Warst du schon einmal in einem Yogastudio? Wenn du Glück hast, ist es der friedlichste Ort der Welt. Leise schnaubende Menschen dehnen ihre Körper zu den Anweisungen einer sanften Stimme. Es wird meditiert und „Om“ gesungen. Häufig stehen Blumen herum. Wenn die Stunde gut war, gehst du danach wie auf Luftkissen in die Welt da draußen.
Offenbar kann man aber auch direkt vom Yogastudio zu einer Veranstaltung schweben, die Menschen rücksichtslos in Gefahr bringt. Bei Corona-Demos wie zuletzt am Wochenende in Berlin sind immer wieder Menschen zu sehen, die Yoga machen und meditierend am Boden sitzen. Gemeinsam mit sympathischen Öko-Opas schwenken sie Regenbogenfahnen, halten Bilder von Gandhi hoch und Plakate mit Friedenssymbolen. Dass nebenan Reichsfahnen umhergetragen werden, kann ihnen dabei nicht entgehen.
Mich treibt das besonders um, weil ich einen möglicherweise naiven Gedanken dazu habe: Von Nazis erwarte ich ja nichts Besseres, aber von Menschen, die sich selbst als „spirituell“ bezeichnen, schon.
Es ist ein Gemisch aus Liebe, Licht und Egoismus
Es nagt auch deshalb an mir, weil Bioläden, Meditationskissen und Yogamatten auch mein Territorium sind, wie ich in diesem Text beschrieben habe. Weil die spirituelle Lifestyle-Szene eine Affinität zu Schwurbeleien und alternativen Realitäten hat, sah ich in den letzten Monaten vielleicht mehr Menschen als der Durchschnitt in meinem Facebook-Feed in den Wahnsinn kippen. Ich nenne es das „Pandemie-Syndrom“, in Anlehnung an das berühmte Jerusalem-Syndrom, das manche Touristen befällt, wenn sie die heilige Stadt betreten. Plötzlich halten sie sich für eine Figur aus der Bibel, fangen an zu predigen und wollen die Welt retten. Sieht noch jemand außer mir diese Parallelen? Und weiß jemand, was dagegen hilft?
Natürlich ist mir klar, dass die heute beliebte Lifestyle-Spiritualität oft ein zutiefst egoistisches Projekt ist. Ich verallgemeinere hier stark eine sehr vielfältige Szene, aber eine Tendenz ist zu sehen: Oft wird das, was der Kern jeder säkularen und religiösen Spiritualität ist, die Suche nach etwas, das größer ist als man selbst, zu einem Projekt der Selbstverwirklichung gemacht. Der Zusammenhang mit einem größeren Ganzen wird dann zwar gerne gespürt, wenn man sich bei einem Kurkuma-Latte tief in die Augen sehen kann, nicht aber, wenn es darum geht, dieses schöne Gefühl in unbequemes Handeln zu übersetzen.
Ein Beispiel: Eine mir eigentlich sympathische Frau, die oft sanfte Dinge über Mitgefühl und Verbindung schreibt und sich sicher als „spirituell“ bezeichnen würde, erklärte auf Facebook, sie glaube nicht, dass sie persönlich ohne Corona-Impfung sterben werde. Deswegen sollten sich doch die Leute impfen lassen, die Angst hätten. Manchmal möchte ich, wenn ich so etwas lese, wie mein Kollege Bent Freiwald meinen Laptop aus dem Fenster werfen. Stattdessen übe ich meine entspannendste Yoga-Atmung und versuche zu verstehen, wie es möglich ist, dass intelligente und gebildete Menschen ein simples Konzept wie Herdenschutz nicht verstehen (meine Kollegin Silke Jäger erklärt es in diesem Artikel sehr gut).
KR-Leser Gabriel schrieb mir schon Anfang Juni über seine Erfahrungen mit dem, was er die „Selbsterfahrungsszene“ nennt: „Für mich erschreckend ist, dass zur Zeit Freunde und Bekannte sich von einer Seite zeigen, die ich ihnen nicht zugetraut hätte. Ich akzeptiere, auch wenn ich es nicht gutheiße, dass man sich oder seine Kinder nicht impfen lassen will, aber muss mit Entsetzen feststellen, dass Freunde aus der Impf-Empfehlung einen Impfzwang herbeifantasieren und mich für ein bisschen dumm oder staatlich indoktriniert halten, wenn ich Gegenargumente bringe.“
Biomöhren raspeln und neben Reichsfahnen demonstrieren
Von Egoismus beim Impfen bis zu Corona-Demos ist es aber noch ein großer Schritt. Wie also kann es sein, dass Menschen, die an anderen Tagen wahrscheinlich Biomöhren raspeln und über Licht und Liebe reden, bei so etwas mitmachen? Wieso stolpern sie nicht über ihre eigenen Widersprüche, wenn sie mit ihrer Friedensfahne an einer Gruppe Reichsbürger vorbeiziehen? Und wie passt es zusammen, dass sie „den Medien“ allgemein Lügen vorwerfen, aber völlig unkritisch irgendwelche Informationen aus anderen Quellen posten? Eine weitere Bekannte, die Corona-Leugnerin ist, wollte auf Facebook die mehr als eine Million Menschen zeigen, die ihrer Meinung nach bei den Protesten in Berlin aufgelaufen waren, denn selbstverständlich verschwieg die Presse ja die wahren Zahlen. Dafür teilte sie ein Foto, das ihr irgendwer als angebliches Beweisfoto geschickt hatte. Dumm nur, dass es ein Foto einer Loveparade in den 1990-ern war.
Abgesehen davon, dass das in Sachen Medienkompetenz ein bisschen traurig ist, müssen Menschen wie Mayra Ramirez es als unfassbaren Hohn empfinden. Ramirez ist die erste US-Patientin, bei der wegen einer Covid-19-Erkrankung im Alter von 28 Jahren eine doppelte Lungentransplantation vorgenommen werden musste (wer solche Bilder aushält, kann in diesem Artikel eine von Covid-19 zerfressene Lunge sehen).
Conspirituality – Warum Lifestyle-Spiritualität und Verschwörungserzählungen zusammenpassen
Auf der Suche nach Antworten bin ich immerhin auf einen Begriff gestoßen, der mir sehr geholfen hat, das Problem beim Namen zu nennen: Conspirituality. Es setzt sich aus den englischen Worten „Conspiracy“ (Verschwörung) und „Spirituality“ (Spiritualität ) zusammen und beschreibt ein Phänomen, das es nicht erst seit Corona gibt. Wie bei vielen Erscheinungen unserer Zeit war es auch hier das Internet, das alles verstärkt hat.
Einer der bisher wenigen wissenschaftlichen Artikel zu diesem Thema beschrieb Conspiritualty schon 2011 als schnell wachsende Internetbewegung, in der sich sich zwei scheinbar gegensätzliche Ströme vereinen:
„Sie bietet eine breite politisch-spirituelle Philosophie, die auf zwei Kernüberzeugungen beruht, von denen die erste traditionell zur Verschwörungstheorie gehört und die zweite im New Age verwurzelt ist:
- Eine geheime Gruppe kontrolliert heimlich die politische und soziale Ordnung oder versucht, sie zu kontrollieren.
- Die Menschheit befindet sich in einem vermeintlichen Paradigmenwechsel des Bewusstseins. Die Anhänger glauben, dass die beste Strategie im Umgang mit der Bedrohung durch eine totalitäre ‚neue Weltordnung‘ darin besteht, in Übereinstimmung mit einer erwachten Weltsicht nach einem neuen Paradigma zu handeln.“
Es ist erstaunlich, wie sehr diese Beschreibung zu den Sprüchen passt, die man auf Corona-Demos lesen kann. Mir erklärt sie die verwirrende Tatsache, dass Nazis und Hippies in diesen Tagen quasi händchenhaltend vor dem Brandenburger Tor stehen. Es erklärt auch, dass manche Anhänger einer angeblich friedliebenden Szene in einer Situation wie der Pandemie in gefährliches Verhalten und eine hochaggressive Sprache kippen können.
„Wachsame“ Menschen können paranoid werden
In einem Blog, den ich hier nicht beim Namen nennen will, der aber das Wort „Frieden“ im Titel trägt, las ich zu Corona den Satz: „WER JETZT NICHT ENDLICH DEN MUND AUFMACHT UND PROTESTIERT, DARF SICH NICHT MEHR ZUR MENSCHHEIT ZÄHLEN!“ Daneben gab es Verkaufslinks für Jutetaschen und Mousepads mit der in der spirituellen Szene beliebten „Blume des Lebens“.
Die Conspirituality-Definition erklärt übrigens auch, warum Corona-Leugner gerne Hashtags wie #stayawake oder #awakening verwenden. Sie denken vielleicht an die neue Weltordnung, verweisen aber auch auf den historischen Buddha. Wörtlich bedeutet dessen Bezeichnung nämlich „der Erwachte“. Der Erzählung nach schaffte der Mann es durch innere Versenkung, frei von Hass und Begierden zu werden und die Einheit aller Dinge zu sehen. Mit dem wütenden Getöse von Verschwörungserzählern hat das natürlich so viel zu tun wie ein Glas Wasser mit einem verschimmelten Grünkohl-Smoothie.
In der Psychologie allerdings kennt man einen „wachsamen“ Persönlichkeitsstil, der sich im Extremfall als paranoide Persönlichkeitsstruktur manifestiert. Ein typisches Merkmal für solche Menschen: Sie sehen Zusammenhänge, wo keine sind.
Das Jerusalem-Syndrom geht nach ein paar Tagen meistens von selbst vorbei, wenn man die Betroffenenen aus der Stadt holt. Das ist mit der Pandemie ein bisschen schwierig. Umso mehr Hoffnung geben mir Menschen wie KR-Leser Gabriel, der sagt, dass er seine Freund:innen nicht aufgeben wird. „Ich werde weiter versuchen, sie darauf aufmerksam zu machen, wie gefährlich ein geschlossenes Weltbild sein kann und mit welchen Kräften sie sich gemein machen, wenn sie jetzt ins Horn der Corona-Leugner tuten. Ich hoffe, diese Freunde und Bekannten nicht zu verlieren.“
Redaktion und Fotoredaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert