Kannst du dir eigentlich etwas Langweiligeres vorstellen als einen EU-Schuldengipfel?
Nein. Auf keinen Fall.
Ich dachte auch mal wie du. Aber im Juli haben sich die Staats- und Regierungschefs getroffen, vier Tage lang, und was sie auf diesem Gipfeltreffen beschlossen haben, ist spektakulär. Emmanuel Macron, der französische Präsident, hat sogar von der größten Veränderung seit der Einführung des Euro gesprochen. Ich sage: Wir leben in einer völlig anderen EU als noch im Frühjahr, Mesdames et Messieurs!
Was, echt?
Und wie. Mitte Juli trafen sich die Staats- und Regierungschefs aller 27 EU-Länder. Eigentlich wollten sie beratschlagen, wie man angeschlagenen Staaten helfen könnte, die Corona-Krise zu bewältigen. Nach einundneunzigeinhalb Stunden Verhandlungen hat die EU beschlossen, gemeinsam Schulden aufzunehmen. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte.
Ich weiß, das klingt nicht besonders aufregend. Aber bei diesem Gipfel ging es um viel mehr als Schulden. Es ging um Macht: Diese vier Tage haben die Machtverhältnisse in der EU verschoben. Die ausgabefreudigen Länder haben sich erstmals gegen die Sparsamen durchgesetzt. Und es ging, ja wirklich, um die Zukunft der Demokratie in Europa. Der 21. Juli 2020, an dem der Gipfel erfolgreich beendet wurde, ist ein Datum, das unsere Enkelkinder in der Schule auswendig lernen werden.
Ach, komm! Kleiner geht es nicht?
Vermutlich nicht, nein. Aber um zu verstehen, warum es nicht kleiner geht, müssen wir abtauchen in die Details, wir müssen in den Maschinenraum gehen.
Warte mal. 21. Juli, sagtest du? Warum sprechen wir erst jetzt darüber?
Ja, du hast Recht, das ist spät. Aber es war Einiges los in diesem Sommer: eine Pandemie, Corona-Demonstrationen, Debatten um Rassismus und Polizeigewalt, der Brand in dem Flüchtlingslager in Moria. Gut möglich, dass einfach untergegangen ist, was da Großes in der EU passiert ist. Aber es ist sehr Großes passiert. Deswegen habe ich diesen Text geschrieben, denn es ist nicht zu spät, sich mit dieser Sache auseinanderzusetzen, nur weil es nach Maßstäben des Mediengeschäfts kalter Kaffee ist.
Okay, schieß los. Ich bin gespannt.
Ende Februar erreichte das Coronavirus Europa. Es versetzte nicht nur die Gesundheitssysteme in Stress, sondern auch die Volkswirtschaften. Einzelhändler schlossen ihre Läden, mittelständische Betriebe stoppten ihre Produktion, Unternehmen verbuchten Ausfälle in Millionenhöhe. Und die einzelnen Staaten taten ihr Möglichstes, um sie zu unterstützen. Was machst du, wenn du dringend Geld brauchst?
Äh, ich reize meinen Dispo aus? Ich leihe mir Geld?
Genau. Und Staaten tun das auch. In einer Krise leihen sie sich Geld, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Die Staatsverschuldung steigt. Und die Schulden zahlt der Staat in besseren Zeiten zurück. Anders als du ruft der Staat aber nicht bei Herrn Maier von der Stadtsparkasse Grevenbroich an, sondern gibt Staatsanleihen aus.
Was soll das sein?
Es ist ganz banal: Personen oder Unternehmen leihen einem Staat Geld. Ein Land gibt Staatsanleihen aus, Anleger:innen kaufen sie, der Staat bekommt Geld, Anleger:innen bekommen Zinsen. Staatsanleihen sind der VW Polo unter den Investitionen: Nicht besonders aufregend, man kommt damit nicht schnell ans Ziel, aber die Fahrt ist sehr sicher. Du kannst dich bei Staatsanleihen darauf verlassen, dass du dein Geld zurückbekommst.
