Wie Pornos dein Leben verändern – auch wenn du sie nicht guckst (was nicht stimmt)

© unsplash / Charles Deluvio

Leben und Lieben

Wie Pornos dein Leben verändern – auch wenn du sie nicht guckst (was nicht stimmt)

Guckt mein Partner Pornos? Meine Freundin? Soll ich mit meinen Kindern darüber reden – und wenn ja, wie? Wie verdienen eigentlich Seiten wie „Pornhub“ und „X-Hamster“ Geld? Und gibt es so etwas wie gute Pornographie? Alles, was du schon immer über Pornos wissen wolltest, aber nicht getraut hast zu fragen.

Profilbild von Thorsten Glotzmann

Och, nö, bitte nicht noch ein Text über Pornos. Ihr wollt doch nur billige Aufmerksamkeit. Mal ehrlich: Ist dazu nicht schon alles gesagt?

Nein. Das Problem ist: Da fast jeder Mensch im Internet schon mal einen Porno gesehen hat, glaubt jeder auch zu wissen, was das ist. Das Phänomen Porno ist von bloßen Meinungen umlagert, kaum jemand aber hat es wirklich verstanden. Am Kiosk stapeln sich Ernährungs- und Bewegungsratgeber, die der überforderten Leserschaft Heilung versprechen: von Rückenleiden, Burnout und Reizdarm. Wenn es um Pornos geht, werden wir allein gelassen mit unseren Schuld- und Schamgefühlen: Woher soll ich wissen, wie viel Pornokonsum okay ist, ob er mich krank macht, wo ich wirklich gute Filme finde und mit wem ich darüber sprechen kann? Wir brauchen mehr Orientierung, um uns im Gestrüpp der Internet-Pornographie zurechtzufinden.

Aber ich schaue keine Pornos und habe das auch nicht vor.

Natürlich tust du das.

Wirklich nicht!

Das kann ich mir nicht vorstellen.

Echt nicht!

Selbst wenn das stimmt: Mit hoher Wahrscheinlichkeit tut es dein Partner, deine Tochter oder dein Sohn. Es ist auch so viel einfacher geworden! Kein Teenager der Welt muss mehr in verschlossenen Schrankfächern nach den Playboy-Heftchen seines Onkels suchen oder heimlich Vox-Erotikfilme aufnehmen. Porno-Portale wie Pornhub (laut dem Internetdienst Alexa aktuell Platz 19) und xHamster (Platz 17) werden in Deutschland jedes Jahr öfter besucht als Nachrichtenseiten wie Bild.de oder Spiegel Online. Pornhub wird nach eigenen Angaben weltweit im Schnitt täglich 115 Millionen Mal besucht. Das ist so, als würde ganz Deutschland und dazu halb Frankreich die Seite besuchen – und zwar jeden Tag. Überhaupt hat jede vierte Suchanfrage im Netz mit Pornographie zu tun. Um es mal deutlich zu sagen: Das Internet wurde für Pornographie erfunden.

Jetzt übertreibst du.

Wirklich? Schau dir mal dieses Video an. Das zeigt ein sehr schönes Lied aus dem Broadway-Musical „Avenue Q“. Die Kindergärtnerin Kate will eine Unterrichtsstunde darüber vorbereiten, wie wunderbar das Internet ist. Ihr Nachbar, ein zotteliges Ungeheuer namens Trekkie Monster, hat da andere Vorstellungen:

https://www.youtube.com/watch?v=LTJvdGcb7Fs

Ohrwurm. Schon jetzt. Wird mich durch die ganze Woche begleiten. Vielen Dank auch!

Gern geschehen. Trekkie übertreibt vielleicht ein bisschen, prinzipiell aber hat er recht: Internet und Pornographie bilden ein untrennbares Paar. Einer repräsentativen Studie zufolge kommen Jugendliche durchschnittlich im Alter von 12,7 Jahren erstmals mit harten Onlinepornos in Berührung. Zu den heimlichen Held:innen jüngerer Menschen zählen eben nicht nur Fußballer wie Marco Reus, Youtuber wie Bibi Heinicke, sondern auch geschäftstüchtige Porno-Darstellerinnen wie die Hamburgerin Lucy Cat.

Okay, dann schaut halt jeder Pornos. Können wir nicht einfach gucken und weiter darüber schweigen, wie ganz normale Menschen?

Das wäre ein Fehler. Denn Pornographie hat großen Einfluss auf unsere Vorstellungen von Sex, Geschlechterrollen und Körper: Was den Mann vermeintlich zum Mann macht, die Frau zur Frau. Wie das Internet selbst gehen Pornos nicht mehr weg und sind längst Teil unserer (Pop-)Kultur. Statt uns von Pornographie abzuwenden, müssen wir sie ernst nehmen und zu mündigen Konsument:innen werden. Es ist heute nicht mehr die Frage, ob Porno, sondern: welcher.

Und welcher bitte?

Ich schlage vor, dass wir uns erst mal das gegenwärtige Porno-Angebot anschauen und die Statistiken analysieren. Da gibt es zum Beispiel die Pornhub-Statistik, sie erscheint jedes Jahr vor Weihnachten …

… weil die Weihnachtszeit Porno-Zeit ist?

Falsch. An Heiligabend oder an Silvester bricht der Porno-Traffic sogar dramatisch ein, genauso während wichtiger Sportereignisse wie Champions-League-Finalspielen. Porno-Zeit ist am Sonntagabend, da ist der Mensch häufig allein – und vor allem ungestört. Die unübertroffene Rush Hour ist zwischen 23 Uhr und Mitternacht (Genaueres findest du in einer Datenanalyse von Pornhub, der weltgrößten Porno-Plattform). In Deutschland dauert ein Pornhub-Besuch im Schnitt allerdings nur zehn Minuten und neun Sekunden, Frauen bleiben in der Regel 23 Sekunden länger als Männer auf der Seite.

Wie, Frauen schauen auch?

Aber ja, in Deutschland machen sie allerdings nur 25 Prozent aus, Tendenz leicht steigend. Auf den Philippinen und in Brasilien sind es 39 Prozent. Weltweit favorisieren Frauen lesbische Filme oder solche, die der Kategorie „Popular with Women“ zugerechnet werden. Die Kategorien „Pussy Licking“, „Solo Male“ und „Fingering“ sind bei Frauen wesentlich populärer als bei Männern. Jeder dritte Besucher ist zwischen 25 und 34 Jahren alt, die über 65-Jährigen sind mit fünf Prozent in der klaren Minderheit.

Und wonach wird in Deutschland so gesucht?

Tatsächlich vor allem nach deutschen Pornos! Für Patrioten ist das eine beruhigende Nachricht: Auf Pornhub ist das Abendland noch nicht untergegangen.

Puh.

Dahinter steckt aber vermutlich mehr Unbeholfenheit als nationalistische Eigenart. Es ist im Übrigen fast überall auf der Welt so: In Frankreich sucht man vor allem „française“, also französische Darsteller:innen, in Italien „amatoriale italiano“ oder wenigstens „dialoghi in italiano“. In Österreich und der Schweiz gibt man der Einfachheit halber „deutsch“ in die Suchmaske ein, in Belgien „french“ und die Zyprer suchen nach griechischem Material. Guck dir mal diese Grafik an, dort haben wir die drei beliebtesten Suchbegriffe in europäischen Ländern vorgestellt:

Auf Platz drei der Suchbegriffe in Deutschland – direkt nach „german“ und „deutsch“ – lag im Jahr 2019 „Femdom“. Das steht für „Female Dominance“ und ist eine der spannendsten Kategorien überhaupt. In einer Zeit hochverunsicherter, krisengeschüttelter Männlichkeit scheinen erstaunlich viele Deutsche Lust an der Vorstellung einer dominierenden Frau zu empfinden. Wobei: Das maskuline Alphatier ist nach der Vorstandssitzung ja schon immer gern zur Domina gegangen, um sich auspeitschen und nackt ins Vakuumbett zwängen zu lassen. Sexuelle Fantasien haben immer etwas Karnevaleskes: Für einen gewissen Zeitraum genießt man die Umkehrung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Im Karneval wird der Bauer zum König, im Mainstream-Porno die Frau zur Chefin. Hier verdient sie übrigens ausnahmsweise auch mehr: Darstellerinnen bekommen laut dieser Statistik für eine „normale“ Sexszene im Schnitt 800 bis 1.000 Dollar, Darsteller 500 bis 600. Falls du also mal darüber nachgedacht hast …

Hab ich nicht!

Okay, okay, ist ja gut.

Können wir jetzt mal aufhören mit Statistik? So viele Zahlen kann ich mir nicht merken.

Keine Sorge, war alles nur Vorspiel. Gleich gehts „ans Eingemachte“, wie man in einem schlechten deutschen Porno aus den Neunzigern sagen würde. Apropos deutsche Porno-Dialoge:

https://www.youtube.com/watch?v=HMZx5atWgZY

Haha, das kenne ich sogar.

Du hast also doch schon einmal einen Porno geschaut.

Nie mehr als diese Szene!

Sicher. Wie dem auch sei: In fast allen Ländern aus der Pornhub-Statistik ist die „Milf“ beliebt, die „Mother I’d like to fuck“, beziehungsweise die „Step Mom“, die den – öhöm – unbeleckten Stiefsohn beherzt in der Kunst des Wichsens unterweist (bekannt aus der beliebten Reihe: „Moms teach sex“). Die Popularität beider Kategorien scheint Sigmund Freud Recht zu geben mit seinen Theorien vom Ödipus-Komplex und vom heimlichen Inzest-Wunsch, der als großes sexuelles Tabu umso tiefer eingeschrieben ist in unsere unbewussten Triebkräfte.

Ach ja, Freud, daran kann ich mich erinnern: die Theorie, dass der Sohn insgeheim mit der Mutter schlafen und den Vater töten will.

Ja, genau, so ungefähr. In der Geschichte der Pornographie spielt der Inzest immer schon eine bedeutende Rolle: zum Beispiel beim französischen Romancier Restif de la Bretonne, einem Bauernsohn aus der Bretagne, der manchen sogar als Erfinder der Pornographie gilt, wie man in dieser schönen Dissertation nachlesen kann. Im Jahr 1798 ist sein unvollendetes Werk „L’Anti-Justine“ entstanden, das sich gegen die Grausamkeiten des Romans „Justine“ richtet, den wiederum der Skandalschriftsteller Marquis de Sade geschrieben hat.

De Sade? Von dem Sadismus kommt?

Genau! „L’Anti-Justine“ schildert zwar keine sadistische Gewalt, bricht aber kaum weniger mit Tabus: Restif de la Bretonne erzählt vom ausschweifenden Leben einer Familie, in der Brüder fröhlich mit Schwestern und Söhne heiter mit Müttern kopulieren, sie sogar schwängern.

Puh, schon ein bisschen pervers. Es gibt immerhin gute Gründe für das Inzest-Verbot. Und überhaupt frage ich mich: Macht uns Pornographie nicht krank?

Da bist du nicht der Erste, der das fragt. Schon im 19. Jahrhundert gab es die Idee, dass die Lektüre klassischer Bücher zur Masturbation und die Masturbation zur Schädigung des Organismus führe. So warnte der englische Richter Lord Chief Justice Cockburn im verklemmten Viktorianischen Zeitalter vor dem korrumpierenden und seelenverderbenden Potenzial in Schrift gegossener Pornographie.

Moment, Moment, Moment: „Lord Chief Justice Cockburn”? Das hast du dir ausgedacht!

Aber nein, den gab es wirklich: Sir Alexander James Edmund Cockburn, Kronanwalt und notorischer Womanizer. Er zeugte zwei uneheliche Kinder und war auch sonst keiner Frivolität abgeneigt – von der Masturbation hielt er trotzdem nicht viel. Es gab im 19. Jahrhundert richtige Horrorliteratur über die Gefährlichkeit des Masturbierens. Guck mal unbedingt hier auf Seite 116. Dort habe ich eine wundervolle Darstellung des Onanisten gefunden („Faces of the Masturbator“ von 1857): Der Masturbator – schief und krummbucklig, asozial und apathisch, unrasiert und ungepflegt. In Schriften wie „The Functions and Disorders of the Reproductive Organs“ (1865) wird er zum degenerierten Kandidaten für die Irrenanstalt. Der Rat des Autors: Gebt den Knaben keine Bücher und haltet sie an der frischen Luft, dass ihnen ja kein dummer Gedanke komme. Ein anonymer Engländer erklärte die Masturbation schon Anfang des 18. Jahrhunderts zur Krankheit und Seuche.

Und, was genau hat das mit uns heute zu tun?

In dieser langen Tradition, die das christliche Ideal der Keuschheit verehrt, steht die Rede von der Pornosucht: Der Onanist ist auch in heutigen Debatten oft noch ein einsamer und schlaffer Ekel, ein degenerierter Perversling, der mal lieber an die frische Luft und überhaupt mehr unter Menschen gehen sollte, statt sich im dunklen Kämmerlein durch die einschlägigen Porno-Portale zu wichsen. Es ist keine allzu kühne Behauptung, dass viele unserer Schuld- und Schamgefühle mit jahrhundertelang eingeübten religiösen Verkrampfungen zu tun haben.

Aber die Porno-Sucht ist doch keine Erfindung der Kirche. Ich habe gelesen, dass die Weltgesundheitsorganisation „zwanghaftes Sexualverhalten“, also auch „übermäßigen Pornokonsum“ von 2022 an in den Internationalen Diagnose-Katalog aufnimmt.

Nun ja. Die Weltgesundheitsorganisation hat auch bis in die Neunzigerjahre hinein Homosexualität als Krankheit im sogenannten ICD-Katalog geführt (International Classification of Diseases). Daran hat die Kulturwissenschaftlerin Madita Oeming in einem lesenswerten Stück im Magazin Vice erinnert. Oeming argumentiert plausibel, dass die Idee der Pornosucht im christlichen Kontext konzipiert wurde und von Medien, Kirche und Selbsthilfe-Industrie in Umlauf gebracht wurde. Männer beriefen sich oft entschuldigend auf eine Sucht, weil sie erschrocken über die eigenen Sehlüste wären. „Dann ist man lieber süchtig als ein schlechter Mensch“, schreibt Oeming. Die Selbstdiagnosen von Pornosüchtigen, die sich einfach nicht mehr zu helfen wissen, erinnern oft an Geständnisse. Die Beichte ist ja so etwas wie ein Erlösungsversprechen: Der Beichtende unterwirft sich dem katholischen Machtapparat und erfährt Befreiung durch den Segen des Geistlichen. Der französische Historiker Michel Foucault sprach von der „Pastoralmacht“.

Das ist doch alles kulturwissenschaftliches Blabla. Es gibt doch sicher handfeste biologische Erklärungen für Pornosucht, oder?

Richtig, die Biologie: Dank der Evolution sind wir so programmiert, dass wir auf sexuelle Reize anspringen, um die Fortpflanzung und letztlich das Fortbestehen der Menschheit zu sichern.

Gut, das ist bekannt.

Und dank der sogenannten Spiegelneuronen können wir durch bloße Beobachtung eines anderen Menschen nachempfinden, was dieser fühlt. Hirnregionen mit Spiegelneuronen sind beim Pornoschauen offenbar verstärkt aktiv – deshalb kommt es uns ein bisschen so vor, als erlebten wir den Sex selbst. Der nur einen Klick entfernte Pornofilm spricht zudem unser Belohnungssystem an, das Gehirn schüttet den Botenstoff Dopamin aus. Pornos haben also potenziell eine ähnliche Wirkung auf uns wie Shopping, Zocken, Zucker oder auch Joggen. In diesem Youtube-Video haben das zwei wissenschaftsaffine Kanadier ganz anschaulich erklärt:

https://www.youtube.com/watch?v=1Ya67aLaaCc

Sicher gibt es Menschen, die dabei die Kontrolle verlieren und immer mehr brauchen, um Befriedigung zu erfahren. So berichten vor allem männliche Pornokonsumenten, dass sie visuell durch immer Extremeres stimuliert werden müssen, Erektionsprobleme bekommen, ihre Partnerin nicht mehr attraktiv und realen Sex als langweilig empfinden. Solche Berichte finden sich zum Beispiel in Reddit-Foren. Ebendort gründete sich auch die sogenannte „No-Fap-Community“.

No Fap? Was heißt das?

Das bedeutet im Grunde „nicht wichsen“: Die Community rät vom Porno und der Masturbation ab und ruft zur Enthaltsamkeit auf – ausgehend von einer Studie, nach der der Testosteronspiegel eines Mannes nach sieben Tagen Abstinenz seinen Höhepunkt erreichen würde. Viele probierten es aus und stellten fest, dass sich ihre Lebensqualität und ihre sozialen Beziehungen verbesserten: Sie fühlten sich vitaler, hatten mehr Energie und weniger soziale Angst. Der ehemalige Anatomie-Lehrer Gary Wilson ist so etwas wie der No-Fap-Papst: Papst deshalb, weil vieles, was er sagt, nur auf Annahmen und nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fußt. Es ist bezeichnend, dass sein TED-Talk, den knapp 13 Millionen Menschen gesehen haben, mit einer Warnung versehen ist und die Kommentare darunter abgeschaltet wurden:

https://www.youtube.com/watch?v=wSF82AwSDiU

Damit du dich nicht durch das komplette Video quälen musst, eine kurze Zusammenfassung seiner Theorie: Der Dopaminrausch, der durch die Hardcore-Pornos ausgelöst wird, leiert das Belohnungszentrum im Gehirn aus und führt zu Einsamkeit, krankhafter Schüchternheit, Depression oder Beziehungsunfähigkeit. Durch ein „Reboot“, also den vollständigen Verzicht auf „künstliche sexuelle Stimulation“ könne man sein System reparieren und Heilung erfahren.

Stimmt nicht?

Nein, denn Wilson mischt Halbwahrheiten mit Weltanschauung und bringt das Verhältnis von Ursache und Wirkung durcheinander. Interessant ist, dass er von absoluten Extremfällen ausgeht – von Menschen, die soziale Ängste haben, isoliert sind, unter zwanghaftem Verhalten leiden – und all diese Symptome allein auf den Pornokonsum zurückführt, als wäre das die einzig mögliche Erklärung dafür. Dass ein zwanghafter Überkonsum von Hardcore-Pornos krank und einsam machen kann, leuchtet ja durchaus ein – ähnlich wie zwanghaftes Shopping-, Sport- oder Essverhalten. Es wäre aber seltsam, daraus den Schluss zu ziehen, dass wir uns generell nichts mehr zum Anziehen kaufen, keinen Sport mehr treiben und nichts mehr essen sollten.

Was sagt denn die Forschung dazu?

Es gibt leider noch viel zu wenig Forschung dazu. In Kanada wollen Neurowissenschaftler kürzlich herausgefunden haben, dass Pornos den präfrontalen Kortex schädigen – eine Gehirnregion, die für Moral, Willenskraft und Impulskontrolle verantwortlich ist und sich erst im Erwachsenenalter voll entwickelt. Pornokonsum verdrahte unser Gehirn neu und versetze es in einen jugendlicheren Zustand zurück. Entwicklungspsychologen des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin haben einen anderen Zusammenhang erkannt: Bei Männern mit hohem Pornokonsum ist das Volumen des Hirnareals Striatum, einer wichtigen Schaltstelle für emotionale Prozesse, kleiner als bei den anderen. Dass Pornos das Hirn schrumpfen und den Menschen emotional abstumpfen lassen, konnten die Forscher aber nicht bestätigen, denn es könnte auch umgekehrt sein: Ein kleines Striatum bringt die Menschen womöglich erst dazu, sich mehr Pornos anzuschauen. Um das eindeutig zu klären, müsste man Abstinenzler, die keine Pornos schauen, dazu bringen, dies zu tun, um deren Hirnveränderungen zu vermessen.

Was schwierig werden könnte …

Genau. Es gibt allerdings auch wissenschaftliche Stimmen, die die Rede von der Pornosucht für Unsinn halten. In einer US-amerikanischen Studie wurde untersucht, wie das Gehirn vermeintlich Pornosüchtiger auf sexuelle Stimuli reagiert. Das Ergebnis: ganz anders als bei Drogenabhängigen. Das Gehirn wies keine suchttypischen Reaktionen auf. Der übermäßige Pornokonsum habe mehr mit einer stark ausgeprägten Libido zu tun als mit Veränderungen der Gehirnaktivität. Was wirklich krank machen kann, sind einer anderen Studie zufolge eher die Schuldgefühle, Angstzustände und Depressionen, die der moralische Konflikt in uns auslöst: Ich kann nicht anders als mich Pornos hinzugeben (womöglich sogar Schwulen- oder Transpornos), dabei ist das eine Sünde und macht noch dazu meine Ehe kaputt! Je mehr wir in solchen Wertevorstellungen verwurzelt sind, desto dramatischer erscheint uns dieser Konflikt. Der Psychologe David J. Ley schreibt deshalb, dass eine Therapie nicht darauf abzielen sollte, das Porno-Konsumverhalten zu verändern, sondern eher darauf, den inneren Konflikt bewusst zu machen und das Sexualverhalten mit den eigenen Werten in Einklang zu bringen.

Das eigentliche Problem sind demnach also wieder religiöse Verkrampfungen. Dabei sind Porno-Industrie und christlicher Fundamentalismus gar nicht so weit voneinander entfernt: Im gegenwärtigen Hardcore-Internet-Porno spiegeln sich ultrakonservative, streng patriarchale Geschlechterbilder. Man möchte den Rappern von K.I.Z. zustimmen, wenn sie im Titelsong ihres Albums „Hurra, die Welt geht unter“ einfordern, Sex zu haben, wie sie wollen – „und nicht, wie die Kirche oder Pornos es uns erzählen.“ Tatsächlich scheint das Porno-Patriarchat einen ähnlich normierenden Einfluss auf unsere Körper und Begehren zu haben wie einst die katholische Kirche.

Was bitte?

Schau dir doch zum Spaß mal ein paar Clips an! Das meiste, was die Mainstream-Industrie hervorbringt, erschöpft sich in den immer gleichen Ritualen, als folgten die Regisseure einem „Porn-for-Dummies“-Handbuch, das für den Schluss nur leichte Variationen einer obligatorischen Szene zu erlauben scheint: Die Frau kniet mit geöffnetem Mund nieder vor dem Mann und erwartet sein Ejakulat so sehnsuchtsvoll, als handelte es sich um ambrosischen Nektar. Er bespritzt ihren Körper sodann großzügig und zementiert damit die Ordnung der Dinge. In dieser Welt wird nicht gerüttelt an der Rollengewissheit des Mannes als des aktiv Penetrierenden, der mit der Gewalt seines Gemächts in Öffnungen hineinstößt. Die Frau ist hier vor allem eines: ein Loch, das gefüllt werden will. Passiv empfangend oder besser: erleidend, auch dort, wo sie vermeintlich geil auf harten Sex ist und diesen einfordert: „Fuck me harder!“ Die Settings: sterile Hotelzimmer oder seelenlos eingerichtete Apartments mit Pool. Die Kameras fokussieren die Geschlechtsteile und Körperflüssigkeiten, als ginge es beim Sex nur um das Rein und Raus – in einer uninspirierten Abfolge altbewährter Posen, von Blow-Job bis Doggy-Style. Alles ordentlich in Kategorien und Kanäle sortiert, je nach Geschmack und Vorliebe.

Was sind das denn für Geschmäcker und Kanäle?

Da wäre zum Beispiel „Brazzers“, Nummer-eins-Kanal auf Pornhub, der sich auf silikonimplantat-bepolsterte Riesenbrüste spezialisiert hat. Der Kanal „Blacked“ zeigt Afroamerikaner mit überdurchschnittlich großen Penissen, die über zarte weiße Schönheiten herfallen – eine seltsam spätkoloniale Fantasie, der ein rassistisches Weltbild zugrunde liegt. Und dann gibt es die Kanäle, die Authentizität vorgaukeln, also „echten Amateur-Sex“ wie die Dancing-Bear-Serie, in der ein männlicher Stripper bei einem Junggesellinnenabschied performt, bis die Frauen komplett die Beherrschung verlieren.

Aber wer steckt überhaupt hinter der „Porno-Industrie“?

Gute Frage: Bevor Tube-Seiten wie Pornhub und xHamster an den Start gingen, bestimmten Unternehmer wie Steven Hirsch mit seiner Firma Vivid Entertainment den Markt. Das Wirtschaftsmagazin Forbes ernannte Hirsch sogar Mitte der Nullerjahre noch zum „Porn King“. Konsument:innen waren früher durchaus dazu bereit, für Pornos zu bezahlen. Das Highspeed-Internet hat dann bekanntlich Hürden abgebaut und es erstmals möglich gemacht, sonntagnachts privat und vermeintlich unbeobachtet Pornos zu schauen, ohne dafür den beschämenden Blick eines anderen aushalten zu müssen, im schmuddeligen Sex-Kino oder an der Kasse der lokalen Videothek. Mit den Gratis-Tube-Seiten, deren Geschäftsmodell darin bestand, Geld nicht mehr mit Content, sondern mit Werbebannern zu verdienen, sank die Zahlungsmoral. Die Kunden wanderten zu den freien Portalen ab, die Einkünfte der etablierten Firmen gingen um 50 bis 80 Prozent zurück, wie man in diesem sehr spannenden Artikel aus dem New York Magazine nachlesen kann, der die Geschichte und die Zusammenhänge der „Free-Online-Porn-Explosion“ erklärt.

Aber wie genau verdienen diese Portale Geld, wenn sie die Videos umsonst zur Verfügung stellen?

Soweit ich das herausfinden konnte: durch Werbung, die zu eigenen und fremden Bezahlseiten führt, das Verlinken von Videos, Live-Cam-Seiten und durch die Premiumkunden, die weiterhin bereit sind, für eine höhere Auflösung und Videos in voller Länge tiefer in die Tasche zu greifen. Dieses Geschäft lohnt sich offenbar, selbst wenn die zahlende Klientel nur einen Bruchteil ausmacht. Grundsätzlich gilt: Piraterie, also illegal hochgeladener Content, die Große Rezession 2008 und Amateurpornos haben die Porno-Industrie – Verzeihung – gefickt. Das „Goldene Zeitalter“ war für alle Beteiligten irgendwann nur noch ein feuchter Traum.

Uhuuu, das „Goldene Zeitalter“, soso …

Ohhh ja, das „Goldene Zeitalter“. Und damit kommen wir langsam zum Höhepunkt unserer Unterhaltung. Wären wir in einem Porno, würden die Darsteller:innen nun „Oh my God, oh my God“ rufen und die Augen verdrehen, weil sie vor lauter Orgasmus gar nicht mehr wissen, wohin mit ihrer Lust.

Gut, dass wir in keinem Porno sind.

Das „Goldene Zeitalter“ also:

Im engeren Sinne sind damit die Siebzigerjahre gemeint, in denen Pornofilme erstmals nicht mehr nur in der schmierig-schmuddeligen Halbschattenwelt der Bahnhofskinos, sondern in größeren Mainstream-Häusern gezeigt wurden: Den Anfang machten Andy Warhols „Blue Movie“ (1969) und Bill Oscos „Mona“ (1970), am bekanntesten aber ist „Deep Throat“ (1972), der als Low-Budget-Film 25.000 Dollar gekostet und 600 Millionen eingespielt haben soll, was offenbar vor allem Mafia-Familien bereicherte. Er hatte nicht nur kommerziell großen Erfolg, sondern auch immensen Einfluss auf die Popkultur. 1973 erschien ein fünfseitiger Artikel in der New York Times, der den Begriff des „Porno Chic“ etablierte. In der Zeit der Frauenbewegung und der „sexuellen Revolution“ verklärte man den Film als Befreiung.

Oha. „Deep Throat“: Worum geht’s da nochmal?

Eine junge Frau, gespielt von Linda Lovelace, empfindet keine Lust beim Sex und lässt sich deshalb von einem Arzt untersuchen, der bald eine plausible Erklärung dafür hat: Ihre Klitoris ist nicht dort, wo sie sein sollte, sondern – tja – im Hals. Daher der Titel, der ins Deutsche übersetzt „Tiefer Rachen“ bedeutet.

Klingt, ehrlich gesagt, ziemlich albern. Was genau rechtfertigte denn die große Aufmerksamkeit für solche Filme?

Klingt komisch, aber tatsächlich das erzählerische und filmische Niveau bei vergleichsweise kleinem Budget. Ein besseres Beispiel ist das Porno-Musical „Alice in Wonderland“ von 1976.

Nicht im Ernst: Alice in Wonderland als Porno-Musical?

Aber ja, mit anspruchsvollen Gesangs- und Tanzeinlagen, Choreographien und skurrilen Kostümen, einer halbwegs nachvollziehbaren Handlung und witzigen Dialogen, begeistert besprochen in seriösen Medien. Erzählt wird die Geschichte einer verklemmten Bibliothekarin, die in ihrem Wunderland-Traum allerlei sexuelle Abenteuer erlebt, sich selbst und ihren Körper entdeckt und dadurch endlich zur eigenen Sexualität findet. Überhaupt lebten viele Filme dieser Zeit von surrealem Humor, nicht nur in den USA, auch in Europa. Hier waren es vor allem französische Filme, die das Genre auf eine neue Ebene hoben. Schon die Settings zeugen von bemerkenswertem Einfallsreichtum: Zirkusmanegen, Pferdeställe, Theaterbühnen, Taxirückbänke mit Blick auf Paris, stilvoll eingerichtete Appartments und Landhäuser. Zum aufwendig kostümierten Personal zählten neben gelangweilten Gattinnen und zwielichtigen Gangstern auch Zauberer, Landgutbesitzer, Diener in Livree, Artisten, Rumtreiber und nicht zuletzt: sprechende Vulvas wie in „Le Sexe qui parle“ (1975).

Ha! Das heißt, die Filme waren im Grunde feministisch?

Einerseits ja, es war die Zeit der Frauenbewegung und es gab feministische Motive, andererseits: nein. Wie immer, wenn von einem „Goldenen Zeitalter“ die Rede ist, haben wir es mit einer wirklichkeitsverzerrenden Romantisierung zu tun. In der Doku „L’Age d’Or du X“ (2006), die die „Goldenen Jahre“ Revue passieren lässt, sagt einer der wichtigsten französischen Erotikfilmproduzenten: „Wir nennen diese Jahre das Goldene Zeitalter, weil die Brüste der Mädchen noch natürlich waren, nicht aus Silikon, ebenso natürlich war ihre Schambehaarung.“ Die Frauen hätten auch keine Leistung nach Tarif erbracht, „sie machten das, weil sie Freude daran hatten, sich befriedigen lassen wollten.“ Dass Frauen aus reiner Lust heraus in Pornofilmen mitspielen, gehört zum verbreiteten Narrativ des Geschäfts, dem männliche Betrachter allzu gern Glauben schenken. Auch Brigitte Lahaie, die vielleicht bekannteste französische Darstellerin der Siebzigerjahre, bedient diese Fantasie. „Das waren Frauen, die sich vom Joch der Bourgeoisie befreien wollten, von ihren Ehemännern, um zu zeigen, dass sie ebenso gut Geliebte haben und sich sexuell ausleben konnten.“

Die krasseste Gegenerzählung dazu ist die der Linda Lovelace.

Die aus „Deep Throat“?

Genau, Linda Boreman, wie sie eigentlich hieß. Sie hat acht Jahre nach „Deep Throat“ ein Buch veröffentlicht, das den Titel „Ordeal“ (deutsch: Martyrium) trägt. Darin schildert sie, wie sie zu einer Sklavin ihres damaligen Ehemannes wurde, einem ehemaligen Bordellbesitzer: Ihrem Bericht zufolge zwang er sie zur Prostitution und zum Sex mit Hunden, er drohte ihr damit, sie zu erschießen, er behielt ihr Geld ein, auch ihre „Deep-Throat“-Gage, er übte mit ihr, wie sie ihren Würgereflex unterdrücken konnte, um seinen Penis komplett in Mund und Rachen aufzunehmen, er führte Gartenschläuche in ihren After ein, er trat und schlug auf sie ein. Der Film muss heute in diesem Zusammenhang gesehen werden. Linda Boreman wurde selbst oft mit dem Satz zitiert: „Wann immer Sie diesen Film sehen, sehen Sie, wie ich vergewaltigt wurde.“ Vor dem Hintergrund solcher Geschichten lässt sich auch gut nachvollziehen, weshalb die feministische Zeitschrift Emma und ihre Herausgeberin Alice Schwarzer immer wieder PorNO-Kampagnen initiiert haben. Für sie ist Pornographie ausschließlich „die Verknüpfung von sexueller Lust mit Lust an Erniedrigung und Gewalt.“ Und tatsächlich häufen sich Berichte von Gewalt am Set.

Was weiß man denn über Gewalt am Set?

Einen Eindruck davon vermittelt die Netflix-Doku „Hot Girls Wanted“. Sie begleitet junge Frauen, wie sie – kaum 18-jährig – einer Industrie zugeführt werden, die immer neues „Frischfleisch“ braucht, um die Konsument:innen, Pardon, bei der Stange zu halten. Auch gegen James Deen, einen der beliebtesten US-amerikanischen Pornodarsteller, der in Online-Foren immer wieder als Feminist gefeiert wurde, gibt es seit 2015 Vergewaltigungsvorwürfe. Seine ehemalige Partnerin, die Darstellerin Stoya, schrieb in einem Tweet, er habe sie vergewaltigt, ihr „Nein“ und ihr „Safeword“ ignoriert. Auch andere Darstellerinnen beschuldigten ihn, auf brutale Art und Weise Grenzen überschritten zu haben. Deen wies die Vorwürfe zurück. Diesem Vice-Artikel zufolge tat dies seiner Karriere keinen Abbruch. Hinzu kommt eine auffällige Vielzahl früher Todesfälle in der Branche, nicht selten ist dabei (als bestätigte oder vermutete Todesursache) von einer Überdosis die Rede. So starb 2017 die Pornodarstellerin August Ames mit 23 Jahren, ein Jahr zuvor Amber Rayne mit 31 Jahren, 2019 Jessica Jaymes mit 43 Jahren.

So gesehen hat die PorNO-Bewegung doch recht. Eine Welt ohne Pornos wäre eine bessere Welt.

Nun ja, nicht ganz, denn es gibt längst auch feministische Pornos, die Sex ganz anders inszenieren.

Aha. Wie denn?

Geduld, Geduld, erkläre ich dir ja gleich.

Wieso erst gleich?

Weil man nicht immer sofort alles preisgeben sollte. Ebendas unterscheidet echte Erotik von Brachialpornographie: die langsame Enthüllung, das Hinauszögern, das Spiel mit Erwartungen.

Ist das so?

Aber ja! Also: Der PorNO-Bewegung steht eine PorYes-Bewegung gegenüber, die sexistische Darstellungen, nicht aber Pornographie an sich ablehnt. „Sexpositive Feminist:innen“ haben einen Kriterienkatalog für eine positive Erotik-Kultur entwickelt (hier nachzulesen): Dazu zählen unter anderem keine frauenfeindlichen Darstellungen, Praktiken in Absprache mit den Agierenden, ethische Arbeitsbedingungen, Safer Sex, eine Vielfalt der Körpertypen und der sexuellen Orientierungen, Diversität in jeder Hinsicht, Schwerpunkte auf weiblicher Lust statt geradlinigem Hinarbeiten auf die Ejakulation des Mannes. Seit 2009 wird in Berlin an solche Filme der PorYes-Award verliehen.

Und was unterscheidet diese Filme nun genau vom sexistischen Mainstream? Der Mann ejakuliert nicht mehr auf den Körper der Frau?

Falsch. Das wäre zu einfach. Auch in feministischen Filmen geschieht es, dass ein Mann ejakuliert, ja gelegentlich sogar auf den Körper der Frau. Es kann überdies eine durchaus feministische Fantasie sein, dass eine Frau sich einem Mann im Spiel unterwirft, sich von ihm fesseln, anketten und dominieren lässt. Entscheidend sind dabei vielmehr die Erzählperspektiven und die Kameraeinstellungen. Eine der bekanntesten und erfolgreichsten feministischen Porno-Produzentinnen ist Erika Lust.

Schon wieder so ein sprechender Name. Sie heißt wirklich so?

Nein, nein, anders als „Cockburn“ ist das ein Künstlername. Sie heißt eigentlich Erika Hallqvist und kommt aus Schweden, wo sie Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Menschenrechte studiert hat. Seit 20 Jahren lebt sie in Barcelona, von wo aus sie dem Genre ganz entscheidende Impulse gegeben hat, ästhetisch wie inhaltlich. In ihren Filmen interessiert sie sich weniger für das bloße Nacheinander akrobatischer Sexstellungen, sie erzählt immer eine Geschichte, nicht nur, aber oft aus einer weiblichen Perspektive: wie zwei oder mehr Menschen zueinander finden, wie sie sich berühren, eine emotionale Verbindung herstellen, füreinander in bestimmte Rollen schlüpfen.

Dabei werden nicht nur die Geschlechtsteile in den Fokus genommen, sondern auch Gesichtsausdrücke, die Haut und andere Körperteile wie der Bauch, die Arme oder der Rücken der Darsteller:innen. In ihrer Reihe „XConfessions“ verfilmt Lust die Fantasien ihrer Community: crowdbasierte Pornographie, wenn man so will. Wie Lust zur Porno-Produzentin wurde und warum sich Pornos ändern müssen, hat sie zum Beispiel auch in ihrem humorvollen TED-Talk erklärt:

https://www.youtube.com/watch?v=Z9LaQtfpP_8&has_verified=1

Was ihre Filme zu feministischen und ethischen Pornos macht, ist aber auch das, was hinter der Kamera passiert. Die Darstellerinnen haben Mitspracherecht, was ihren Partner betrifft, sie sehen das Drehbuch vorab, werden über Krankheiten und so weiter informiert und bekommen einen fairen Vertrag. Am Set und im Schnitt sind es dann vor allem Frauen, die über die Inszenierung bestimmen.

Spannend, aber ich frage mich immer noch: Wie sollen wir damit umgehen, dass Kinder und Jugendliche heute so leicht Zugang zu Hardcore-Pornos haben. Sollten Pornos in den Schulunterricht aufgenommen werden?

Viele fordern das, Sexualtherapeut:innen, Forscher:innen und Politiker:innen, da sich junge Menschen zwischen 14 und 17 Jahren Studien zufolge primär ohnehin durch Pornos über Sexualität informieren. Das Problem ist, dass Mainstream-Internet-Pornographie in der Regel nicht aufklärt, sondern eher verstört – und dass seriöse Aufklärungsvideos oft zu steril wirken. Feministisch-ethische Pornos, die bereits in Arthouse-Kinos gezeigt werden, haben zweifellos aufklärerisches Potenzial, weil sie eine Diversität abbilden, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit gerecht wird. Die Berliner SPD hat deshalb gefordert, feministische Pornos staatlich zu fördern. Auch das ist im Grunde eine ehrenwerte Idee. Aber: Die Vorstellung, dass Politiker:innen Einfluss auf unser Bild von Sexualität nehmen, so gut ihre Absichten auch sein mögen, hat etwas Erschreckendes. Noch viel wichtiger als staatliche Förderung und Pornokunde im Schulunterricht ist, dass Eltern offen mit ihren Kindern sprechen.

Okay, aber was genau soll ich meinen Kindern sagen?

Da hat Erika Lust gemeinsam mit ihrem Mann Pablo Dobner ganz spannende Vorschläge gemacht. Die beiden haben einen kostenlosen Leitfaden für Eltern entwickelt, der das Thema Pornographie für verschiedene Altersgruppen aufbereitet, für Kinder unter elf Jahren, für Jugendliche zwischen elf und 15 Jahren und für Teenager, die älter als 15 sind. Zu finden ist das Material auf ihrer Non-Profit-Website The Porn Conversation. Es ist ihnen besonders wichtig, dass Eltern ihre Kinder nicht belehren, ihnen keine Vorwürfe machen oder Vorträge halten, sie sollten Pornos auch nicht verteufeln. Es geht Lust und Dobner um solche Dinge hier: Pornos zeigen keinen realen Sex und haben nichts mit echten Beziehungen zu tun, die auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen beruhen. Frauen und Männer haben Intimbehaarung – das ist völlig normal. Sexuelle Vorlieben allein aufgrund der Hautfarbe zu definieren, ist rassistisch und verletzend. Von Frauen sollten niemals sexuelle Handlungen als Gegenleistung für etwas erwartet werden. Zieh dich niemals für jemanden aus, wenn er dich unter Druck setzt, schon gar nicht vor einer Kamera!

Ganz zentral für das Gespräch sei der positive Ausgang, nach dem Motto: „Du kannst mit mir über alles reden, ich werde dich dafür nicht verurteilen. Es ist völlig normal, Sex sehen zu wollen. Du musst dich deshalb nicht schuldig fühlen.“ Falsche Scham löst sich durch das offene Gespräch auf. Je älter die Jugendlichen werden, desto wichtiger werde die Unterscheidung zwischen „gesunden“ und „ungesunden“ Pornos, wobei letztere unrealistische Schönheitsstandards vermitteln und Sex als etwas darstellen, was einer Person angetan wird. Man sollte also auch über die Gründe sprechen, weshalb Pornos ethisch und feministisch sein sollten.

Schön und gut. Aber sind feministisch-ethische Pornos nicht absolute Nischenprodukte, für die sich die überwältigende Mehrheit der Pornokonsument:innen überhaupt nicht interessiert?

Leider ja, vor allem deshalb, weil gute Pornographie (ähnlich wie guter Journalismus) was kostet. Wer seine Darsteller:innen gut behandelt und ordentlich bezahlt, kann keine kostenlosen Clips zur Verfügung stellen. Erika Lust erreicht nach eigenen Angaben immerhin schon ein recht breites Publikum: 60 Prozent Männer, 40 Prozent Frauen, hauptsächlich zwischen 25 und 45 Jahren. Interessant ist außerdem, dass die feministischen Impulse gelegentlich schon den Mainstream beeinflussen. So gibt es bei Pornhub immerhin Kategorien wie „Popular with Women“ oder einen Kanal wie „Deeper“, der eine cineastischere Ästhetik anbietet und den eher konventionellen Sex in eine halbwegs anspruchsvolle Fantasie einbettet. Wenn sich auch die Mainstream-Filme in diese Richtung weiterentwickeln, könnten wir bald ein neues Goldenes Zeitalter erreichen, in dem Pornofilme tatsächlich zu einer besseren Welt beitragen können.

Große Worte! Wie das denn?

Indem Geschlechterrollen aufgebrochen, neue Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit erzeugt werden. Wir vergessen oft, dass man Sexualität auch ganz anders denken kann: Die Philosophin Bini Adamczak zum Beispiel hat der Penetration den Begriff Circlusion gegenübergestellt. Wir gehen immer davon aus, dass der erobernde Mann die empfangende Frau mit der Macht seines Penisses penetriert. Dabei könnte es genau umgekehrt sein: Die Frau umschließt und überstülpt den Penis mit ihrer Vulva – das Machtverhältnis von Aktivität und Passivität ist damit auf den Kopf gestellt. Auch die in Berlin lebende Electro-Punk-Sängerin Peaches ist eine Meisterin darin, sexuelle Symbole umzudeuten: Sie schlüpft in überdimensionierte Penis- oder Vulva-Kostüme – und funktioniert Sex-Toys, die Frauen auf ihre Öffnungen reduzieren, zu speienden Fontänen um. All das könnten Impulse für das neue Goldene Zeitalter sein. Überhaupt könnten Pornofilme mehr Humor vertragen. Sex wird viel zu oft als eine harte und ernste Angelegenheit dargestellt, über die man nicht lachen darf. Dabei würde Lachen bei der Entkrampfung helfen. Du hast bis hierhin immerhin auch schon ein paar Mal gelacht, oder?

Hm, okay, ab und zu ein bisschen.

Du musst deshalb nicht rot werden.

Werde ich nicht.

Wirkte nur so, war wohl das Licht. Entscheidend ist, dass wir zu mündigen Porno-Konsument:innen werden, dass wir mehr über die Geschichte und Hintergründe der Porno-Industrie lernen, über steinzeitliche Geschlechterbilder und falsche Mythen aufgeklärt werden und unser Konsumverhalten anpassen können. Wäre doch schön, wenn wir uns beim Pornoschauen nicht mit Brutalität, Dummheit und Ausbeutung abfinden und alle unsere ästhetischen und ethischen Vorstellungen vom guten Leben über den Haufen werfen müssten, wie es der Philosoph Alain de Botton formuliert hat. Je besser sich unsere inneren Werte und unsere Pornokonsumgewohnheiten miteinander in Einklang bringen lassen, desto weniger Schuldgefühle tragen wir mit uns herum. Je besser der Pornofilm wird, desto näher kommen wir dem Ende der Scham.


Redaktion: Philipp Daum; Produktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Martin Gommel.