Eine Gruppe weiblich gelesener Menschen sitzt sommerlich gekleidet auf einer Decke mit Luftballons und feiert.

© Lena Deser

Leben und Lieben

„Ich hatte nie das Gefühl, ein Kind zu brauchen, um glücklich zu sein“

Immer noch heißt es, wer kein Kind kriegt, verpasst etwas Wesentliches im Leben – aber stimmt das? Wir haben mit Frauen und Männern gesprochen, die sich gegen Kinder entschieden haben.

Profilbild von Protokolle von Esther Göbel

Kinder machen glücklich. Wer keine hat, führt ein lückenhaftes Leben. Es sind keine schönen Bilder, die die Gesellschaft für Menschen ohne Kinder bereithält, vor allem für Frauen: einsam, ungeliebt, bitter. Die Frau als Mängelwesen, ihrer Weiblichkeit beraubt.

Auch für Männer verspricht eine eigene Familie sozialen Status – aber nie im gleichen Maß wie für eine Frau. Den kinderlosen Mittfünfziger findet niemand bemitleidenswert. Aber die kinderlose Mitfünfzigerin? Gott, die Arme! Hoffentlich hat sie wenigstens einen Partner. Oder eine Katze.

Wie erfüllt aber ein Leben ohne Kinder sein kann und wie unterschiedlich die Gründe sind, die dieser Entscheidung vorausgehen, zeigen die folgenden Stimmen. Wir haben mit mehr als 20 Personen gesprochen, die sich freiwillig für diesen Weg entschieden haben. Und die sagen: Es war genau die richtige Entscheidung für mich!

Weil Frauen unter einem größeren Druck stehen, Kinder zu wollen und zu bekommen, haben wir vor allem sie interviewt. Aber ganz außen vor lassen wollten wir die Männer nicht. Deswegen haben wir auch mit einigen von ihnen gesprochen.


Hanka, 37, freischaffende Lektorin, in einer Beziehung, Dresden

Als ich um die 30 war, ging es los. Jedes Mal, wenn wieder eine Freundin schwanger war, dachte ich: „Oh Gott, warum?!“ Die häufigste Antwort: „Ich will das halt.“ Dieses emotionale Bedürfnis nach einem Baby habe ich nicht. Anfang des Jahres wurde ich versehentlich von meinem Partner schwanger. Damit stellte sich die Frage noch einmal sehr konkret: eigenes Kind, ja oder nein? Ich dachte intensiv über beide Szenarien nach und sprach mit Frauen, die sich für oder gegen ein Kind entschieden hatten. Ich selbst bin auch ein „Unfallkind“: Meine Mutter bekam mich mit 19, geplant war das nicht – was ich nie schlimm fand. Ich liebe meine Mutter. Aber für mich lautete die richtige Entscheidung: abtreiben. Weil ich mir nach wie vor nicht vorstellen kann, in meinem Alltag ein Kind zu beherbergen. Trotzdem gibt es manchmal Momente, in denen ich denke: „Was wäre gewesen, wenn?“ In meinem Kopf formen sich dann Bilder, in denen ich ein duftendes, kleines Baby im Arm halte. Als würde ich von einem fremden Land träumen. Aber diese Bilder reichen mir nicht, um Mutter werden zu wollen. Mein Leben ist spannend genug, auch ohne Kind.


