Die Flüchtlingslager in Griechenland sind seit Monaten, zum Teil sogar Jahren extrem unsichere Lebensumgebungen. Inzwischen sprechen Mitarbeiter:innen von Hilfsorganisationen sogar davon, dass die Bedingungen dort schlechter seien als in manchem Kriegsgebiet. Zugleich sind in Bosnien Minusgrade, und Asylsuchende, die zuvor aus dem EU-Land Kroatien vertrieben wurden, frieren in Zeltlagern. Ist das denn die einzige Lösung, mit hilfesuchenden Menschen in der EU umzugehen? Das habe ich den Soziologen Serhat Karakayali gefragt, der sich schon sehr lange mit Migration beschäftigt.
In Bosnien frieren Geflüchtete bei Minusgraden in Zelten. Ratten beißen die Menschen auf den griechischen Inseln und Fluten spülen ihre Zelte weg. Dennoch will kein EU-Land sie aufnehmen. Die Lage für Asylsuchende in den Grenzregionen der EU ist sehr festgefahren. Warum ist das so?
Die Situation hat sich seit 2015 eigentlich gar nicht verändert. Einige EU-Länder, vor allem die Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei, blockieren eine politische Lösung auf europäischer Ebene. Die Ankunftsländer innerhalb der EU, also besonders Italien und Griechenland, aber zum Teil auch Spanien, tragen die Kosten der Erstaufnahme. Auch politisch. In allen Ländern erstarken nationalistische Bewegungen, die Regierungen weichen zum Teil vor ihnen zurück, weil sie Angst haben, Stimmen zu verlieren. Die EU-Kommission versucht derweil mit dem Asyl- und Migrationspakt einen Kompromiss zu finden, der auf flexiblen Formen von Solidarität basiert. Dabei ist bisher aber keine Annäherung zu beobachten. Mittlerweile gibt es kaum noch Regierungen, die sich deutlich für eine Flüchtlingspolitik aussprechen, die nicht nur die Solidarität innerhalb der EU in den Blick nimmt, sondern auch die mit Erstaufnahmestaaten und Geflüchteten.
Auf mich wirkt das alles immer mehr wie ein eingefrorener Konflikt: Zuerst gab es heftige Auseinandersetzungen, die nun abgelöst wurden von einer fragilen Ruhe, mit der die Regierungen erstmal gut leben können. Wie kann wieder Bewegung in die Asylfrage reinkommen?
Da gibt es verschiedene Konfliktlösungsstrategien, mit denen sich Forscher:innen auch im Detail auseinandergesetzt haben. Hinter den Forderungen einer Seite steckt immer ein Interesse. Anstatt sich auf Forderungen oder Positionen einer Seite zu versteifen, sollte man deren Interessen oder Wünsche herausarbeiten. Je irrationaler dieses Interesse ist, desto schwieriger wird das aber. Man müsste also analysieren, wie man den Visegrád-Staaten entgegenkommen könnte. Man müsste herausfinden: Was ist das eigentliche Problem?
Ist es denn wirklich irrational von den Visegrád-Staaten, keine Geflüchteten aufnehmen zu wollen?
Irrational ist zum Beispiel die Angst der Bevölkerung vor einer höheren Kriminalität. Wo hinter den Verhandlungspositionen falsche Informationen oder einfach Propaganda stecken, kann man dem teilweise durch Aufklärung darüber entgegenarbeiten und darlegen, wie vielfältig und auch positiv die Folgen von Einwanderung sein können. Andererseits gibt es aber auch Dinge, bei denen sollte klar sein, dass sie nicht verhandelbar sind. So unnachgiebig wie man sich bei der Frage der Rechtsstaatlichkeit gegenüber Polen und Ungarn gegeben hat, so unverhandelbar sind eben auch Menschenrechte.
Oder man muss eine ganz andere Lösung finden, wenn der Konflikt sich nicht lösen lässt.
Wie könnte die aussehen?
Zunächst, dass man Einwanderung normalisiert und potenziellen Migrant:innen andere Optionen anbietet als nur den Weg über irreguläre Migration und das Asylverfahren. Das sind oftmals langwierige Verfahren, bei denen die Menschen den unterschiedlichen Kriterien genügen müssen, die jeweils angewendet werden – das sind beim Asylrecht nach Artikel 16 des Grundgesetzes andere als beim subsidiären Schutz, der auch Bürgerkriegsflüchtlingen gewährt wird. In der konkreten Umsetzung können dabei natürlich neue Hürden entstehen, wie das aktuelle Beispiel der Westbalkan-Regelung zeigt. Noch vor Kurzem hatten viele Menschen aus der Region Asyl in Deutschland beantragt. Manche von ihnen können heute aber über ein Visum kommen, das an eine Arbeitsaufnahme gekoppelt ist. Ob es sich dabei um die gleichen Gruppen von Einwanderer:innen handelt oder ob hier gezielt Roma von einer Migration abgehalten werden sollten, ist dabei umstritten.
Warum ist es etwas anderes, ob Menschen Asyl beantragen oder mit einem Arbeitsvisum nach Deutschland kommen?
Einerseits genießt das Asyl ein hohes Ansehen in Deutschland, es gibt eine breite gesellschaftliche Mehrheit, die es richtig findet, dass wir Menschen in Not Schutz bieten. Andererseits gelingt es hier sehr viel leichter, die konkreten Menschen, die das dann beanspruchen, zu Zielscheiben von Kampagnen zu machen. Das hat damit zu tun, dass es sich ja um eine ziemlich einseitige Beziehung handelt. Die Bereitschaft zu helfen und dafür auch etwas abzugeben, ist an die Bedingung geknüpft, dass die betroffenen Menschen wirklich Schutz benötigen. Wie leicht das in Frage zu stellen ist, kann man schon daran sehen, dass 2015 alle darüber sprachen, dass die Flüchtlinge ja mehrheitlich junge Männer seien. Was wir erwarten und offenbar leichter zu akzeptieren bereit sind, sind Familien, Frauen und Kinder. Daher ist es auch nicht erstaunlich, dass es die Debatten über sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder „Scheinasylanten“ schon so lange gibt, nämlich schon seit den 1970er Jahren – und das, obwohl damals nur eine Handvoll Menschen in Deutschland Asyl beantragt hat.
Dr. Serhat Karakayali ist Soziologe und hat über die Geschichte illegaler Migration in Deutschland promoviert. Er leitet die Abteilung Migration am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM Institut) und zwei weitere Projekte zu Migration und Gewerkschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, die von der Hans-Böckler-Stiftung und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert werden.
Man kann natürlich auch Stimmung gegen Arbeitsmigration machen. Aber das wurde zumindest in Deutschland in den letzten Jahrzehnten kaum getan – oder wenn, dann nicht so erfolgreich. Das hat auch damit zu tun, dass die Arbeitsmigrant:innen oft gar nicht mit der einheimischen Arbeitskraft in Konkurrenz stehen. Es gibt ja das sogenannte „Inländerprimat“. Es bewirkt, etwas vereinfacht gesagt, dass die Leute in Bereichen arbeiten, für die sich keine deutschen oder inländischen Arbeiter:innen finden: Bei der Ernte, in der Fleischfabrik, auf dem Bau oder in der Pflege.
Wie würde das den Menschen auf den griechischen Inseln helfen?
Eine solche Richtungsänderung würde auf Dauer Migration entdramatisieren und das Asylrecht aus dem Fokus populistischer Debatten nehmen. Wenn man keine Wahlkämpfe damit gewinnen kann, Menschen gegen Schutzsuchende zu mobilisieren, ist das schon ein großer Schritt. Das ist für die Menschen, die sich gegenwärtig in dieser Notlage befinden, natürlich keine Aussicht. Länder wie Deutschland, in denen es weiterhin gesellschaftliche Mehrheiten für die Aufnahme von Flüchtlingen gibt, könnten hier mit gutem Beispiel vorangehen und dafür sorgen, dass die Verfahren schnell durchgeführt werden, damit die Menschen schnell aus den unwürdigen Lagern auf den Inseln evakuiert werden können.
Und so könnte wirklich Bewegung in den eingefrorenen Konflikt kommen?
Ich persönlich würde eher so argumentieren: Im Moment scheint eine politische Einigung, die auch die Aufnahme oder Umverteilung von größeren Zahlen von Schutzsuchenden einbezieht, in Europa so gut wie ausgeschlossen. Die Corona-Pandemie erschwert das zusätzlich. Wichtig ist, dass die Zivilgesellschaft nicht locker lässt. An den USA sieht man, dass es nach Wahlen relativ schnell zu deutlichen Änderungen in der Migrationspolitik kommen kann.
Konservative Politiker:innen sagen häufig, dass noch viel mehr Menschen nach Europa kommen, wenn die Länder jetzt Migrant:innen von der EU-Grenze aufnehmen. Ist das denn ein realistisches Szenario?
Bilder in den Medien erwecken oft den Eindruck, dass sehr viele Menschen nach Europa kommen. Angesichts der etwa 450 Millionen Menschen, die in der EU leben, sind die Zahlen von Asylsuchenden aber wirklich lächerlich gering. Die meisten Flüchtenden bleiben in ihrer Heimatregion. Aus Syrien zum Beispiel fliehen sie in die Türkei und in den Libanon, aus Eritrea und Äthiopien in den Sudan.
Also bleibt alles so wie es ist, wenn wir die Geflüchteten aufnehmen?
Nicht unbedingt. Es gibt auch das Phänomen der Kettenmigration. Es gibt für Geflüchtete gute Gründe, in ein bestimmtes Land einzuwandern: zum Beispiel, wenn Familie oder Menschen, die man kennt, schon in dem Land sind, oder wenn es dort Vereine gibt, in denen die eigene Sprache gesprochen wird. Und wenn man Ärzte aufsuchen kann, die einen verstehen oder wenn man dort eher einen Job finden kann, zum Beispiel in einem Imbiss. Das sind sogenannte Pull-Faktoren.
Aber die wirken immer mit anderen Faktoren zusammen. Wenn man annimmt, jemand würde sich ohne richtigen Grund aus dem Heimatland nach Deutschland auf den Weg machen, nur weil es dort die entsprechende Infrastruktur gibt, tut man ja so, als würden die Menschen völlig willenlos handeln. Es braucht auch einen Druck, der Migrationsentscheidungen in Gang setzt. Das kann etwa ein Krieg oder eine Hungersnot sein oder eben politische und ökonomische Unsicherheit. Doch selbst dann bleiben die meisten Menschen eher in den Nachbarstaaten. Schließlich muss man auch die Mittel haben, um sich überhaupt auf den Weg nach Europa machen zu können.
Aber man kann natürlich auch nicht völlig abstreiten, dass bestimmte Länder attraktiver sind, wenn man von dort über Whatsapp schöne Bilder sieht und im Internet gute Dinge über sie liest. Nur ganz ehrlich: Das Szenario, dass jedes Jahr 20 Millionen Menschen nach Europa kommen, ist Quatsch. Das ist noch nie passiert. Das ist eine Überspitzung in einer sehr aufgeladenen moralischen Diskussion.
Wie kommen wir raus aus dieser Überspitzung und zu einer modernen Einwanderungspolitik?
Dafür braucht es eine Vision und ein kleines bisschen Utopie. Wir müssen anders darüber nachdenken, wie Mobilität und Einwanderung in Zukunft aussehen sollen. Da bräuchte es eine ganz neue Einstellung, die nicht darauf zielt, eine vermeintliche Homogenität in der Bevölkerung zu bewahren, sondern ganz selbstverständlich sagt: Wir nehmen Menschen auf, und die gehören dann dazu. Dafür brauchen wir eine ausreichende rechtliche, soziale und ökonomische Infrastruktur, die ihnen das auch ermöglicht. Das heißt aus meiner Sicht aber auch, dass diese Infrastruktur allen Mitgliedern einer Gesellschaft offen stehen sollte – auch denjenigen, die seit Generationen in der Uckermark oder in Gelsenkirchen leben.
Gibt es Beispiele für Länder, in denen sich diese Einstellung geändert hat?
Tatsächlich ändert sich in Europa schon ziemlich viel. Es gibt in der EU längst eine urbane Bevölkerung, die mit Einwanderung kein großes Problem hat, die mit Diversität besser umgehen kann und darin keine Bedrohung sieht. In Deutschland hat die Mehrheit der Kinder in den großen Städten selbst eine Migrationsgeschichte. Das wird sicherlich auf lange Sicht den Diskurs verändern. Die Herausforderung liegt also eher in den kleineren Kommunen. Aber in Deutschland haben wir in den vergangenen fünf Jahren auch außerhalb der großen Städte ein sehr hohes zivilgesellschaftliches Engagement gesehen.
Wie kann eine wirkliche politische Lösung denn nun aussehen?
Ein Beispiel dafür, wie es gut funktionieren kann, sind die Resettlement-Programme. Dabei nehmen Aufnahmeländer freiwillig einen Teil der besonders schutzbedürftigen Flüchtlinge aus Lagern in den Konfliktregionen auf. Damit bietet man Menschen in aussichtsloser Lage eine Perspektive an. Vor allem in den USA hat das gut funktioniert – bis die Trump-Regierung das Programm gestoppt hat.
Auch die EU und Deutschland beteiligen sich am internationalen Resettlement-Programm. Seit 2015 sind knapp 14.000 besonders schutzbedürftige Menschen aus Lagern in der Türkei, dem Libanon, Äthiopien und sogar aus Griechenland über diese Programme nach Deutschland gekommen.
Von den Resettlement-Programmen wissen oft nur die Fachkreise. Die Regierung brüstet sich einerseits damit, dass sie das macht. Sie hat aber anscheinend auch Angst, die Zahlen zu erhöhen, obwohl es Kapazitäten auf kommunaler Ebene gäbe: Viele Kommunen bieten an, solche Resettlement-Flüchtlinge aufzunehmen.
Warum? Kann man mit humaner Asylpolitik keine Wahl gewinnen?
In der CDU/CSU haben viele Sorge, Stimmen an die AfD zu verlieren. Ein nicht kleiner Teil dieser Partei – das darf man auch nicht vergessen – hat, bis in die Parteispitze hinein, vor nicht allzu langer Zeit noch äußerst rechtskonservative, migrationsaverse Positionen vertreten. Der Gerechtigkeit halber sollte man hier aber auch die anderen Parteien nicht unerwähnt lassen mit ihren Sarrazins, Wagenknechts oder Palmers. Man kann nur hoffen, dass der demographische Wandel und eine absehbare „buntere“ Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung es auf lange Sicht weniger wahrscheinlich machen, dass man Wahlen auf dem Rücken von Menschen mit Einwanderungsgeschichte gewinnen kann.
Viele Leser:innen haben mich gefragt, was sie als Bürger:innen dafür tun können, wenn sie mit der aktuellen Asylpolitik nicht zufrieden sind. Haben Sie einen Tipp?
Man kann die demokratischen Instrumente nutzen und die politisch Verantwortlichen darauf aufmerksam machen: Man kann Protestschreiben an Abgeordnete senden, auf Demonstrationen gehen, Petitionen unterschreiben. Man kann sich mit anderen wichtigen Teilen der Gesellschaft zusammenzutun, zum Beispiel mit der Kirche oder mit Unternehmen, die Geflüchteten einen Arbeitsplatz bieten wollen. Es ist auch nötig, dass sich diese Mehrheit sichtbarer zeigt – die Aktionen der Initiative „Unteilbar“ waren wegweisend. Denn heute wird manchmal noch immer der Eindruck erweckt, als seien die, die der AfD ihre Stimme geben, quasi die Mehrheit. Dazu trägt auch die rechte Stimmungsmache in den sozialen Medien oder den Online-Kommentarspalten der Leitmedien bei. Es gibt sehr gute Studien, die zeigen, dass es sich hier um eine sehr kleine Gruppe von Online-Aktivist:innen handelt, die aber sehr gut orchestriert sind. So entsteht bei vielen der Eindruck, als sei eine überwältigende Mehrheit in Deutschland gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Aber das stimmt gar nicht.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Susan Mücke; Fotoredaktion: Till Rimmele.