Er war ein sexistischer, homophober Rassist – so beschreibt Ibram X. Kendi sich selbst. Er ist schonungslos, was das Verhalten seines alten Ichs angeht. In seinem Buch „How to Be an Antiracist“ erklärt er, auf wie vielen Ebenen Rassismus stattfindet – anhand von Episoden aus seinem eigenen Leben.
Episoden wie dieser: Der 17. Januar 2000. Voller Überzeugung wettert der 17-jährige Ibram H. Rogers gegen die schwarze Jugend: „Sie denken, es ist okay, wenn sie diejenigen sind, die in unserer Gesellschaft am meisten gefürchtet werden.“ Rogers hält eine Rede bei einer prunkvollen Veranstaltung zu Ehren von Martin Luther King. Was wäre Kings Botschaft für das neue Jahrtausend? Das war die Frage, die Rogers bei einem Schulwettbewerb beantwortete. Er gewann und durfte seine Antwort an diesem Januartag vor 3.000 Menschen vortragen.
Die Erinnerung an seine Rede ist für ihn heute ein Albtraum – gewissermaßen der Negativfilm von Kings „I Have a Dream“-Rede von 1963. Die Botschaft seiner eigenen Rede, stellt Kendi fest, hätte King gedemütigt:
„Eine rassistische Kultur hatte mir die Munition gereicht, um auf schwarze Menschen zu schießen, um auf mich selbst zu schießen, und ich nahm sie und benutzte sie. Verinnerlichter Rassismus ist das wahre Verbrechen von Schwarzen an Schwarzen.“
Heute heißt Ibram H. Rogers anders. Als Student änderte er seinen zweiten Vornamen von Henry in Xolani, mit der Hochzeit nahmen seine Frau Sadiqa und er den neuen Nachnamen Kendi an, der laut dem US-Magazin The New Yorker in der kenianischen Sprache Meru „der/die Geliebte“ bedeutet.
„How to Be Antiracist“ ist ein Buch, durch das sich viele Definitionen und Referenzen ziehen. Man merkt deutlich, dass Kendi als Wissenschaftler im Bereich Afroamerikanische Studien arbeitet. Aber seine Ehrlichkeit sich selbst und seinen Leser:innen gegenüber hat mich beeindruckt. Die vielen persönlichen Beispiele haben mir gezeigt, wie tief Rassismus in unser aller Leben verankert ist. Kendi spielt dabei aber auch mit einer völlig neuen Ansicht, die ich bisher in Bezug auf Rassismus noch nicht kannte.
Es reicht nicht, nicht rassistisch zu sein
Ausschlaggebend ist für Kendi nämlich nicht, dass einzelne Menschen sich rassistisch verhalten, sondern dass die gesamte Gesellschaft auf rassistischer Gesetzgebung aufgebaut ist. Deswegen müsse Antirassismus vor allem daran arbeiten, die Politik zu verändern, die Ungleichheiten zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen zementiert. Erst dann könne sich auch das Verhalten einzelner Menschen verändern.
Er greift ein Zitat der schwarzen Freiheitskämpferin Angela Davis auf, die einst sagte (wie übrigens auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kürzlich): „In einer rassistischen Gesellschaft reicht es nicht, nicht rassistisch zu sein, wir müssen antirassistisch sein.“ Wenn weiße Menschen also darauf beharren, nicht rassistisch zu sein, bedeute das wenig (zumal unter anderem auch US-Präsident Donald Trump nach seiner „Shithole Countries“-Äußerung und der Neonazi Richard Spencer beteuern, „nicht rassistisch“ zu sein).
Die Behauptung, nicht rassistisch zu sein, beansprucht Neutralität für sich. Es gibt aber keine Neutralität im Kampf gegen Rassismus, schreibt Kendi. Das Gegenteil von „rassistisch“ ist ihm zufolge nicht „nicht rassistisch“, sondern „antirassistisch“. Der Unterschied liegt darin, dass Menschen, die sich für „nicht rassistisch“ halten, trotzdem nichts gegen die existierenden Probleme tun. Und das bedeutet im Klartext: Sie helfen dabei, dass sich vorherrschende Ungleichheiten verfestigen – und tragen nichts dazu bei, dass es weniger Rassismus in der Welt gibt. Die Bezeichnung „rassistisch“ ist nicht wertend, betont Kendi:
„Es ist nicht das schlimmste Wort in der englischen Sprache, es ist keine Verleumdung. Es ist beschreibend, und der einzige Weg, Rassismus loszuwerden, ist, ihn ständig zu identifizieren und beschreiben – und dann zu zerlegen. (…)“
„Die gute Nachricht ist, dass rassistisch und antirassistisch keine festen Identitäten sind. Wir können uns in einem Moment rassistisch verhalten und im nächsten antirassistisch. Was wir über Bevölkerungsgruppen sagen, was wir in Bezug auf Bevölkerungsgruppen tun, in jedem Moment, bestimmt, was – nicht wer – wir sind.“
Der einzelne Mensch steht nicht für eine gesamte Bevölkerungsgruppe
Unter Rassismus versteht Kendi nicht nur, dass Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe verschiedenen Bevölkerungsgruppen zugeordnet werden, sondern dass diese Gruppen als unterschiedlich kultiviert und entwickelt wahrgenommen werden. Schwarze Menschen werden zum Beispiel häufig als stärker, athletischer, aber auch dümmer und gewalttätiger wahrgenommen als etwa Weiße oder Asiat:innen. Dabei stimmen diese Vorurteile nicht. Es liegt zum Beispiel an fehlenden Geldern für Schulen in Bezirken, in denen vor allem schwarze Familien leben, dass die Schüler:innen dort im Schnitt schlechter abschneiden als in mehrheitlich weißen Bezirken.
Ibram X. Kendi selbst war ein eher unterdurchschnittlicher Schüler. Unmotiviert, abgelenkt und undiszipliniert, wie er selbst schreibt. Aber sollte deshalb nicht als schlechter schwarzer Schüler abgestempelt werden – genauso wenig wie ein unmotivierter weißer Schüler für alle Weißen steht.
In mehrheitlich weißen Ländern wie den USA wird die weiße Bevölkerung als „normal“ wahrgenommen, Bevölkerungsgruppen wie Schwarze, Latinos und Latinas, Ureinwohner:innen und Asiat:innen hingegen als das „andere“. Wenn eine einzelne Person von ihnen sich auffällig verhält, wird das als typisch für die Gruppe wahrgenommen. Wenn ein:e einzelne:r Weiße:r sich daneben benimmt, ist das hingegen nur sein oder ihr individuelles Verhalten. Durch ständige Wiederholung haben das nicht nur Weiße, sondern auch Schwarze, Latinos und Latinas, Ureinwohner:innen und Asiat:innen verinnerlicht. Kendi beschreibt ein Date mit seiner späteren Frau Sadiqa:
„Wir aßen am Fenster in Buddakan, einem Asian Fusion Restaurant in Old City, Philadelphia. An der gegenüberliegenden Wand stand eine riesige goldene Buddha-Statue auf einer winzigen Bühne, fast auf Tischhöhe, vor einem roten Hintergrund, der in der Mitte ins Schwarze überlief. Augen geschlossen. Hände gefaltet. In Frieden. Niemanden störend, auch nicht Sadiqa. Aber die Statue zog einen mittelalten, braunhaarigen, übergewichtigen weißen Typ an. Eindeutig betrunken kletterte er auf die kleine Bühne und begann, Buddha zu begrapschen, vor seinen lachenden betrunkenen Freunden an einem nahe stehenden Tisch. Ich hatte vor langer Zeit gelernt, die Kapriolen von betrunkenen Weißen auszublenden, die Dinge taten, für die ein Schwarzer festgenommen werden könnte. Harmloser weißer Spaß ist schwarze Gesetzlosigkeit.
Sein lautes Lachen zog Sadiqas Blick auf sich. ‚Oh mein Gott‘, sagte sie leise. ‚Was macht dieser Typ?‘
Sie drehte sich zurück zu ihrem Teller, nahm einen Bissen und blickte hoch, als sie herunterschluckte. ‚Wenigstens ist er nicht schwarz.‘
Ich war erstaunt, aber erkannte auch sofort mich selbst – meine eigenen Gedanken – in Sadiqas Gesicht.
‚Wie würdest du dich fühlen, wenn er schwarz wäre?‘, fragte ich sie, und mich selbst.
‚Ich würde mich richtig schämen‘, sagte sie und sie sprach für mich und so viele andere von uns, die daran glaubten, dass wir als gute Beispiele agieren mussten. ‚Weil wir niemanden brauchen, der uns schlecht aussehen lässt.‘
‚Vor Weißen?‘, fragte ich sie.
‚Ja. Es führt dazu, dass sie auf uns herabblicken. Es macht sie rassistischer.‘
Wir dachten auf einer falschen Skala, von mehr rassistisch über weniger rassistisch zu nicht rassistisch. Wir dachten, gutes schwarzes Verhalten mache Weiße weniger rassistisch, obwohl unsere Erfahrung uns zeigte, dass das normalerweise nicht so war.“
Im Laufe seines Buches nennt Kendi viele Beispiele, in denen das nicht geklappt hat. Er erzählt von Schwarzen, die gesellschaftlich aufgestiegen waren, aber die rassistischen Strukturen der Gesellschaft aufrecht erhielten – aus Eigennutz oder weil sie sie selbst so sehr verinnerlicht hatten. Auch das ist eine sehr ehrliche Herangehensweise: Kendi nimmt niemanden von Rassismus aus. Jeder, der dazu beiträgt, den gesellschaftlichen Rassismus aufrechtzuerhalten, handelt demnach rassistisch.
Und dabei macht er auch klar: Diese Struktur schadet nicht nur Schwarzen, Latinos und Latinas, Ureinwohner:innen und Asiat:innen. Sie schadet auch vielen Weißen. Was Kendi als rassistische Gesetze bezeichnet, sind nämlich oftmals Gesetze, die die gesellschaftliche Hierarchie insgesamt zementieren. In den USA meint er damit zum Beispiel die fehlende Krankenversicherung, die nicht nur (aber auch) dazu führt, dass viele schwarze Menschen nicht ausreichend gesundheitlich versorgt werden. Eine allgemeine Krankenversicherung wäre laut Kendis Definition eine antirassistische Maßnahme. Es würden aber auch viele weiße Familien davon profitieren.
Die diskriminierende Struktur unserer Gesellschaften muss bekämpft werden
Gemeinsam mit Kendi habe ich Kapitel für Kapitel etwas dazugelernt. Zum Beispiel, dass schwarze Polizist:innen zum Teil selbst dazu neigen, besonders hart mit Schwarzen umzugehen. Oder warum es kultureller Rassismus ist, wenn wir afrikanische und kreolische Dialekte als „gebrochenes“ Englisch, Spanisch oder Französisch verstehen – die von weißen Menschen gesprochenen aber als „reine“ Dialekte. Als hätten sich die europäischen Sprachen nicht auch irgendwann aus dem Lateinischen entwickelt.
Kendis Verständnis von Antirassismus bedeutet nicht nur, Ungleichheiten zu bekämpfen, die durch rassistisches Denken zustande kommen. Er sagt auch Klassismus, Sexismus, Homophobie und dem US-amerikanischen Kapitalismus den Kampf an. Dabei zeigt er immer wieder, dass auch er nicht davor geschützt war, in dieser Gesellschaft die Standpunkte einzunehmen, die er heute kritisiert. Als Schüler hatte er selbst Angst vor den vermeintlich gefährlichen schwarzen Männern – bis er verstand, dass andere ihn genau so wahrnahmen, obwohl er es nicht war. Als Student fing er an, alle Weißen für ihr Handeln zu hassen – eine rassistische Einstellung, wie er heute schreibt. Im Aufbaustudium lernte er in Gesprächen mit zwei schwarzen Queerfeministinnen auch, wie vielschichtig Diskriminierung sein kann. Dass schwarze Frauen vor anderen Herausforderungen stehen als schwarze Männer. Dass schwarze Trans*frauen wegen ihrer Identitäten eine schockierend geringe Lebenserwartung von 35 Jahren haben. Und dass es auch in der weißen Bevölkerung Gruppen gibt, die diskriminiert werden.
Die Gesetze zu verändern, die sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt haben und unsere heutige Gesellschaft geformt haben, ist kein leichter Kampf. Aber es ist einer, den Ibram X. Kendi auf sich nehmen will – erst recht, nachdem er selbst 2018 eine schwere Darmkrebserkrankung überlebt hat.
„Rasse und Rassismus sind Machtkonstrukte der modernen Welt. Etwa 200.000 Jahre lang, bevor Rasse und Rassismus im 15. Jahrhundert konstruiert wurden, sahen Menschen Farben, aber haben die Farben nicht in kontinentale Rassen gruppiert, haben nicht einfach negative und positive Eigenschaften mit diesen Farben verbunden und die Rassen nach Hierarchien sortiert, um rassistische Ungleichheit zu rechtfertigen, um rassistische Macht und Gesetzgebung zu stärken. Rassismus ist noch keine 600 Jahre alt. Es ist ein Krebs, den wir früh entdeckt haben. (…)“
„Was mir Hoffnung gibt, ist eine einfache Wahrheit: Wenn wir die Hoffnung verlieren, verlieren wir auf jeden Fall. Aber wenn wir die Wahrscheinlichkeiten ignorieren und dafür kämpfen, eine antirassistische Welt aufzubauen, dann geben wir der Menschheit die Chance, eines Tages zu überleben, eine Chance, in Verbundenheit zu leben, eine Chance, für immer frei zu sein.“
Ibram X. Kendis Buch, in dem er über seinen Weg zum Antirassismus schreibt, heißt „How to Be an Antiracist“. Es ist in englischer Sprache 2019 im Verlag Vintage erschienen. In deutscher Sprache wird es im September 2020 im Verlag btb erscheinen. Die Autorin dieses Textes hat die zitierten Passagen selbst aus dem Englischen übersetzt (mit freundlicher Genehmigung des Verlags).
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Martin Gommel.