Muss München aufhören zu wachsen, um attraktiv zu bleiben?

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Geld und Wirtschaft

Muss München aufhören zu wachsen, um attraktiv zu bleiben?

Städte, die schrumpfen und deswegen Probleme bekommen – davon hören wir oft. Aber München ist anders. Die Stadt wächst und wächst und wird deswegen weniger lebenswert. Findet jedenfalls eine Gruppe von Bewohner:innen, die nun verhindern will, dass sich neue Firmen in der Stadt ansiedeln. Meinen die das ernst?

Profilbild von Katharina Mau

Mit Mitte 50 wird Dirk Höpner zum ersten Mal in seinem Leben politisch aktiv. Er sieht ein Plakat für eine Veranstaltung: Eine Bürgerinitiative möchte verhindern, dass freie Flächen in Höpners Stadtteil bebaut werden. Er fängt an, sich mit dem Thema zu beschäftigen und kommt zu dem Schluss, dass Münchens Wachstum die Lebensqualität der Bewohner einschränkt. Volle S- und U-Bahnen, mehr Stau, weniger grüne Flächen. Heute, zweieinhalb Jahre später, kandidiert er als Oberbürgermeister der München-Liste, einer Wählergruppe, die das Wachstum ihrer Stadt begrenzen will.

Höpner lebt seit den 1980er Jahren in Feldmoching-Hasenbergl, einem Stadtbezirk im Norden von München. Neben der S-Bahn-Station gibt es einen Bahnübergang. Er wirkt wie eine Bastion des alten Münchens, in dem die Menschen noch Zeit hatten, an einer Schranke zu warten. In dem man den Verkehr noch minutenlang anhalten konnte, ohne dass massenhaft Autos im Stau standen. Heute verschwinden immer mehr Bahnübergänge, an ihre Stelle treten Unterführungen, durch die der Verkehr ohne Pause fließen kann. So ein Umbau ist auch hier geplant: Baubeginn 2024. Bauzeit bis zu sechseinhalb Jahre.

Der Umbau ist Symptom von Münchens Wachstum. Die Stadt rechnet damit, dass 2040 etwa 300.000 Menschen mehr in München leben werden als heute. Die Kaufkraft je Einwohner liegt mehr als 30 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. In München sitzen mehr DAX-Unternehmen als in jeder anderen deutschen Stadt.

Muss eine Stadt wie München wirklich immer weiter wachsen? Wenn die Politik das Wachstum ihrer Stadt mit Absicht bremsen würde, würde sie das nicht lebenswerter machen? Es sind diese Fragen, die sich Münchner nach Jahren des Booms plötzlich stellen müssen. Die München-Liste will nicht nur die Menschen ansprechen, denen Klimaschutz wichtig ist. Sie wenden sich auch an Menschen, die sonst vielleicht die CSU wählen, aber jetzt das Gefühl haben, ihre Stadt entwickelt sich in eine falsche Richtung, erstickt durch zu viel Wachstum. Menschen, die sich weniger Arbeitsplätze für ihre Stadt wünschen – das dürfte es schon lange nicht mehr gegeben haben.

Die München-Liste sagt: Die vielen Arbeitsplätze sind schuld an den zu hohen Mieten

Der Ortskern von Feldmoching sieht fast ein bisschen dörflich aus. Alte Häuser, eine Kirche. „Hier gibt es noch Bauern“, sagt Höpner. Etwas weiter draußen: große, freie Flächen, die die Landwirte nutzen. Höpner steht am Rand eines Feldes, auf dem bald gebaut werden soll und zeigt, wo Häuser stehen werden, wo eine Schule.

Später sitzen wir in einer Bäckerei mit Café und Höpner zieht ein paar Zettel aus seiner Tasche. Auf einem ist eine Grafik zu sehen: Sie zeigt die Entwicklung der Arbeitsplätze und der Wohnungen in München seit 2009. Die Kurve, die das Wachstum der Arbeitsplätze zeigt, steigt stärker an als die der Wohnungszahl. Darüber die Kurve „Miete“, die ebenfalls ansteigt.

Höpner sieht darin einen direkten Zusammenhang: Je größer die Diskrepanz zwischen Arbeitsplätzen und Wohnungen, desto höher die Mieten. Deshalb möchte die München-Liste, dass weniger neue Arbeitsplätze entstehen. Die Mittel, mit denen die Wählergruppe das erreichen will: Weniger Gewerbeflächen in München ausweisen, keine Werbung für München als Wirtschaftsstandort machen, umliegende Orte in der Region stärken, sodass mehr Menschen dorthin ziehen wollen statt in die Stadt.

Elisabeth Merk, die das Referat für Stadtplanung und Bauordnung der Stadt München leitet, widerspricht der Rechnung, die Höpner aufmacht. Es gebe in München eine riesige Pendlerbewegung sowohl vom Umland in die Stadt als auch umgekehrt. Daher könne man die Zahl der Arbeitsplätze nicht direkt mit der Nachfrage nach Wohnraum vergleichen. „Die stark gestiegenen Mieten hängen mit den Entwicklungen in der Finanzwirtschaft zusammen“, sagt sie. Wegen der niedrigen Zinsen würden Investoren stärker in den Immobilienmarkt drängen und die Preise hochtreiben.

Fest steht, dass Wohnraum in München knapp ist. Die München-Liste würde neue Wohnungen bauen – aber nicht so viele wie die anderen Parteien, die momentan über Münchens Zukunft bestimmen. Und nicht auf den Feldern in Feldmoching. „Je mehr wir zubauen, desto heißer wird es in der Stadt“, sagt Höpner. „Wir schaden der Umwelt, zerstören die Artenvielfalt.“

Kritiker sagen: Wachstum kann man nicht so leicht steuern

Mark Michaeli ist Professor für nachhaltige Stadtentwicklung an der TU München. Er teilt die Sorge, dass München zu sehr zugebaut wird, vor allem am Stadtrand. Dort würden gerade immer wieder Einfamilienhäuser abgerissen werden, um größere Gebäude auf den Grundstücken zu errichten. „Dadurch fällt immer mehr Grünfläche weg, weniger Vögel, weniger Bäume, die Stadt heizt sich stärker auf“, sagt Michaeli.

Doch er zieht nicht die gleichen Konsequenzen wie die München-Liste: „Ich halte es für gefährlich, dass die Partei suggeriert, dass wir Wachstum auf kommunaler Ebene steuern könnten“, sagt er. Wenn es dann nicht funktioniere und das Wahlversprechen nicht eingelöst werde, könne es zu Enttäuschungen kommen. Dass Menschen und Firmen nach München kommen wollen, sei Teil einer größeren Entwicklung. Die Stadt München könne nicht alleine gegensteuern. Michaeli sieht die Lösung darin, möglichst gut mit dem Wachstum umzugehen. Das bedeutet auch: Nicht Mehrfamilienhäuser in Vorortsiedlungen zu setzen, sondern auf einem großen Gebiet, wie den Flächen in Feldmoching, ein ganzes Quartier zu bauen. Dort könnten Menschen auf engerem Raum leben als in den Vororten, und es lohne sich, neue, nachhaltigere Verkehrskonzepte zu entwickeln.

Auch Stadtbaurätin Merk findet die Forderung der München-Liste, das Wachstum zu begrenzen, zu kurz gedacht. „Man muss sich sehr gut überlegen, welches Gewerbe eine Stadt braucht, um lebensfähig und zukunftsfähig zu sein“, sagt sie. München sei zum Beispiel stark geprägt von der Autoindustrie und man wisse nicht, wie sich die Branche entwickle. Deshalb müsse man sich überlegen: „Was sind zukunftsfähige Gewerbe?“

Ein großer Teil der Arbeitsplätze in München liege in wissensbasierten Bereichen, Technologie, Forschung. „Darauf würde ich ungern verzichten“, sagt Merk. Eines sei ihr wichtig zu sagen: „Wir kommen aus einer Philosophie des letzten Jahrhunderts, wo man gedacht hat, Wachstum wäre eine Antwort auf alle Probleme – das ist Vergangenheit. Andererseits ist es eine schönfärberische Sicht auf die Welt zu sagen, man könnte das Wachstum per se stoppen.“

Auch Wachstumskritiker Höpner kann keine Stadt nennen, die bewusst entschieden hat, nicht mehr zu wachsen

Was das Thema so schwer greifbar macht, ist die Tatsache, dass niemand weiß, was passieren würde. Die München-Liste sagt, Wachstum zu begrenzen, würde München wieder zu einer lebenswerteren Stadt machen. Michaeli hält es für riskant, Wachstum einzuschränken. Man wisse nicht, was man damit auslöse. Merk sagt, man könne Wachstum nicht stoppen, nur steuern.

Es gibt Städte, die enorm darunter leiden, dass das Wachstum eingebrochen ist. Detroit, wo die Krise der Autoindustrie zu fehlenden Arbeitsplätzen, Armut und Kriminalität geführt hat. Pirmasens in Rheinland-Pfalz, das einmal von der Schuhindustrie lebte und heute zu den armen Städten in Deutschland gehört. Es gibt Städte, die damit umgehen konnten, dass Arbeitsplätze verloren gingen und etwas Gutes daraus gemacht haben. Turin in Italien, das Anfang der 2000er Jahre sehr unter der Krise des Autokonzerns Fiat litt und sich dann stärker in eine Kultur- und Wissensstadt wandelte. Doch ein Beispiel für eine Stadt, die sich bewusst dafür entschieden hat, nicht mehr zu wachsen, kann auch Wachstumskritiker Höpner nicht nennen.

Interessant ist, dass die München-Liste keine Klimaschutzpartei ist. Lange hat die Wählergruppe mit der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) verhandelt, die ebenfalls ein zu starkes Wachstum in München kritisiert. „Die ÖDP spricht die Menschen an, die noch ein bisschen konsequenter sind als die Grünen-Wähler“, sagt Höpner. „Das sind aber nicht die Leute, die wir erreichen wollen. Wir wollen die breite Bevölkerung ansprechen, unabhängig vom bisherigen Wahlverhalten. Ich will die Leute erreichen, die hier sitzen.“ Höpner nickt zum Nebentisch. Dort sitzen fünf Menschen im Rentenalter, die Kaffee trinken und Kuchen essen. Sie sprechen bayerisch. „Den ganz normalen Bürger“, sagt Höpner, „der merkt, dass in unserer Stadt etwas schief läuft.“ Einer der Kandidaten der München-Liste war zuvor CSU-Fraktionssprecher in seinem Bezirk. Er wechselte, weil seine Partei in München immer mehr bauen will.

Wachstum begrenzen heißt, vielleicht auch Menschen ausschließen

„Wir fühlen uns den Interessen der Bürger verpflichtet, die schon hier leben, nicht derjenigen, die irgendwann von irgendwo aus Deutschland oder einem anderen Ort auf der Welt nach München zuziehen wollen“, schreibt die München-Liste auf ihrer Webseite. Weniger Arbeitsplätze und weniger Wohnungen – das bedeutet vielleicht auch, dass man Menschen, die gerne nach München kommen würden, aus der Stadt ausschließt. Höpner sagt: Die gleiche Situation werde man haben, wenn auf allen freien Flächen Wohnungen stünden. Dann könne auch niemand mehr zuziehen. „Jetzt haben wir noch Gestaltungsmöglichkeiten“, sagt Höpner. „Wenn wir alles zugebaut haben, nicht mehr.“

Wie geht es denn weiter, wenn alle Flächen in München bebaut sind? Stadtbaurätin Merk sagt: „Die Flächenknappheit ist da und wird immer schwieriger, das ist richtig.“ Aber an den großen Ein- und Ausfallstraßen gebe es zum Beispiel noch viele große Parkplatzflächen, über die man Häuser bauen könne.

Höpner ist der Meinung, die Menschen würden auch an andere Orte ziehen, wenn es dort attraktiver wäre. „Wir brauchen eine Struktur- und Wachstumspolitik, die nicht nur für München gilt, sondern für ganz Bayern, im Grunde für den Bund und vielleicht sogar für Europa“, sagt er. Laut dem Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) stehen in Deutschland über zwei Millionen Wohnungen leer, vor allem auf dem Land. Die München-Liste will die wirtschaftliche Entwicklung in den Regionen fördern, in denen es gerade weniger gut läuft.

Auch Viola Schulze Dieckhoff, die an der Fakultät für Raumplanung der TU Dortmund forscht und mit einem Kollegen das Kollektiv Postwachstumsplanung gegründet hat, sagt: „Wenn man nicht nur für einzelne Städte plant, sondern für eine ganze Region, könnte man dafür sorgen, dass mehr Menschen auch ins Umland ziehen.“

Die Postwachstumsplanerin will Aspekte wie soziale Gerechtigkeit und den Klimawandel stärker in den Vordergrund rücken

Doch den Ansatz der München-Liste, in München per se kaum noch Gewerbeflächen auszuweisen und wenn überhaupt nur Wohnungen zu bauen, findet auch die Postwachstumsplanerin schwierig. „Menschen, die irgendwo wohnen, muss man ja auch versorgen“, sagt sie, „und sei es durch einen Bäcker.“ Sie spricht sich dafür aus, in der Planung stärker das Gemeinwohl in den Vordergrund zu rücken, vor allem auf Aspekte wie soziale Gerechtigkeit und den Klimawandel zu achten.

Doch sie sagt auch, viele Planer:innen stünden vor dem Problem, dass sie sich zwar gute Konzepte ausdenken könnten, die diese Kriterien erfüllen – doch am Ende entscheide der Stadtrat. „Da werden Interessen gegeneinander abgewogen, und dann kann trotzdem das Gewerbegebiet ausgeweitet werden.“ Sie findet deshalb, dass Planer:innen stärker in der politischen Diskussion aktiv sein und alternative Konzepte offener diskutieren sollten. Und dass sie auch den Freiraum dafür bekommen müssten.

„Die Frage, ob Gewerbeflächen wachsen sollen, ist nicht eine des Könnens, sondern des politischen Willens“, sagt Schulze Dieckhoff. „Wie viel Fläche wollen wir wo versiegeln, bis irgendwann Schluss ist? Welche Erfolgskriterien legen wir an die Entwicklung von Fläche an? Wie viel und welche Flächen brauchen wir, um alle gut zu leben?“

Im Café zeigt Höpner ein Luftbild von Feldmoching-Hasenbergl. Darauf sind Inseln von kleinen Rechtecken zu sehen, die sich aneinanderreihen, getrennt von weißen Strichen. Aber auch große viereckige Flächen in verschiedenen Grüntönen: Parks, Wiesen, Felder. Die München-Liste möchte diese grünen Flächen erhalten. Die Stadt aber will untersuchen, wie viele Menschen auf diesen 900 Hektar Grund leben könnten. Das Wachstum der Stadt zeigt sich auch darin, dass sich die Inseln von kleinen Rechtecken, das heißt Häuser und Gewerbe, immer weiter ausdehnen.

Hier spielen vielfältige Bedürfnisse von verschiedenen Gruppen eine Rolle, wie die der kleinen Tiere, die in den Böden leben, die zwar keine ursprüngliche Natur, sondern landwirtschaftliche Flächen sind, aber auf jeden Fall natürlicher als Beton. Dann die der Menschen, die in der Stadt leben, wo es heißer werden könnte, wenn mehr und mehr zugebaut wird. Die der Menschen, die nach München kommen wollen, aber auch derjenigen, die schon in München wohnen und vielleicht wegziehen müssen, weil ihre Wohnung zu teuer wird. Wessen Bedürfnisse wiegen schwerer?


Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Martin Gommel