Tübingen legt es darauf an: Kann eine deutsche Stadt klimaneutral werden?

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Klimakrise und Lösungen

Tübingen legt es darauf an: Kann eine deutsche Stadt klimaneutral werden?

Studierende finden Bürgermeister Boris Palmer plötzlich sympathisch, die Stadtwerke Tübingen besitzen Windränder an der Ostsee und über allem die Frage: Ist das wirklich „klimaneutral“, was die Stadt gerade versucht? Das Modell könnte zum Vorbild für Städte in ganz Deutschland werden.

Profilbild von Katharina Mau

Ailar, Ronja und Severin wohnen in einer WG in Tübingen. Sie haben erst durch meinen Aufruf in der Krautreporter-Mitgliederpost davon erfahren, dass es eine Einwohnerversammlung zum Tübinger Klimaplan geben wird. Tübingen will klimaneutral werden und dabei möglichst alle interessierten Bürger:innen in den Entscheidungsprozess einbeziehen. Was die Beteiligung angeht, kann man also schon mal sagen: Da ist noch Luft nach oben.

Ich treffe die drei am Eingang einer Turnhalle. An der Tür hängen Zettel: Die Stadt empfiehlt Menschen ab 65 Jahren, nicht teilzunehmen. Erkältete sollen zuhause bleiben. Es ist der 10. März, die Frühphase der Corona-Epidemie in Deutschland, noch sind Versammlungen erlaubt. Drinnen hat die Ortsgruppe von „Fridays for Future“ ein Banner an die Wand gehängt: „Wir streiken, bis ihr handelt.“

In zehn Jahren möchte Tübingen klimaneutral sein. Dafür will die Stadt den Energieverbrauch senken und die benötigte Energie aus erneuerbaren Quellen gewinnen. Die Einwohner:innen sollen mitreden können – in einem Prozess aus Workshops und Infoveranstaltungen im Laufe des Jahres. Den Auftakt dazu bildet diese Einwohnerversammlung.

Aber was genau heißt das eigentlich: klimaneutral?

Tübingen will alle Energie, die es verbraucht, aus erneuerbaren Quellen beziehen

Der grüne Oberbürgermeister Boris Palmer, grünes Hemd, schwarzer Anzug, steht auf der Bühne. Links neben ihm eine Leinwand, rechts drei Männer von der Stadt und den Stadtwerken. Palmer sagt: „Das Ziel ist, bis 2030 energiebedingt klimaneutral zu sein.“ Das heißt: Die Energie, die Tübingen für Wärme, Strom und Verkehr verbraucht, muss aus erneuerbaren Quellen kommen. Es bezieht sich nicht auf die Emissionen, die durch Essen, Kleidung, Möbel und andere Dinge entstehen, die die Tübinger:innen einkaufen.

Auf den Stühlen in der Halle liegen Zettel, auf die die Menschen ihre Fragen schreiben können. Damit weniger Zeit dadurch verloren geht, dass jede:r am Mikrofon spricht. Und, wie Palmer sagt: „Damit es nicht davon abhängt, ob man sich gern an ein Mikro stellt.“ Etwa 200 Tübinger:innen sind gekommen, in der Halle sind viele Plätze leer - es hätten noch deutlich mehr Menschen kommen können. In den Reihen sitzen Männer und Frauen jeder Altersstufe, viele tragen Jeans und Pullover. Während der Präsentation ist es ruhig. Ailar, Ronja und Severin hören aufmerksam zu, machen sich ab und zu Notizen.

Palmer spricht gut verständlich, ohne komplizierte Fachwörter. Der Gemeinderat habe ihn nochmal daran erinnert, sagt er, dass heute vor allem Zeit für die Fragen der Bürger:innen sein solle. Deshalb fasse er sich kurz. Palmer erklärt den Plan in Grundzügen.

„Es geht darum, die Energie übers Jahr gesehen aus CO2-neutralen Quellen zu erzeugen oder zu kaufen, nicht zu jeder Sekunde.“ Das bedeutet: Wenn Tübingen zum Beispiel an sonnigen und windigen Tagen mehr erneuerbare Energie produziert, als die Stadt verbraucht, kann man das gegenrechnen und die Nächte ausgleichen, in denen nicht genug Energie aus erneuerbaren Quellen vorhanden war. So kann Tübingen klimaneutral sein, auch wenn zu bestimmten Zeiten weiterhin Energie aus Kohle oder anderen fossilen Energieträgern genutzt wird.

In einer Pause schreiben die Zuschauer:innen ihre Fragen auf, die Männer auf der Bühne sortieren sie. Auf ihren Zetteln stehen Fragen wie:

  • „Wieso geht es nur um die energiebedingten Emissionen? Nahrung, Müll etc. sind doch auch wichtig.“
  • „Legt die Stadt sich nicht zu früh auf Batterie-Elektromobilität fest?“
  • „Wie kann ich mich einbringen?“
  • „Wie schaffen wir in Tübingen Aufbruchstimmung?“

Die Versammlung ist nur der Auftakt für einen Beteiligungsprozess. Es wird Workshops geben. Bürger:innen, Firmen und Verbände sollen sich einbringen. Am Ende, das steht noch nicht fest, werden die Tübinger:innen entweder in einem Bürgerentscheid über das Klimaschutzprogramm abstimmen oder durch eine Befragung in einer App. Im vergangenen Jahr hat Tübingen als erste Kommune in Deutschland die App eingeführt, mit der die Stadt die Einwohner:innen zu bestimmten Themen befragt.

Während die Männer auf dem Podium noch sortieren, schnappt sich Boris Palmer direkt einen Stapel und fängt an, Fragen zu beantworten. Eine Frage: „Wie wollen Sie verhindern, dass Studierende von außerhalb, die auf ihr Auto angewiesen sind, unter zu hohen Parkgebühren leiden?“ Palmer: „Das will ich überhaupt nicht verhindern.“ In Tübingen seien die Studierenden nicht aufs Auto angewiesen. Sie könnten im Gegenteil eher Geld sparen, wenn sie die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen würden.

Der Student Severin wird nach der Versammlung sagen: „Ich fand Boris heute Abend echt sympathisch.“

Ailar: „Ich auch, ich war echt überrascht.“

Für viele Menschen hat Palmer zwei Seiten. Die eines Politikers, der sich konsequent und erfolgreich für Klimaschutz einsetzt. Und die eines Mannes, der immer wieder wegen rassistischer Äußerungen in den Medien auftaucht. Nachdem ein Gambier in Tübingen wegen mutmaßlicher Vergewaltigung festgenommen wurde, forderte Palmer, dass es in bestimmten Fällen verpflichtende DNA-Tests für Geflüchtete geben sollte. Als die Deutsche Bahn in einer Werbekampagne mehrere sogenannte People of Color zeigte, fragte Palmer auf Facebook: „Welche Gesellschaft soll das abbilden?“ Ailar sagt: „Ich fand, er kam auf der Veranstaltung gut, souverän, sympathisch rüber. Ich hatte an keiner Stelle das Gefühl, dass seine Argumentation gehinkt hat. Ich dachte mir: Die grüne Politik macht er total gut. Aber dann gibts eben noch die andere Seite, was die Migrationspolitik angeht. Das kann ich überhaupt nicht unterstützen.“

Die Wind- und Solarparks der Stadt sind über ganz Deutschland verteilt

© Katharina Mau

Nach der Versammlung sitze ich mit Ailar und Severin am großen Holztisch in der Küche ihrer 9er-WG. Ronja ist schon ins Bett gegangen, weil sie am nächsten Tag früh aufstehen muss. Im Regal stehen bunt zusammengewürfelte Tassen, auf den Küchenschränken kleben Sticker.

Ailar studiert Deutsch als Zweitsprache und Soziologie. Sie fragt sich, ob man das, was Tübingen da macht, wirklich „klimaneutral“ nennen kann. Sie sagt: „Ich finde, man kann nicht behaupten, dass die Pläne darauf ausgerichtet sind, CO2-neutral zu werden, sondern Emissionen anderswo auszugleichen.“ Severin findet: „Aber unterm Strich ist es immer noch besser, als nichts zu machen. Wir machen jetzt mal den ersten Schritt, bis 2030. Und bis dahin gibt’s vielleicht eine gute Technologie, um Strom zu speichern.“ Darauf hofft auch die Politik in Tübingen. Mit der Speicherung werde man sich in den 2030-er Jahren beschäftigen, sagt Palmer. Im ersten Schritt geht es also darum, rein rechnerisch die benötigte Energiemenge herzustellen - auch mit Anlagen außerhalb von Tübingen.

Severin studiert Erneuerbare Energien. Mit vielen Themen, die bei der Versammlung angerissen werden, hat er sich schon beschäftigt. „Im Norden gibt es ja schon mehr Wind“, sagt er. „Und zudem hast du im Norden teilweise eine etwas geringere Bevölkerungsdichte als hier in der Region. Deswegen ist es da einfacher, Windparks zu planen und durchzusetzen.“

Ailar: „Aber ist das eine Tatsache? Haben die Stadtwerke Tübingen Windräder an der Ostsee?“

Severin: „Nicht unbedingt an der Ostsee.“

Ailar: „Aber schon weiter weg. Ich dachte zuerst, eine Stunde weit weg oder so. Der Name ‚Stadtwerke Tübingen‘ klingt so, als ob es eben stadtbezogen wäre.“

Severin holt seinen Laptop und wir sehen uns an, wo die Stadtwerke Tübingen Ökostrom erzeugen. Die Wind- und Solarparks sind über ganz Deutschland verteilt, auch an der Ostsee steht ein Windpark. In der Bilanz werden die Emissionen zusammengerechnet, die auf dem Gebiet der Stadt Tübingen entstehen. Ausgleichen will die Stadt sie aber nicht nur mit Anlagen in Tübingen, sondern auch mit den erneuerbaren Energien, die in Wind- und Solarparks der Stadtwerke Tübingen produziert werden – zum Beispiel in Sachsen, Niedersachsen oder Rheinland-Pfalz.

Severin sagt: „Das ist das, was viele sagen: Ihr produziert euren Strom gar nicht selbst. Im Endeffekt produzieren sie ihn ja schon selbst. Es ist das Unternehmen ‚Stadtwerke Tübingen‘. Aber es ist Definitionssache, das hab ich mir auch gleich bei der Präsentation als Erstes aufgeschrieben.“

So will die Stadt zur Modellkommune werden: sanierte Häuser, keine Ölheizungen, kostenloser Nahverkehr

Die Maßnahmen, die die Tübinger Stadtverwaltung ausgearbeitet hat, sind in drei Bereiche gegliedert. Laut Palmer entstehen aktuell 47 Prozent der energiebedingten CO2-Emissionen im Bereich Wärme, 31 Prozent im Bereich Strom und 22 Prozent im Bereich Mobilität.

Die Stadt möchte zum Beispiel die zum Heizen benötigte Energie reduzieren, indem sie die Menschen dabei fördert, ihre Häuser sanieren zu lassen. Sie möchte erreichen, dass Hausbesitzer bis 2030 Ölheizungen durch klimaneutrale ersetzen, zum Beispiel auf Basis erneuerbarer Energien, wie Solarthermie, Biomasse oder Biogas. Um Ressourcen zu schonen, will die Stadt mehr Wohnraum in schon bestehenden Häusern schaffen, zum Beispiel, indem sie den Ausbau von Dachgeschossen fördert.

Die Stadt will den Stromverbrauch weiter senken, zum Beispiel durch Straßenbeleuchtung mit Bewegungsmelder und Beratungsangebote für Bürger:innen zum Stromsparen. Die Tübinger Stadtwerke sollen mehr Wind- und Solarparks in ganz Deutschland bauen und die Stadt will auch prüfen, wo in Tübingen selbst Platz für Windräder und Photovoltaik-Anlagen ist. Palmer stellt zum Beispiel in den Raum, zwei Spuren einer Straße stillzulegen und dort einen Solar-Thermie-Park zu bauen. Die Stadt will Photovoltaik-Anlagen auf den Dächern fördern und wenn möglich verpflichtend machen.

Sie will eine Regionalstadtbahn bauen, die das Umland mit der Stadt verbindet, vielleicht auch in die Innenstadt fährt. Öffentliche Verkehrsmittel könnten kostenlos werden. Bis 2030 sollen alle Busse in Tübingen elektrisch betrieben sein. Es soll etwa 1.000 Carsharing-Autos geben. Die Stadt rechnet damit, dass man dadurch 15.000 private Autos ersetzen kann. Sie will das Parken teurer machen und dem Auto Platz wegnehmen, zugunsten von Radwegen und Fußgängerzonen.

Nicht alle Maßnahmen kann die Stadt allein umsetzen, manches hängt von Gesetzen des Bundes oder des Landes ab. Außerdem braucht Tübingen mehr Geld. Daher ist der Plan, die Stadt zur „Klimaschutzmodellkommune“ zu machen. Modellkommunen gibt es in ganz verschiedenen Bereichen. Sie probieren Dinge aus, von denen andere Kommunen lernen können. Tübingen könnte dadurch finanzielle Förderungen bekommen und mehr Entscheidungen treffen als andere Kommunen, zum Beispiel Hauseigentümer dazu verpflichten, auf schon bestehende Häuser Photovoltaik-Anlagen zu bauen oder Ölheizungen auszutauschen.

Diese Schritte sind nur ein Ausschnitt. Im Hauptteil des Entwurfs des Klimaschutzprogramms sind 17 verschiedene Maßnahmen aufgelistet – jede wiederum mit verschiedenen Vorschlägen, wie man das Ziel erreichen kann.

Es ist eine große Herausforderung, eine Stadt innerhalb von zehn Jahren klimaneutral zu machen. Und es ist eine ebenso große Herausforderung, die Bürger:innen dabei mitzunehmen.

Severin sagt: „Ich glaube, das Wesentliche daran ist die Verkehrsdebatte. Da fühlen sich die Menschen individuell eingeschränkt.“

Ailar: „Vielleicht sind wir auch die falschen Ansprechpartner:innen, wenn es ums Auto und um die Stadtbahn geht. Wir wohnen superzentral. Ich bin in meinem Alltag nicht darauf angewiesen, einen Umkreis von zehn Minuten Fußweg zu verlassen. Das ganze Jahr über nicht.“

Severin: „Ich finde, es ist der richtige Impuls für die Zeit zu sagen: Wir investieren Vollgas in öffentliche Verkehrsmittel und setzen die Parkgebühren hoch. Ich denke da an einen unserer Mitbewohner, der ein Auto hat …“

Ailar: „Er braucht sein Auto in Tübingen nicht, aber er hat eines und deshalb fährt er immer damit.“

Ailar wohnt seit zweieinhalb Jahren in Tübingen. In dieser Zeit sind viele neue Fahrradwege entstanden, sagt sie. Dadurch dass es in der Stadt viele Einbahnstraßen gibt, legt man viele Wege mit dem Fahrrad schneller zurück als mit dem Auto. Tübingen ist eine der grünsten Städte Deutschlands. Auf WG-Partys gibt es wenig Fleisch und viel Gemüse zu essen. Es gibt einen gut besuchten Vortagsbäcker, viele Veranstaltungen zum Thema Klimaschutz und ethisches Wirtschaften. Severin findet es gut, dass die Stadt, in der er lebt, Vorreiter sein will. „Es gibt nicht so viele Städte, die so grün denken“, sagt er. „Und es können ja dann alle anderen Städte von den Erfahrungen profitieren, die wir jetzt als Stadt machen.“

In diesem Jahr wird ein erstes Maßnahmenpaket verabschiedet

Noch ist nicht klar, ob und wie sich die Planung durch Covid-19 verändert. Aktuell ist das Ziel, dass der Gemeinderat noch im Jahr 2020 über erste Maßnahmenpakete abstimmt. Er kann mit solchen anfangen, die relativ unstrittig sind und über andere erst später entscheiden. Wenn die Tübinger:innen in einem Bürgerentscheid abstimmen sollen, könnte dieser zusammen mit der Landtagswahl im März 2021 stattfinden. Wenn es eine Abstimmung über die Bürger-App gibt, könnte das vielleicht schon früher geschehen. „Wir müssen Mehrheiten für das Paket, aber auch für einzelne Maßnahmen finden“, sagt Palmer. „Sonst sind sie nicht umsetzbar.“ Severin hofft, dass sich die Diskussionen vor allem um das Wie drehen werden: „Und nicht darum, ob es sinnvoll ist, überhaupt in die Richtung zu gehen.“

Vielen Dank an Ailar, Ronja, Severin, Gerd, Constantin und Uta!


Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Martin Gommel