Naja, Venezuela würde ich eher ungern Geld leihen. Das bekomme ich doch nie zurück!
Verständlich. Es kommt natürlich drauf an, welche Staatsanleihen man kauft. Und deshalb müssen wir über Bonität reden, über Kreditwürdigkeit. Ein Staat, dem man zutraut, geliehenes Geld auf jeden Fall zurückzuzahlen, hat eine hohe Kreditwürdigkeit. Er zahlt niedrige Zinsen, es ist für ihn also nicht teuer, sich Geld zu leihen. Wenn Zweifel an der Rückzahlungsmoral eines Staates bestehen, hat er eine schlechte Kreditwürdigkeit. Er muss seinen Anleger:innen höhere Zinsen zahlen, damit sie seine Staatsanleihen trotzdem kaufen. Die drei großen amerikanischen Ratingagenturen Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch vergeben Bonitätsnoten: von Triple-A bis D. Mehr dazu findest du in diesem Überblick auf Tagesschau.de.
Und was hat das alles mit der EU zu tun?
Die 27 EU-Staaten haben unterschiedliche Bonitäten. Und die Corona-Krise traf ausgerechnet Staaten mit schlechterer Kreditwürdigkeit hart. Griechenland zum Beispiel, dessen Wirtschaft stark gelitten hat, hat eine der schlechtesten Bonitäten in der EU. Deswegen ist es für Griechenland teurer, sich Geld zu leihen.
Hier kommt die Europäische Union ins Spiel. Der Gipfel im Juli hatte vor allem das Ziel, angeschlagenen Staaten in der Pandemie zu helfen. Und das waren die zwei wichtigsten Ergebnisse:
- Es gibt einen Corona-Rettungsfonds, 750 Milliarden Euro schwer. 390 Milliarden Euro davon sind direkte Hilfen zur Behebung der Schäden, die durch die Pandemie entstanden sind. Also Geld für Krankenhäuser und Pflegeheime, Geld für Schulen und Ausbildungsbetriebe, dort wo Menschen arbeitslos geworden sind. Die anderen 360 Milliarden des Fonds sind Kredite. Mit diesen 750 Milliarden Euro hat sich der EU-Haushalt in den Jahren 2021 bis 2023 verdoppelt. Das neue Geld aber zahlen nicht – so wie bisher – die Mitgliedsstaaten in den EU-Haushalt ein, denn, und jetzt kommt der Clou:
- Die EU nimmt selbst Schulden auf, das erste Mal in ihrer Geschichte. Das war noch vor wenigen Monaten unvorstellbar. Die Mitgliedstaaten haben zehn Jahre darüber gestritten und …
… warum zehn Jahre lang? Der Gipfel hat doch bloß vier Tage gedauert!
Erinnerst du dich noch an Euro-Bonds? Damals, vor ungefähr zehn Jahren, steckte die EU mitten in einer Finanzkrise. Italien war verschuldet, Spanien war verschuldet, Griechenland war so massiv verschuldet, dass es lange unklar war, ob es in der EU bleiben würde. Für griechische Staatsanleihen bekam man damals an die 40 Prozent Zinsen! Einige nannten die Anleihen „Ouzo-Bonds“, weil ihre Rendite so hoch war wie der Alkoholgehalt des griechischen Anisschnapses Ouzo. Es war offen, ob Griechenland in der EU bleiben könnte. Und schon damals schlugen Einige vor, dass die EU gemeinsam Staatsanleihen ausgeben sollte. Das war damals ein absolutes No-Go. Die nördlichen Länder wie Deutschland, Niederlande oder Finnland argumentierten immer wieder: Wir dürfen keine gemeinsamen Schulden aufnehmen! Die EU hat also gegen ein zehn Jahre gültiges Mantra verstoßen.
