes Gewissen, wenn sie Übergewichtige diskriminieren, weil sie denken: Dicke Menschen haben sich selbst nicht im Griff.“ Das muss aber überhaupt nicht der Fall sein. Genauso wenig, wie die Annahme, dass eine schlanke Person nur so vor Selbstbeherrschung strotzt. Es ist möglich, dass sie schlichtweg keinen großen Appetit hat.
„Es gibt Studien, die zeigen, dass wir strenger mit anderen Menschen werden, wenn wir glauben, dass alles in unserem Leben eine Entscheidung ist“, sagt Kokkoris. Dies führt zu einem puritanischen Bias: Wir denken, dass alle Probleme durch fehlende Selbstkontrolle oder persönliches Versagen entstehen. Du hast eine Abgabefrist nicht eingehalten? Dann musst du ein fauler Mensch sein. Du hast dich am Knie verletzt? Dann bist du unaufmerksam gelaufen. Du hast Depressionen? Du hast nur keine Lust, zu arbeiten. Was auch immer passiert, DU bist schuld.
Das ist meiner Meinung nach das Gefährliche an der Selbstdisziplin: Der gesellschaftliche Umgang mit den Menschen, die – so vermuten wir – keine Selbstdisziplin haben. Deshalb hören depressive Menschen immer wieder den Ratschlag, sie sollten sich zusammenreißen. Deshalb werden Schüler:innen, die in der Schule schlecht abschneiden, als Problemkinder abgestempelt – und deshalb rümpfen wir die Nase über dicke Menschen.
In sozialen Medien ist Selbstdisziplin trendy
Ich frage Melodie Michelberger, ob Selbstdisziplin in sozialen Netzwerken derzeit ein wichtiges Thema ist. „Absolut. In den letzten Jahren hat das auf Instagram und Tiktok zugenommen. Viele Coaches pushen das Thema in Form von Sport – und damit ist der Sport gemeint, den man auch sieht.“ Nur sehr selten würde die Freude an Bewegung gezeigt, meistens ginge es darum, den eigenen Körper zu stählen.
Selbstdisziplin wird von vielen Coaches als Schlüssel zum Glück verkauft und mit dem moralischen Zeigefinger vermittelt: „Du allein hast es in der Hand, dein Leben zu optimieren und glücklich zu werden.“
Da haben wir ihn wieder, den puritanischen Bias. Alles liegt an dir. Du hast dein Glück selbst in der Hand.
Beim Wort Glück reagiert der ehemalige deutsche Schwimmprofi Markus Deibler empfindlich. „Was bedeutet denn mein Glück? Ein Sixpack zu haben? Will ich denn jeden Tag 90 Minuten im Fitnessstudio trainieren, mich low carb ernähren, weil ich mich dann so tierisch drüber freue? Oder weil ich es dann auf Instagram posten und allen zeigen kann?“
Deibler, der vor Jahren noch täglich sechs Stunden trainierte, geht mittlerweile 45 Minuten joggen. Einmal in der Woche. Mehr Zeit hat er nicht, da er Vater ist und arbeitet. Er weiß, dass er heute nicht den fittesten Körper hat. Und das ist für ihn auch in Ordnung. Denn er will sein Leben genießen: „Ja, ich habe kein Sixpack, dafür kann ich aber bestimmte Dinge essen und trinken. Das ist für mich ein schöneres Leben.“
Markus Deibler wurde Weltmeister und beendete seine Karriere
Allerdings weiß Markus Deibler, was es bedeutet, ein diszipliniertes Leben zu führen, denn als erfolgreicher Profischwimmer hatte er einen durchstrukturierten Tagesablauf.
Wenn man an der Weltspitze mitschwimmen möchte, muss der Körper fit sein. Dazu gehört eine ordentliche Ernährung und ausreichend Schlaf. Das ganze Leben wird auf Sport und den Wettkampfkalender ausgerichtet – und wenn deutsche Meisterschaften sind, sind alle anderen Pläne hinüber.
Deibler lebte von Erfolg zu Erfolg und gewann zwischen 2006 und 2011 Jahr für Jahr Gold- und Silbermedaillen. Doch in der Sommerpause 2014 spürte er, dass er auf den harten Alltag keine Lust mehr hatte. „Ich stellte zum ersten Mal alles infrage und traf dann die Entscheidung, nach der WM aufzuhören“.
Deibler gewann noch einmal Gold, wurde schnellster Mann der Welt über 100 Meter Lagen. Doch er beendete seine Karriere trotzdem und wurde Eisverkäufer.
„Wenn ich nicht mehr will, dann kannst du mir einem Palast auf die Alster und einen Ferrari vor die Tür stellen, es wird an meiner Entscheidung nichts mehr ändern. Der Ferrari fährt mich am Ende immer noch zum Training.“
Deibler hält sich selbst für einen rationalen Menschen – und ist davon überzeugt, dass es keinen Sinn ergibt, sich für etwas zu quälen, für das man eigentlich überhaupt nicht (mehr) brennt.
„Das ist so, als würde ich mit 17 jemand kennenlernen, wir ziehen zusammen und kaufen uns ein Sofa, merken aber, dass wir eigentlich keine Lust mehr aufeinander haben. Und dann zusammenzubleiben, weil wir uns ein Sofa gekauft haben.“
Denn das kann dazu führen, Jahre später zu bereuen, sich nicht ausgelebt zu haben.
Melodie Michelberger kennt das. „Die Momente, in denen ich nicht ins Meer gehüpft bin, in denen ich komplett bekleidet an der Copacabana saß, weil ich dachte, mein Körper ist kein Bikini-Body, habe ich verloren. Und ich werde sie nicht wieder zurückbekommen. Je älter ich werde, umso klarer wird mir das. Ich bereue das und finde es supertraurig.“
Wir müssen lernen, auf die Signale unseres Körpers zu hören
Heute versucht Michelberger, empathisch mit sich selbst zu sein. Wenn sie versehentlich in alte Verhaltensmuster rutscht und einen halben Tag lang nichts isst, schießt ihr manchmal der Gedanke durch den Kopf: „Naja, das ist doch gar nicht so schlecht.“ Doch sie kann sich schnell auffangen und sich klarmachen: Nicht essen ist gar nicht cool – mein Körper braucht Nahrung. „Selbstdisziplin wird ungesund, wenn ich nicht mehr auf die Signale meines Körpers höre“, sagt Michelberger. Sie selbst hatte ja lange geglaubt, dass ihr Körper ein Feind sei, der ihr immer wieder Hindernisse in den Weg stelle.
Heute ist sie freundlicher zu sich und ihrem Körper. Sie hat ein Gefühl entwickelt, das ihr sagt: „So, wie ich gerade bin, reicht das total aus.“ Das versucht sie jeden Tag zu erneuern und sich immer wieder daran zu erinnern, dass es okay ist, nicht zu trainieren und bestimmte Dinge zu essen. „Mir hilft es hier, empathisch mit mir selbst zu sein und mich selbst in den Arm zu nehmen, denn das hatte ich 30 Jahre lang nicht. Und ich stelle mir immer wieder die Frage: Was brauche ich denn gerade?“
Was brauche ich gerade? Dieser Satz fällt nicht, wenn wir uns immer nur zusammenreißen und wenn wir – obwohl längst am Limit – eisern unsere To-dos erledigen. Natürlich ist Selbstdisziplin ein wichtiger Bestandteil unseres Alltags – genau, wie der Psychologe Kokkoris sagt. Doch ich glaube, dass auch Melodie Michelberger recht hat: Wir dürfen empathisch mit uns selbst sein. Vielleicht fällt es uns dann auch leichter, empathisch mit anderen Menschen zu sein.
Redaktion: Stéphanie Souron, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert