Gedanken von Krautreporter-Mitgliedern zu Auschwitz: „Ich habe nie auch nur annähernd eine Antwort bekommen“
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Gedanken von Krautreporter-Mitgliedern zu Auschwitz: „Ich habe nie auch nur annähernd eine Antwort bekommen“

Zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz veröffentlichten wir diese Woche Protokolle von fünf jungen Menschen – die Perspektive der Ur-Enkel. Krautreporter-Mitglieder unterschiedlicher Generationen haben sich nun ebenfalls zu Wort gemeldet.

Profilbild von Alexander von Streit
Herausgeber, München

Es sind berührende Texte, die René Bosch und Rico Grimm in ihrem Beitrag 70 Jahre Auschwitz-Befreiung - Wie die Jungen der Judenverfolgung gedenken“ gesammelt haben: Ein 16-Jähriger, der mit Legosteinen eine Chronik der Nazi-Zeit nachbaute, eine 18-Jährige, die gerade einen Freiwilligendienst in Oswiecim (Auschwitz) absolviert, eine 29-Jährige, deren Urgroßmutter in Auschwitz starb, eine 20-Jährige, die in Oswiecim aufwuchs. Und ein 24-Jähriger, der Studies in Holocaust and Totalitarian Systems in Krakau studiert.

Danach aber forderten René und Rico die Krautreporter-Mitglieder auf, ihre eigenen Gedanken unter dem Beitrag aufzuschreiben. Sie selbst machten den Anfang.


René Bosch, 25 Jahre, Deutschland, zurzeit in Auschwitz bei den Gedenkveranstaltungen zur 70-jährigen Befreiung des Konzentrationslagers.

„Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ Dieser Satz von George Santayana, der unter anderem in einer Baracke des Konzentrationslagers Auschwitz ausgestellt ist, gibt wenigstens Aufschluss darüber, warum wir uns erinnern sollten. Die schiere Zahl, beinahe 1,2 Millionen ermordete Menschen, war für mich nicht vorstellbar, und sie ist es heute noch nicht. Doch wer versteht, dass hier nicht eine anonyme Masse vernichtet wurde, sondern jedes Opfer ein einzelnes, unerträgliches Leid durchleben musste, dem wird das Unvorstellbare wenigstens deutlicher. Ein Bild dafür, das mir seit meinem Auschwitz-Besuch diese Woche nicht mehr aus dem Kopf geht, ist ein roter, filigraner High-Heel in einer unendlich scheinenden Masse von schwarzen Stiefeln: Ein Zeichen der Unbedarftheit der Opfer, die mit ihrer Unschuld dem maschinellen Terror nichts entgegenzusetzen hatten. Wir sind die Zeitzeugen der Zeitzeugen, vielleicht die Letzten, die beteiligte Personen noch mit Vornamen kennen. Diese Verantwortung bleibt uns.


Rico Grimm, 28 Jahre, Deutschland, bin in meiner journalistischen Karriere mehrmals mit dem Thema in Berührung gekommen.

Keine Revolution wäre komplett ohne einen Sturm auf die Archive. Deswegen ist es so wichtig, die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten, daran, dass dieses Verbrechen aus der Mitte Deutschlands und damit auch aus der Mitte der europäischen Zivilisation entsprungen ist. Ich ziehe das nicht an den Haaren herbei – die Revision ist in manchen Teilen der deutschen Gesellschaft in vollem Gange. Schaut nur mal auf die Kommentare zum aktuellen Spiegel-Titel, in dem Zeitzeugen zu Wort kommen. Ich muss unseren fünf Protagonisten Recht geben: Das Gespräch mit den Zeitzeugen ist sehr wichtig, der beste Weg, um die Erinnerung wachzuhalten. Ich traf mal einen Auschwitz-Überlebenden in Israel, dieses Treffen werde ich nie wieder vergessen. Mein Deutsch-Lehrer hat einmal gesagt: „Sie tragen keine Schuld, aber eine Verantwortung.“ Ich hoffe, dieser Verantwortung gerecht zu werden, in dem ich das Thema weiterhin journalistisch begleite und die Archive fülle.


Nach den Kommentaren von René und Rico meldeten sich zahlreiche Krautreporter-Mitglieder zu Wort und schrieben die Geschichte weiter.


Sami Lintula, 42 , DDR sozialisiert.

Atzeexpedition (Jugendlager von Atze, eine Jugendzeitung in der DDR) mit zehn/elf Jahren. Dabei haben wir einen Überlebenden vom KZ Mittelbau-Dora und eine Überlebende aus Theresienstadt besucht. Für uns Jungs und Mädchen war das eigentlich auch der erste intensive Kontakt mit dem Zweiten Weltkrieg und der Judenverfolgung, der Verfolgung von „Untermenschen“. Das war zumindest für mich prägend vor allem dahingehend, dass die Frau zum Zeitpunkt ihres KZ-Aufenthalts ungefähr so alt war wie wir.

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Das erste Mal ein KZ, Buchenwald, besucht habe ich in der siebten Klasse zur Vorbereitung der FDJ-Aufnahme. Da ging es aber hauptsächlich um die dort einsässigen Widerstandskämpfer. In der Schule hatten wir das Thema so in der sechsten Klasse. Dies jedoch eher als Gesamtthema Hitlerfaschismus, Massenverfolgung, KZ, Kriegsgefangenenlager. Woran ich mich noch erinnere, dass ich mit zwei oder drei Mitschülern eine Wandzeitung zum KZ machen musste. Als gestalterischen Weg hatten wir die Buchstaben von „Konzentrationslager“ mit den passenden Namen von KZs erweitert und da die Toten/die Nationalität/Winkel dazugeschrieben. Erst da fiel auf, wie viele KZs und dort Ermordete es gab. Wenn einem die Lehrerin da nur ein paar Zahlen an den Kopf wirft, ist das eher wie „schönes Wetter heute und sonst so?“. Das Selbsterarbeiten und Visualisieren hatte eine ganz andere Wirkung. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt haben wir auch Anne Frank und „Nackt unter Wölfen“ gelesen. Da war ich über das Alter von Anne Frank und den Verrat entsetzt. Was wir in der, ich glaube achten Klasse, noch im Unterricht hatten, war der industrielle Überbau, der bei den KZs eine große Rolle spielte, IG-Farben , Göringwerke etc., und dass solche Menschen wie Hanns-Martin Schleyer in der Bundesrepublik ohne Probleme trotz ihrer Verbrechen einfach weitermachen - oder wie Fritz Ries zum Förderer von Helmut Kohl - werden konnten. Das fand und finde ich immer noch unglaublich: Was Menschen Menschen antun können und dafür noch nicht einmal bestraft werden.

Mit 22 oder 23 habe ich dann noch mit dem Jugendhaus eine Projektfahrt mit „Aktion Sühnezeichen“ nach Oswiecim gemacht. Das war wirklich bedrückend und heftig. Die Haare, die Schuhe, das Krematorium. Da sind Gleichaltrige einfach mal so vergast worden…

Ich kann nur jedem Nochnichtganznazi eine Reise nach Auschwitz empfehlen. Danach könnte doch bei einigen ein Umdenken stattfinden. Ich finde, das wichtigste Mittel zum Gedenken an die Judenverfolgung ist tatsächlich ein Besuch in einem Vernichtungslager und den Stolpersteinen. Nur da kann man wirklich erahnen, was damals passiert ist. Die Konfrontation mit den gleichaltrigen ermordeten Kindern und Jugendlichen war für mich heftig. Für mich speziell braucht es da keinen speziellen Gedenktag. Da, wenn man sich halbwegs politisch betätigt, man immer wieder darüber stolpert.


Jochen Siegel, 66 Jahre

Ich weiß nicht, wie man richtig gedenkt, wie man richtig trauert. Ich habe schon alles erlebt zwischen Selbstkasteiung und Schuldverlagerung. Ich bin nicht schuldig am Holocaust und auch niemand aus meiner Familie ist das gewesen. Aber die Trauer um all diese Leben, die Augen der Menschen, die wenig später im Gas sterben sollten, die unglaubliche industrielle Planung eines Massenmordes, wie soll das je vergessen sein?

Ich habe Zeiten erlebt, in denen niemand darüber sprach, das war in den 50er und 60er Jahren - zu meiner Schulzeit. Keiner wollte mehr davon wissen oder darüber reden. Niemand den Krieg beschreiben und das, was in ihm - einem selber auch - passiert war. Und dann, als alles wieder aufbrach und man sich neu verhandeln musste in den Bruchstücken: Was war mit deiner Familie? Wo war dein Vater, deine Mutter? Meine Frage war immer die nach dem Warum. Ich habe nie auch nur annähernd eine Antwort bekommen. Und vielleicht ist das gut so. Und alle die, die nachfolgen, werden die ihnen entsprechende Art und Weise finden, mit dem Unbeschreibbaren umzugehen. Was das sein wird und wie, das weiß ich nicht. Nur darf die Flamme nie erlöschen.

Die Toten klagen die Nachgeborenen nicht an. Aber sie haben ein Recht darauf, wahrgenommen zu werden.


Evelyn Kuttig, 66 Jahre, aufgewachsen in West-Berlin. Das war die Zeit der Entnazifizierung, und diese prägte auch unseren Schulunterricht.

Ich erinnere nicht mehr, wie alt und in welcher Klasse ich genau war, als uns im Bahnhof Zoo Dokumentarfilme über die Befreiung von Auschwitz gezeigt wurden. Unter anderem sahen wir, wie Leichenberge mit Baggern zusammengeschaufelt wurden. Umgeben waren wir von sehr grausamen Ausstellungsstücken: Lampenschirme aus Menschenhaut, Seifenstücke aus Menschenknochen und gewebte Säcke aus Menschenhaaren … Ich konnte das Gesehene nicht mit den mich umgebenden liebevollen Menschen überein kriegen.

Vom Krieg als Geschehen wussten wir. Die Ruinen ringsum, in denen wir spielten, waren beinahe so alltäglich wie ganz und gar entstellte Kriegsversehrte. Wir wurden erzogen, diese „armen Menschen“ nicht anzustarren. Auch die Gedenkstätte Plötzensee, die wir in der Mittelschule besuchten, hatte noch die Fleischerhaken, an denen man die Widerstandskämpfer am Kinn aufgespießt aufgehängt hatte. Wir lasen „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert. Vor wenigen Jahren besuchte ich diese Gedenkstätte wieder und war erschüttert darüber, wie steril sie jetzt hergerichtet ist!

Die Grausamkeiten der Nazi-Zeit wurden uns einerseits anschaulich vermittelt. Wir wurden nicht zum Fragen aufgefordert und waren auch sprachlos. Andererseits wurde mit uns Kindern nichts weiter über den Krieg und die Zeit davor besprochen, eben nur, dass es ihn gegeben hatte.

Ich hatte damals einen sich oft wiederholenden Traum: Mitten in einer Ruine öffnete sich eine Holzpforte, und ich befand mich in einem sonnendurchfluteten, bienensummenden, von Vogelgezwitscher durchdrungenen, duftenden Blumengarten … Mein Zufluchtsort. Erst als Erwachsene fand ich so etwas wie Erklärungen bei Kurt Tucholsky, Hannah Ahrendt, Theodor W. Adorno und anderen. Trotzdem begreife ich das ermöglichte Ausmaß dieser ungeheuren bürokratisierten Grausamkeit, mit der Menschen fabrikmäßig abgeschlachtet wurden, bis heute nicht.

Es bleibt für alle Zeiten unabdingbar wichtig, dieses Geschehen mit seinem historischen Kontext nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, damit so etwas wie „Auschwitz nicht noch einmal sei“ (Adorno, Erziehung nach Auschwitz).


Matthias Tomczak, 73 Jahre, aufgewachsen in Hamburg. 1977 bin ich als Opfer des Radikalenerlasses entlassen worden und erst nach England, dann 1979 nach Australien gegangen.

Meine Eltern waren in der Bekennenden Kirche, haben aber mit mir nie über die Hitlerzeit geredet. Meine Frau verlor ihre Eltern im Krieg und wuchs bei einer Tante auf, deren Mann Polizeipräsident von Polen war und nach dem Krieg in Polen hingerichtet wurde. Obwohl das keine direkte Verwandtschaft war, belastet sie das heute noch so, dass sie, um ihre geistige Stabilität zu bewahren, nichts mehr über Judenvernichtung lesen will.

Ich glaube, die Berichte von Zeitzeugen sind wichtig, beschreiben aber nur einen Aspekt der Vernichtungsmaschinerie. Um das ganz zu erfassen, sollten deutsche Schüler in der Schule Hanna Ahrendts „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ lesen. Wer lieber Comics liest, dem empfehle ich Art Spiegelmans „Maus. Die Geschichte eines Überlebenden“. Außerdem bin ich dafür, das Wort Holocaust aus dem deutschen Sprachraum zu streichen und ruhig weiter von JudenVERNICHTUNG und VölkerMORD zu reden. Das ist näher an der Aktion, die ja tatsächlich stattgefunden hat.


Christian Bickel, 72 Jahre, aufgewachsen in Wiesbaden, Student in Mainz.

Ich erinnere mich noch gut an die Podiumsdiskussionen 1967 ff., wo man sich schämte Deutscher zu sein und die schwarz-rot-goldene Fahne nicht zu zeigen wagte. Ich dachte, wie naiv - ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass sich da noch 100 Jahre später jemand schämt? Es waren keine 100 Jahre, es genügte die Fußballweltmeisterschaft für ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer. Hiroshima - ich habe am letzten Gedenken teilgenommen - in Reykjavík. Knapp 100 Menschen am Weiher, wo in Papierbötchen Teelichter auf den Weiher geschickt wurden und einer der letzten Überlebenden von dem Greuel berichtete. Jetzt wird verzweifelt gegen das Vergessen von Auschwitz gekämpft. In 100 Jahren wird das eine Seite im Geschichtsbuch sein - neben den Greueln des 30-jährigen Krieges - Geschichtsablagerungen, zusammengepresst von neuen Ereignissen. Wir sehen es an den Juden in Israel: Zum Entsetzen der wenigen Überlebenden haben die Jugendlichen bereits heute keine Scheu mehr, in das Land der Schoah zu gehen und dort eine Arbeit aufzunehmen. Sobald kein Mensch mehr lebt, der die Ereignisse erlebt hat oder einen persönlich kennt, der sie erlebt hat - also nach drei Generationen - wird unweigerlich die Erosion der Gedenkkultur einsetzen und nur noch zu runden Jubiläen - siehe Erster Weltkrieg - kurz aufflackern und irgendwann auch da erlöschen.


Sandro Eiler, 24, und schockiert, dass viele sagen, dass uns das „Dritte Reich“ heute nichts mehr angehen würde.

Im Rahmen von Projekttagen vom Netzwerk für Demokratie und Courage war ich heute an einer Schule unterwegs und habe mit den Schülerinnen menschenverachtende Einstellungen und Nazis als Thema gehabt. Mir fällt auf, dass zwar das Wissen über die Nazizeit da ist, aber oft Empathie für ausgegrenzte Menschen fehlt. Oft wird außerdem Schuld mit Verantwortung verwechselt. Ich bin (ängstlich) gespannt, wie es weitergeht, jetzt wo es ein neues gestärktes Selbstbewusstsein gibt für Nazis und all jene, die den Holocaust/Völkermord herunterspielen und mit menschenverachtender Ideologie auf die Straße gehen. Ich würde gern noch viel mehr von Zeitzeuginnen lernen, die Gelegenheit ergibt sich aber leider sehr selten.


Eva Wochner, ich bin 55 und fasziniert, wie sich unsere Geschichte vor unseren Augen entwickelt.

Ich gehören zur zweiten Generation. Nun gibt es die Generation der Enkel, die einen neuen, anderen Zugang zu dieser Geschichte hat. Es ist gut, auch diese jungen Leute zu Wort kommen zu lassen. Sie haben einen anderen Zugang, weniger belastet. Douglas Wolfsberger hat den wunderschönen Film über Brundibar gemacht: „Nie wieder Theresienstadt“, in dem ebenfalls diese Generation zu Wort kommt. Rührend ist das Zusammentreffen einer blutjungen Amateurschauspielern, der Hauptdarstellerin der Aufführung der Zwiefachen an der Berliner Schaubühne, mit Greta Klingsberg, der Hauptdarstellerin der Uraufführung. Noch bei Arte bis Sonntag im Netz. Die Langfassung gibt es hoffentlich bald auf DVD.