Anita, 70, Rentnerin, Single, Offenburg

In meinem Abschlusszeugnis steht noch Diplomkaufmann statt Diplomkauffrau. Als ich 1975 meinen Abschluss in BWL machte, waren an unserer Fakultät vielleicht zwei bis fünf Prozent der Studenten weiblich. In den Augen der Personaler war es ein Problem, eine Frau zu sein: Weil jede Frau sowieso irgendwann Kinder bekommt. Was in den meisten Fällen auch stimmte. An dem „Problem Frau“ konnte ich nichts ändern; ich bin halt eine. Aber dass mir ein Kind dazwischenkommt, wollte ich nicht. Dort, wo ich herkomme – 4.000-Einwohner-Dorf in Baden-Württemberg, Arbeitermilieu – bedeutete Mutterschaft auf jeden Fall Abhängigkeit von einem Mann. Ich wollte niemals von einem Mann abhängig sein. Mit 19 entschied ich mich gegen Kinder. Ich hatte als Teenager sehr früh meine Periode bekommen, was für mich große Schmerzen bedeutete und eine traumatische Erfahrung gewesen war. Beides zusammen, meine Konzentration auf den Job plus die negative Körpererfahrung als Frau, reichte mir, um mich gegen eigene Kinder zu entscheiden. Mein Ex-Mann wollte auch keine. Ich hingegen wollte immer etwas erreichen, und das habe ich auch geschafft: Irgendwann war ich Abteilungsleiterin für ein mittelständisches Unternehmen in der IT-Branche, bin für Geschäftsreisen um die Welt geflogen, ab und zu ein schnelles Abenteuer mit einem Mann inbegriffen. Mein Leben war toll! Ich bereue nichts.


Lea, 40, Geschäftsführerin des Vereins Welthaus Aachen e.V., geschieden und Single, Aachen

Ich bin von Geburt an blind. Mit 25 Jahren habe ich auch noch Multiple Sklerose bekommen. Von einer behinderten Frau erwarten Menschen ohne Behinderung nicht, dass sie ein Kind kriegt. Aber aus der Welt der Menschen mit Behinderung kam immer die implizite Botschaft: „Wenn du eigene Kinder bekommst, dann hast du es wirklich geschafft!“ Als ginge es darum zu beweisen, dass man genauso gut sei wie die Nicht-Behinderten. Meine Eltern und Lehrer:innen haben mir von klein auf eingebläut: „Du wirst nicht nur 100 Prozent leisten müssen, sondern immer 150, um so gut zu sein wie die Sehenden.“ Das hat mich unter Druck gesetzt. Beim Thema Kinderwunsch spielte das lange Zeit auch eine Rolle: Ich dachte, wenn ich ein Kind bekommen würde, hätte ich wieder allen gezeigt, dass ich genauso „normal“ bin wie die anderen. Aber ich habe das einfach nicht gefühlt, den Wunsch nach einem Baby. Mein Leben wird schon genug von außen bestimmt: durch die Behinderung, durch die Krankheit. Ein Kind würde für mich nur einen weiteren Kontrollverlust bedeuten. Deswegen war es ein gutes Gefühl, zu sagen: „Nein, ich will kein Baby.“ Weil ich damit zu mir selbst stehe.


Yudit, 67 Jahre, Therapeutin, Single, Tel Aviv

Ich lebe in Israel. Hier ist der Druck, Kinder zu bekommen, sehr groß, vor allem für eine Frau. Aber die gesellschaftliche Norm hat mich nie interessiert. Viel mehr interessierte mich die schamanische Lehre, mein spirituelles Wachstum. Ich glaube an das Prinzip der Wiedergeburt. Tief in mir drin spüre ich: In einem früheren Leben bin ich eine Mutter gewesen. Vielleicht brauchte ich deswegen in diesem Leben keine mehr zu sein.

In dieser Illustration sieht man eine Frau, die am Schreibtisch sitzt und happy aussieht, sie scheint zu denken.

© Lena Deser

Sonja, 29, Studentin, hat den Verein Selbstbestimmt Steril e.V. mitgegründet, in einer Beziehung, Göttingen

Mit 16 fragte ich meinen Gynäkologen zum ersten Mal nach einer Sterilisation. Er sagte gleich: In Bayern, wo ich herkomme, ist eine solche Operation nicht möglich. In meiner Teenagerzeit probierte ich verschiedene Pillen-Produkte, auch den Nuva-Ring. Nichts davon vertrug ich, stattdessen bekam ich Haarausfall, Stimmungsschwankungen, Blasenentzündung. Und beim Sex konnte ich mich trotzdem nicht fallen lassen. Ich hatte immer Angst, ich könne versehentlich schwanger werden. Mit 23 war für mich klar, dass ich mich sterilisieren lassen will. Ich klapperte ein Krankenhaus nach dem nächsten ab, 40 bis 50 Kliniken. Bei rund 20 Ärzt:innen stellte ich mich vor, musste mich immer wieder untersuchen lassen, nur um mir dann anzuhören: „Nein, eine Sterilisation machen wir nicht.“ Man hat mir alles Mögliche unterstellt: Dass ich nur die Krankenkassen abziehen wolle, dass mein fehlender Kinderwunsch an meinem falschen Partner liege, dass ich unter Depressionen leiden würde. Es war die reinste Odyssee. Mit 24 entschied ich: „Es reicht. In Deutschland komme ich nicht weiter.“ Ich wusste, dass eine Sterilisation in Österreich ab 25 möglich ist. Das Uniklinikum in Salzburg war mein letzter Strohhalm. Drei Wochen nach meinem 25. Geburtstag fuhr ich hin. Die Ärzte machten erst eine Bauchspiegelung, dann durchtrennten sie die Eileiter und entfernten sie ganz. Das ist ein Schritt, der sich nicht mehr rückgängig machen lässt. Aber ich würde es immer wieder so entscheiden.


Jan, 47, Kaufmann im Gesundheitswesen, Single, Bochum

Ich hatte eigentlich keinen Vater. Zumindest kann ich mich nicht an ihn erinnern. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich vier Jahre alt war. Sie gingen morgens zum Scheidungstermin – und danach war mein Vater weg. Einfach so. Er holte nicht mal seine Sachen ab. Niemand hatte mich vorgewarnt. Auch meine Mutter erklärte mir nicht, was los war. Dass mein Vater nicht mehr wiederkommen würde, weil meine Eltern längst geschieden waren, erzählte mir mein Cousin etwa ein, zwei Jahre später. Für mich brach in dem Moment meine Welt zusammen. Weinend lief ich nach Hause. Aber das hat niemanden gekümmert. Meine Mutter erzählte mir außerdem irgendwann, mein Vater sei gewalttätig gewesen. Ich selbst kann mich an keine Gewaltsituation erinnern. Aber all das hat mich sicherlich negativ geprägt. Ich leide unter sozialen Ängsten; es fällt mir nicht leicht, anderen zu vertrauen. Ich bin heilfroh, dass ich nie in meinem Leben Vater geworden bin. Ich hatte nie die Sehnsucht danach. Aber ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich ein guter Vater geworden wäre. Mir hat ein Vorbild immer gefehlt.


Judith, 39, Programm-Managerin, Single, Berlin

Ich wundere mich jedes Mal, wenn irgendwo in den Medien wieder die Frage diskutiert wird: Wie kann ich als Frau Job und Kind vereinbaren? Für mich lautete die eigentliche Frage immer: Wie kann ich als Frau ein Kind mit mir vereinbaren?


Eva, 59, Hebamme und Professorin für Pflegewissenschaft, verwitwet und Single, Bern

Bestimmt 500 bis 600 Babys habe ich auf die Welt gebracht. Eine Geburt ist eine riesige menschliche Leistung und ein sehr archaischer Akt. Mich hat das immer fasziniert: diese Gratwanderung zwischen Leben und Tod, der Kontrollverlust, den eine Frau bei einer Geburt durchleben muss. Heute bedauere ich manchmal, dass ich diese Erfahrung nicht selbst gemacht habe. Aber alles andere, was ein eigenes Kind bedeutet? Danke, nein! Mit 34 Jahren wurde ich schwanger – zu diesem Zeitpunkt war ich schon glücklich mit meinem späteren Mann liiert. In der neunten oder zehnten Woche hatte ich eine Fehlgeburt. Aber das war okay für mich. Vielleicht, weil ich nie das Gefühl hatte, ein Kind zu brauchen, um glücklich zu sein. Schon als junge Frau hatte ich immer dieses Bild von mir vor Augen: eine Frau, die denkt, schreibt, die dem Leben nachforscht – und damit zufrieden ist. Ich wollte einfach mein Leben leben, Raum haben, meinem Wissensdrang nachzugehen. Ein Kind hatte in diesem Bild keinen Platz. Ich habe immer sehr gern und viel gearbeitet, bis zu 60 Stunden pro Woche, auch heute noch. In zwei Jahren werde ich pensioniert. Die Arbeit wird dann vorbei sein. Ob ich Angst davor habe? Weil kein Mann und keine erwachsenen Kinder oder Enkel auf mich warten? Absolut nicht. Ich habe noch viel vor: Arabisch lernen, Bücher lesen, durch den Maghreb reisen, meine Freundschaften pflegen. Auf all das freue ich mich riesig!


Sarah, 43, Aktivistin und Autorin des Buches „Die Uhr, die nicht tickt“, in einer Beziehung, Berlin

Das Leben mit Kindern ist in Strukturen eingezwängt, die ich nicht leben will. Ich möchte mich nicht am Mutterideal abarbeiten, ich will nicht von dem System Kinderbetreuung abhängig sein – und ich will auch nicht mehr arbeiten, als nötig ist. Ein Kind kostet Geld, und Familie wird in unserer Gesellschaft um die Lohnarbeit herum strukturiert. Die Selbstverständlichkeit, mit der das auch von der Politik propagiert wird, zweifle ich an. Viele Frauen verheddern sich in einem Bild, das sie als unbezahlte Fürsorge-Arbeiterin der Gesellschaft sieht. Doch weil dieses Bild so mit Liebe aufgeladen ist, bietet die Figur der Mutter ein positives Mittel zur Identifikation. Freiwillig kinderlose Frauen hingegen gelten als egoistisch, kalt, unglücklich. Ich selbst empfinde meinen Alltag als höchst kreativ, lebendig und voller Leben. Ich fühle mich komplett.

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Verena, 40, Lehrerin und Publizistin, Autorin des Buches „Kinderfrei statt kinderlos: Ein Manifest“, verheiratet, Regensburg

58,6 Tonnen. So viel CO2 kann man sparen, wenn man auf ein eigenes Kind verzichtet. Zumindest sagt das diese schwedische Studie von 2017. Wegen der menschlichen Spezies sterben Tier- und Pflanzenarten aus; ich finde, das ist ein verantwortungsloses Verbrechen. Dazu will ich nicht beitragen. Mir tun schon meine Schüler leid, wenn ich überlege, in welcher Welt sie leben müssen. Wie sollte ich diese Welt vor einem eigenen Kind rechtfertigen? Der Verzicht auf Reproduktion ist deswegen für mich der wichtigste Beitrag zum Umweltschutz. 2019 habe ich ein Buch veröffentlicht, in dem ich genau das propagiere. Die Reaktionen waren krass und sind es immer noch: Von rechts habe ich Morddrohungen bekommen. Natürlich weiß ich, dass ich provoziere, aber das stört mich nicht. Ich verhüte doppelt, um nicht ungewollt schwanger zu werden.

Zwei Personen trennen sich und laufen in unterschiedliche Richtungen. Die weiblich gelesene Person links hat schwarze, mittellange Haare und eine Tragetasche. Die männlich gelesene Person rechts trägt einen Beanie und Rucksack.

© Lena Deser

Sarah, 35, freiberufliche Fotografin, Single, Bonn

Über zehn Jahre waren mein Ex-Freund und ich ein glückliches Paar. Ich konnte mir vorstellen, mit ihm alt zu werden. Wir haben uns vor zwei Monaten getrennt, nicht, weil wir wollten – sondern weil wir keine andere Möglichkeit mehr sahen. Ich bin immer offen damit gewesen, dass ich mir eigene Kinder nicht vorstellen kann. Aber wir waren noch so jung, als wir ein Paar wurden, Mitte 20. Ich glaube, mein Ex-Freund dachte, meine Einstellung würde sich noch ändern mit der Zeit. Hat sie aber nicht. Bei ihm schon. Ich habe mich immer gefürchtet, dass es so kommen würde. An seinem 37. Geburtstag war es soweit. Er habe das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn er auf Kinder verzichte, sagte er. Für mich war das ein Schock. Für ihn auch. Wir haben über seinen Wunsch gesprochen, sogar mehrmals eine Paartherapeutin besucht. Aber bei der Frage „Kind, ja oder nein?“ gibt es keinen Kompromiss; entweder, man bekommt eins – oder man bekommt keins. Also blieb uns nur noch die Trennung. Ich liebe ihn immer noch. Aber ich stehe gefestigt in meiner Entscheidung.

Renate, 65, Journalistin, verheiratet, Aichwald

Es heißt immer, Blut sei dicker als Wasser. Aber zum gemeinsamen Spaziergang oder zum Scrabbeln brauchst du jemanden um die Ecke – da hilft dir ein erwachsenes Kind auch nicht, das hunderte Kilometer entfernt lebt. Warum also sollte ich mich einsam fühlen? Nur, weil ich kein eigenes Kind habe? Ich hatte stets ein offenes Haus, habe meine vielfältigen Freundschaften gepflegt und kann erfüllt allein sein. Meine Mutter erzählte mir in meiner Pubertät einmal beiläufig, wie sie sich bei meiner Oma über das Einerlei der Haushaltsführung beschwert hatte, woraufhin meine Oma nur geantwortet haben soll: „Das ist das Los der Frau.“ Sofort wusste ich: „Dieses Los will ich nicht!“ Die Alternative war die Geldverdiener-Rolle. Wer die wählte, konnte ganz andere Räume nutzen als eine Mutter mit Kindern, die zuverlässig Strukturen und Versorgung bieten muss. Meine Mutter füllte ihre Rolle vorbildlich aus, aber sie blieb damit hinter ihren intellektuellen Möglichkeiten zurück. Das wollte ich für mich nicht. Ich wollte meine Rente selbst verdienen. Man hat mir nicht geglaubt. Bei jedem Bewerbungsgespräch war der Ehemann der Knackpunkt: Was macht er beruflich, wird er den Wohnort demnächst wechseln? Ein Chef fragte, ob mein Mann damit einverstanden sei, dass ich keine Kinder will. So waren die Zeiten damals. Bis 1958 konnte der Ehemann sogar bestimmen, ob seine Frau berufstätig sein durfte, danach musste eine Stelle der Frau laut Gesetz immer noch bis 1977 „mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“ sein. Das steckte noch in den meisten Köpfen, obwohl „Das andere Geschlecht – Sitte und Sexus der Frau“ der französischen Philosophin Simone de Beauvoir die neue Feminismus-Debatte bereits Jahre zuvor ausgelöst hatte. De Beauvoir war viele Jahre mein Idol, ich verehre sie noch immer. Es gibt diesen berühmten Satz von ihr: „Man ist nicht als Frau geboren, man wird es.“ Meine Folgerung daraus: Wenn man nicht als Frau zur Welt kommt, sondern dazu gemacht wird, muss nichts so bleiben, wie es vorgegeben ist.


Dietmar, 63, Journalist, in einer Beziehung, Brandenburg

Mit zehn Jahren fuhren meine Eltern mit mir in den Sommerurlaub, Campen in Renesse in den Niederlanden. Es gab einen Moment, in dem ein Kind am Strand verloren ging. Panik brach aus, alle suchten. Ich dachte bloß: Wenn das Kind ertrunken ist, lohnt es sich auch nicht, weiter zu suchen. Meine Gleichgültigkeit und mein Zynismus gegenüber Kindern schockierte mich selbst. Noch heute geht mir dieses Ereignis nicht aus dem Kopf, erschreckt mich meine Reaktion. Schon kurz danach habe ich mich dafür geschämt – natürlich würde ich heute mit allen Mitteln nach einem Kind suchen, wenn es verloren ginge. Was aber als Gefühl geblieben ist: Kinder sind mir fern.


Daniela, 32, Texterin in einer Digitalagentur, in einer Beziehung, Bremerhaven

Ich bin queer. Für mich ist ein Mensch mit Brüsten und einer Vulva nicht automatisch eine Frau. Und ein Mann, der Make-up und Röcke trägt, nicht automatisch weniger männlich. In meinem Alltag gibt es weibliche und männliche Tage. An meinen weiblichen Tagen trage ich meine langen Haare offen, manchmal auch ein tailliertes Top und hohe Schuhe. An meinen männlichen Tagen kleide ich mich weniger figurbetont, trage Männerjeans und große Pulli. Bevor ich mit meiner jetzigen Partnerin zusammen gekommen bin, führte ich eine ziemlich ungesunde Beziehung mit einem Mann. Der hatte einen sehr intensiven Kinderwunsch. Ich wusste damals schon, dass ich das nicht will – das klassische Familienbild war nie Teil meiner Vorstellung. Aber die Frage, warum ich keine eigenen Kinder möchte, hat mich über das Ende der Beziehung hinaus lange beschäftigt. „Warum weiche ich hier ab von der Norm?“, habe ich mich gefragt. „Warum bin ich anders?“ Nach der Trennung gab es eine lange Phase, in der ich mich erst einmal selbst wiederfinden musste. Das, was mein Expartner mir eingetrichtert hatte, dieses ständige „Du hast Kinder zu wollen!“, musste ich wieder loswerden. Heute machen mir die gesellschaftlichen Erwartungen, die an eine Frau herangetragen werden, keinen Druck mehr. Trotzdem finde ich den Gedanken an ein eigenes Kind gruselig. Es macht mir Angst, wie fragil ein Kind ist, wie viel man falsch machen kann bei der Erziehung. Das verunsichert mich.


Anja, 39, Grundschullehrerin, in einer Beziehung, Leipzig

Ich weiß noch, wie meine Mutter mich einmal aus dem Kindergarten abholte, ich muss vielleicht vier oder fünf gewesen sein. Meine Mutter schob mich über die Gehwegplatten durch das neue Plattenbauviertel. Irgendwann sagte sie: „Ab jetzt läufst du, du bist zu groß für den Buggy.“ Und dann: „Anja, wenn du ein Kind hast, bist du immer alleine, auch wenn du einen Mann hast. Merk dir das.“ Was soll ich sagen? Ich habs mir gemerkt.


Lena, 30, Illustratorin und Journalistin, in einer Beziehung, Berlin

Es ist verrückt: Seit ich mich als lesbisch geoutet habe, werde ich nicht mehr gefragt, wie es mit eigenen Kindern aussieht. Ich empfinde das als extreme Befreiung. Seltsam ist es trotzdem. Denn was bedeutet das? Einer homosexuellen Frau gesteht man nicht zu, dass sie einen Kinderwunsch hat, deswegen fragt man sie nicht – aber jede heterosexuelle Frau will auf jeden Fall ein Baby, weswegen jede:r glaubt, sie darauf ansprechen zu dürfen? Ich selbst dachte auch lange in diesem Klischee und ging davon aus, dass ich eigene Kinder haben würde. Ich komme aus einer konservativen, ländlichen Gegend in Bayern und bin mit dem Glaubenssatz aufgewachsen: Eine Frau, die es geschafft hat, hat zwar einen Job – aber vor allem hat sie Kinder. Dieser Glaubenssatz änderte sich in dem Moment, in dem ich mich als lesbische Frau akzeptiert hatte. Damit fiel ein Druck von mir ab; als lesbische Frau entsprach ich sowieso nicht mehr der Norm. Vielleicht war die Kinderfrage deswegen mit meinem Outing für mich passé. In meinem queeren und lesbischen Umfeld bekommen die Frauen viel seltener Kinder, so ist zumindest mein Eindruck. Dafür ist die bewusste Auseinandersetzung mit dem Thema Kind und Mutterschaft viel größer als unter heterosexuellen Freundinnen. Vielleicht, weil man als homosexuelle Frau nicht einfach so an ein Kind kommt. Ich weiß: Ich will auf keinen Fall Kinder. Ich bin so sicher, dass ich mir gerade überlege, meine Gebärmutter entfernen zu lassen. Ich leide sehr stark unter PMS-Symptomen. Warum sollte ich die noch aushalten? Also kann meine Gebärmutter auch weg.

Eine Gruppe weiblich gelesener Menschen sitzt sommerlich gekleidet auf einer Decke mit Luftballons und feiert.

© Lena Deser

Diala, 40, Kellnerin, Single, Wachtberg

Meine Kinder sollten nicht unter den Bedingungen aufwachsen, unter denen ich in Syrien aufwuchs: Ich war zehn, als sich meine Eltern scheiden ließen, lebte von nun an in einer zerrütteten Familie, in der nie genug Geld da war, in einer Gesellschaft, in der man nicht frei ist, sondern in der die Propaganda regiert. In Syrien kannst du nicht einfach sagen, was du denkst über die Politik oder die Religion. Wenn ich ein eigenes Kind hätte, würde ich ihm mehr bieten wollen, das hatte ich schon als junge Frau für mich entschieden. Ein freieres Leben. Doch dann wurde alles noch schlimmer, als der Krieg kam. Meine Familie und ich, wir verließen das Land. Seit fünf Jahren lebe ich nun in Deutschland, meine Brüder und meine Mutter auch. Hier haben wir ein besseres Leben, wir können frei sein. Meine Mutter weiß, dass ich nicht gläubig bin und keine eigenen Kinder will. Sie wünscht sich noch immer einen Mann für mich und Kinder, weil sie glaubt, dass ein Leben damit besser wäre. Aber sie kann meine Entscheidung leichter akzeptieren, seit wir hier sind; sie ist offener geworden. Die vergangenen zehn Jahre waren für mich und meine Familie sehr anstrengend, natürlich. Ich habe so oft von null angefangen, auch hier in Deutschland. Ich sehne mich nach Routine und Stabilität. Wir sind hier sicher – obwohl es sich für mich immer noch nicht so anfühlt. Ich möchte einfach nur ein ruhiges Leben führen.


Regine, 68, Rentnerin, früher Videojournalistin beim Fernsehen, verheiratet, Münzenberg

In den siebziger und achtziger Jahren arbeitete ich als Cutterin beim Fernsehen. Es war in meiner Abteilung völlig normal, keine Kinder zu haben – eine Frau mit Baby war die Ausnahme. Meine Kolleginnen und ich, wir hatten andere Dinge im Kopf: feiern, reisen, arbeiten. Zum Teil fühlte es sich an wie eine einzige Party, ständig wechselten die Beziehungskonstellationen untereinander. Wir lebten nach dem Grundsatz: „Ich tue, was ich will!“ Sicher waren wir auch durch die zweite Feminismuswelle beeinflusst. Es war eine irre, eine tolle Zeit! Jetzt, im Alter, bekommt die Kinderlosigkeit eine neue Dimension. Testament, Haus, Pflege: Das müssen mein Mann und ich alles allein regeln; es ist ja niemand da, der sich kümmern könnte. Wir planen deswegen schon jetzt alles vor. Wir werden rechtzeitig unser Haus mit den vielen Treppen verkaufen und in eine ebenerdige Wohnung ziehen, wir misten schonmal ein paar Dinge aus. Ich finde das nicht traurig, dass wir uns selbst um diese Dinge kümmern müssen. Weil ich nicht zu denen gehöre, die denken, dass Kinder als Erwachsene ihre Eltern pflegen müssen. Dafür gibt es ausgebildete Fachkräfte. Eltern, die im Alter von ihren Kindern erwarten, dass sie die Pflege übernehmen, finde ich sehr egoistisch. Ich denke nach wie vor: „Nö, ich habe kein Kind – warum auch?!“


Alexander, 43, Elektriker, in einer Beziehung, Ludwigshafen

„Du musst doch dein Blut weitergeben!“ „Du wärst doch ein guter Vater geworden!“ Solche Sätze kommen von anderen Männern, wenn ich erzähle, dass ich keine Kinder habe. Aber wieso sollte ich mein Blut weitergeben müssen? Ich kann damit nichts anfangen. Und mit einem eigenen Kind auch nicht. Familie hat für mich keinen besonders hohen Stellenwert.


Manuel, 40, Systemadministrator, Ehemann von Heike, München

Für mich als Asperger-Autisten beruhen meine emotionalen Bindungen mehr auf Logik als allein auf Gefühlen. Ich brauche in meinem Leben viel Struktur, ich muss Dinge logisch nachvollziehen können. Auch Routine ist wichtig: Jeder Tag sieht bei mir sehr ähnlich aus. Das heißt aber nicht, dass alle Menschen, die Asperger-Autisten sind, keine Kinder wollen. Ich kenne zwei Familien, in denen mindestens einer der beiden Erwachsenen sich im autistischen Spektrum bewegt, und sie sind sehr liebevolle Eltern! Ich persönlich kann zu Kindern keine Bindung aufbauen. Wenn ich Babys oder kleine Kinder sehe, löst das nichts in mir aus. Deswegen habe ich mich mit Mitte 20 sterilisieren lassen. Weil ich genau wusste: Ein Kind funktioniert für mich sowieso nicht. Das würde ich nicht lange durchhalten.


Heike, 36, Personalentwicklerin, verheiratet mit Manuel, München

Frauen bekommen Kinder, logisch. Das dachte ich, bis ich Manuel wiedertraf. Wir waren in unseren Teenagerjahren schon einmal ein Paar gewesen. Jahre später verabredeten wir uns, als ich in seine Stadt gezogen war. Es sollte ein harmloser Abend im Pub werden. Er erzählte mir schon bei diesem Treffen von seiner Sterilisation. Ich dachte nur: „Krass!“ Mehr aber auch nicht. Ich ging ja nicht davon aus, dass wir uns nochmal ineinander verlieben würden. Ist aber dann passiert. Als wir wieder ein Paar wurden, war seine Sterilisation anfangs schwierig für mich. Wenn ich mich für diesen Mann entscheide, dachte ich, entscheide ich mich gegen eigenen Nachwuchs. Ich fing an, mich zu hinterfragen: Wie wichtig sind mir eigene Kinder? Ich spürte meinem Kinderwunsch nach. Das war eine sehr stressige Zeit. Aber ich konnte nicht viel finden, da war kein Wunsch. Ich bin dankbar, dass ich durch die Begegnung mit Manuel gezwungen wurde, mich bewusst mit der Frage nach eigenen Kindern auseinanderzusetzen. Mit meiner Entscheidung bin ich heute sehr glücklich.


Mitarbeit: Henrike Freytag

Redaktion: Philipp Daum; Illustrationen: Lena Deser; Bildredaktion: Till Rimmele; Schlussredaktion: Susan Mücke; Audioversion: Iris Hochberger

„Ich hatte nie das Gefühl, ein Kind zu brauchen, um glücklich zu sein“

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