Stimmt, das war diese Sache mit Griechenland …
Genau, Griechenland war damals das Problemkind der EU. Zwischen 2010 und 2018 bekam es drei Rettungspakete, Kredite der Eurostaaten und des Internationalen Währungsfonds also, die aber an strenge Sparbedingungen und Reformen geknüpft waren. Den Sparkurs hatte die EU vorgegeben, die ansonsten den Geldhahn zugedreht hätte. Die Deutschen und andere haben den Griechen so wenig vertraut, dass man dachte, wenn man ihnen nicht ganz genau sagt, was sie mit dem geliehenen Geld machen sollen, kriegen sie es alleine nicht auf die Reihe. Diese strengen Auflagen haben allerdings massiv zu der Staatsschuldenkrise beigetragen, unter der Griechenland immer noch leidet.
Aus den Fehlern von damals hat die EU offenbar gelernt und wollte diesmal vermeiden, dass es einzelnen Mitgliedsstaaten nochmal so ergeht wie Griechenland. Deswegen hat sie eine gemeinsame Schuldenaufnahme beschlossen. In vier Tagen Gipfel ist also eine Entscheidung gefallen, über die bereits vorher zehn Jahre lang diskutiert worden ist! Das ist schon beeindruckend, oder?
Schon, ja. Aber jetzt musst du mir erstmal erklären, wie diese Schuldenaufnahme ablaufen soll.
Ähnlich wie bei einem einzelnen Staat: Die EU wird Anleihen ausgeben, die von Anleger:innen gekauft werden. Die EU als Gesamtpaket weckt bei Anleger:innen mehr Vertrauen als einzelne Mitgliedsstaaten, also wird es wohl für die EU billiger werden, sich Geld auf dem Markt zu leihen. Das liegt auch daran, dass die EU Garantien der Mitgliedstaaten hat, dass diese das Geld zurückzahlen werden. Anleger haben also 27-mal das Versprechen, ihr Geld zurückzubekommen, plus das Versprechen der EU obendrauf. Die EU kommt über den Markt an Geld, das sie im Anschluss auf verschiedene Arten den Mitgliedstaaten zur Verfügung stellt, damit sie die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise ausgleichen können.
Auf verschiedene Arten?
Ja, es wird nämlich Kredite und Zuschüsse geben. Die Kredite, 360 Milliarden, funktionieren so, wie wir es schon eine Weile kennen: Die EU vergibt Kredite an besonders betroffene Länder und diese Länder müssen die Kredite zurückzahlen. Doch um zu verhindern, dass ein Land mit der Rückzahlung der Kredite in ähnliche Schwierigkeiten gerät wie damals Griechenland, werden dieses Mal auch direkte Hilfen gewährt: 390 Milliarden Euro. Dieses Geld wird direkt an Staaten mit Wirtschaftsproblemen ausgezahlt, ohne dass sie es zurückzahlen müssen. Stattdessen haftet die Europäische Union gemeinsam dafür, und zwar im Verhältnis zur Wirtschaftskraft der Mitgliedstaaten.
Deswegen waren es auch so lange, zähe Verhandlungen. Bei dem Gipfel haben sich die sogenannten Sparsamen Fünf, Österreich, die Niederlande, Schweden, Dänemark und Finnland, sehr dagegen gesträubt, dass die gemeinsamen Schulden für Zuschüsse aufgewendet werden.
Ich verstehe noch nicht, warum das so eine große Sache war …
Ich gebe dir ein Beispiel: Ich war einmal mit neun Freunden im Urlaub in Polen. Als wir einkaufen wollten, hat jeder zehn Euro in eine gemeinsame Kasse gegeben, zusammen hatten wir also ein Budget von 100 Euro. Als Jonas dann für 20 Euro Steaks kaufen wollte, fand ich das überhaupt nicht cool. Ich esse kein Fleisch. Und ich fand, unser gemeinsames Budget sollte nur für Dinge ausgegeben werden, die alle mögen und essen. Verstehst du?
Nein.
Mit der EU ist es genauso: Wenn sie gemeinsam Schulden aufnimmt, entscheidet sie auch, was mit diesem Geld passiert. So kann es zum Beispiel sein, dass Geld, für das auch Österreich bürgt, in italienische Olivenaufbauprogramme fließt. Und das, obwohl die österreichische Regierung sich gar nicht vorgenommen hatte, in Oliven zu investieren. Österreich mag keine Oliven. Gemeinsame Schulden für italienische Oliven findet Österreich nicht so cool.
Aha, es geht also um Kontrolle.
Genau! Länder wie Österreich wollen kontrollieren, was Italien mit dem gemeinsamen Geld macht. Deswegen möchte es nur Kredite vergeben, wie das früher in der Eurokrise üblich war. Damals hat die EU Griechenland Geld geliehen und an strenge Auflagen geknüpft. Sie hätte bei Nichteinhaltung die sofortige Rückzahlung der Kredite verlangen können.
Um im Beispiel vom Polenurlaub zu bleiben: Ich hätte zu Jonas sagen können: „Ich gebe dir meine zehn Euro nur, wenn du kein Fleisch kaufst, und falls du es doch tust, musst du mir das Geld zurückgeben.“ So hätte ich mehr Kontrolle behalten, als wenn ich gesagt hätte: „Ich gebe dir meine zehn Euro, aber bitte bitte bitte kaufe kein Fleisch.“
Am Ende geht es also um Kontrolle versus Vertrauen. Wir sind damals im Urlaub alle zusammen einkaufen gegangen, weil wir Angst hatten, dass Jonas von unserem gemeinsamen Geld nur billiges, schlechtes Fleisch kauft – wir haben ihm nicht vertraut. Damals in der Eurokrise war es genauso: Griechenland bekam nur Kredite mit strengen Auflagen, weil man dem Land nicht vertraut hat.
Und diesmal lässt die EU die Länder alleine einkaufen?
Naja, nicht ganz. Die Mitgliedstaaten können quasi vorschlagen, ob sie Fleisch oder nur Obst und Gemüse einkaufen. Ob sie dafür Geld bekommen, entscheidet letztlich der Rat der Europäischen Union. Allerdings reicht dafür diesmal (anders als bei den Griechenland-Krediten) eine Mehrheitsentscheidung. Das heißt, wenn eine Mehrheit der Mitgliedstaaten Fleisch kaufen will, kann die Entscheidung nicht von zwei Vegetarier:innen gestoppt werden.
Und was kostet mich denn der ganze Spaß?
Erstmal noch nichts. Die EU-Staaten werden die gemeinsamen Schulden frühestens mit Ablauf des aktuellen Haushalts, also ab 2027 tilgen. Außerdem werden die Schulden vielleicht sogar mit den Gewinnen aus einer gemeinsamen EU-Steuer getilgt werden, über deren Einführung im Moment aber noch diskutiert wird. Das könnte zum Beispiel eine Digitalsteuer für große Unternehmen oder eine Steuer auf Einwegplastik sein. So oder so ist es aber unwahrscheinlich, dass du etwas von den Rückzahlungen merken wirst.
Moooment. Meintest du nicht, es geht um gemeinsame Schuldenaufnahme? Ihr habt im Urlaub doch gar keine Schulden aufgenommen!
Okay, gut. Du willst also meinen Vergleich kaputt machen. Angenommen, der Polenurlaub hat uns gut gefallen. Sehr gut. So gut, dass wir diesen Polenurlaub zu unserem Beruf machen wollen. Also gründen wir zu zehnt eine „Piroggi GmbH“ und nehmen bei einer Bank einen Kredit auf. Gemeinsam. Jeder bürgt für jeden. Und damit bauen wir einen Freizeitpark. Und obwohl ich Jonas stark im Verdacht habe, dass er insgeheim ein Fleischimperium aufbauen möchte, bin ich bereit, für ihn zu bürgen und zu sagen: Jawoll, wir kriegen das hin, unser Freizeitpark wird knorke und wir können das Geld zurückzahlen.
Dann verstehst du vielleicht, warum über die Höhe der Zuschüsse so lange diskutiert wurde: Wer der gemeinsamen Schuldenaufnahme der EU zustimmt, gibt die Kontrolle darüber ab, was mit dem eigenen Geld passiert. Mehr noch: Er gibt ein Stück der eigenen Wirtschaftspolitik ab. Er leiht sich Geld und muss anderen vertrauen, dass sie das Richtige tun, um das Geld einmal zurückzahlen zu können. Und deswegen geht es um Macht. Die Mitgliedstaaten haben sich ein Stück weit selbst entmachtet.
Das heißt aber nicht, dass jeder tun kann, was er will. Sowohl bei der EU als auch in der Piroggi GmbH muss eine qualifizierte Mehrheit über jeden Vorschlag abstimmen.
Hmm …
Noch entscheidet jeder Mitgliedstaat alleine über seine Wirtschaftspolitik: Deutschland macht seine eigene Wirtschaftspolitik, Deutschland gibt seine eigenen Staatsanleihen aus und setzte jahrelang auf die schwarze Null, machte also relativ wenig Schulden. Andere Länder haben andere Wirtschaftskonzepte, sie setzen mehr auf sogenannte Nachfragepolitik, ihnen fällt es leichter, mit staatlichem Geld die Konjunktur anzukurbeln. Aber: Kein Land in der EU ist eine Insel, und die Geschichte kennen wir ja.
Was willst du mir damit sagen!?
Die Länder der EU sind voneinander abhängig. Ihre Wirtschaften sind miteinander verflochten. Wissenschaftler:innen nennen das „Integration“. Die Staaten können in einem so engen Wirtschaftsverbund nicht einfach machen, was sie wollen. Deswegen versucht Brüssel, sie dazu zu bewegen, ihre Wirtschaftspolitik einander anzunähern. Zum Beispiel gibt die Europäische Kommission vor, wie hoch die Verschuldung eines jeden Mitgliedstaates maximal sein darf. Damit greift sie in die Wirtschaftspolitik der Staaten ein. Die Länder müssen sie an einem Rahmen ausrichten, den die EU ihnen vorgibt.
Ich habe darüber mit dem Politikwissenschaftler Manuel Müller vom Institut für Europäische Politik in Berlin gesprochen. Er sagte mir am Telefon, dass die Zuständigkeit für Wirtschaftspolitik nach und nach von den Staaten an die EU übergehen könnte. Das sei „der nächste naheliegende Schritt.“
Aber ist das jetzt passiert? Entscheidet die EU jetzt über die Wirtschafts- und Konjunkturpolitik der Mitgliedsstaaten?
Ja und Nein. Der Gipfel hat beschlossen, dass die gemeinsame Schuldenaufnahme erst einmal eine einmalige Sache ist. Es geht nur um den Haushaltsplan für die nächsten sieben Jahre, der diesen Wiederaufbaufonds enthält.
Also ist es nicht endgültig.
Nein, ist es nicht. EU-Experte Manuel Müller geht aber davon aus, dass der Wiederaufbaufonds ein Modell für künftige Krisen sein wird. Er sagt: „Wenn einmal etwas europäisiert wurde und dann gut funktioniert, ist es relativ unwahrscheinlich, dass sich das die Nationalstaaten wieder zurückholen.“ Früher, bevor es die EU gab, schloss Deutschland eigene Handelsabkommen mit anderen Staaten ab. Mittlerweile liegt die Zuständigkeit für Handelspolitik allein bei der EU. Kannst du dir vorstellen, dass Deutschland heute alleine ein Handelsabkommen mit Bolivien abschließt?
Nein.
Ich auch nicht, denn dafür ist die EU zuständig. Und jetzt haben die Nationalstaaten einen Teil ihrer Macht an die EU abgegeben. Denn Schuldenaufnahme bedeutet gemeinsame Wirtschaftspolitik. Ein größerer Teil dieser Wirtschaftspolitik findet jetzt gemeinschaftlich statt, in Abstimmung mit den anderen 26 Nationalstaaten. Also geht es darum, auf welcher Ebene Demokratie stattfinden soll: auf nationaler oder europäischer Ebene.
Jetzt gehts auf einmal gleich um die ganze Demokratie?
Absolut. Der Ökonom Dani Rodrik von der Harvard Universität in Cambridge (USA) erklärt in seinem Buch „Das Globalisierungs-Paradox“, dass von den drei Parametern Globalisierung, nationale Selbstbestimmung und Demokratie immer nur zwei gleichzeitig herrschen können. Auch die EU ist mit dem sogenannten „Trilemma der Globalisierung“ konfrontiert: Um die Globalisierung fortzusetzen, müssten entweder der Nationalstaat oder die Demokratie aufgegeben werden, sagt Rodrik.
Was heißt das denn?
Gucken wir mal nach Griechenland zurück: Als das Land damals das Hilfspaket von der EU bekam, war das an so viele Bedingungen geknüpft, dass Griechenland praktisch keine Kontrolle mehr über seine eigene Wirtschaftspolitik hatte. Die Griech:innen konnten zwar eine neue Regierung wählen, und das taten sie auch, aber egal, ob diese Regierung rechts, links, konservativ oder sozialdemokratisch war, sie musste dieselbe Wirtschaftspolitik machen. Wenn man das Trilemma der Globalisierung darauf anwendet, heißt das: Griechenland hatte damals Globalisierung (es war Teil der EU) und einen Nationalstaat (schließlich gab es Wahlen), aber keine Demokratie, zumindest nicht in diesem Punkt: Denn über die entscheidende Frage (Welche Wirtschaftspolitik wollen wir?) konnte nicht abgestimmt werden. Die Griech:innen konnten eine andere Regierung wählen, aber keine andere Wirtschaftspolitik. Denn darüber hatte die EU entschieden.
Das klingt beängstigend.
Ist es auch, irgendwie. Die EU ist in einem ziemlichen Zwischenzustand. Und einigermaßen zerrissen. Manche Staaten wollen ihre nationale Souveränität um jeden Preis behalten. Großbritannien hat aus diesem Grund die EU verlassen. Emmanuel Macron dagegen drängt auf mehr Integration, will also die Demokratie auf europäische Ebene bringen. Der Preis wäre, dass die einzelnen Länder an Macht verlieren.
Was die Europäische Union angeht, sagt Dani Rodrik schon 2015, dass man sich in dem Trilemma für Globalisierung und Demokratie hätte entscheiden sollen. Eine „föderalisierte“ EU, das heißt eine Union, in der Parlament und Kommission mehr Macht hätten und die einzelnen Staaten weniger, hätte die Eurokrise besser bewältigt. Das erklärte er im Gespräch mit dem US-amerikanischen Ökonomen Tyler Cowen.
Wow, das war jetzt alles ziemlich viel auf einmal.
Ja, das stimmt. Drei Dinge solltest du dir merken:
- Mit der gemeinsamen Schuldenaufnahme macht die EU das erste Mal in ihrer Geschichte Konjunkturpolitik. Das ist beeindruckend, denn diese Aufgabe lag bisher eigentlich in den Händen der Nationalstaaten. Sie haben damit also eingewilligt, ein Stück ihrer Souveränität an die EU abzugeben. Es hat damit eine Verschiebung gegeben: Die EU ist etwas mächtiger, die Staaten etwas weniger mächtig geworden.
- Außerdem wurde ein zentraler Konflikt gelöst, der zehn Jahre diskutiert worden ist: Sollen wir uns gemeinsam verschulden?
- Ob die gemeinsame Konjunkturpolitik einmalig bleibt oder zur Norm wird, wird sich zeigen. Das hat auch mit der Frage zu tun, wo in Zukunft Demokratie stattfinden wird: In den Nationalstaaten oder auf EU-Ebene? Es ist viel zu früh, das zu beantworten. Fest steht aber, dass die Entwicklung, die die EU in den letzten Wochen gemacht hat, ziemlich historisch ist.
Redaktion: Philipp Daum und Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel