„Faulheit gibt es überhaupt nicht“

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Leben und Lieben

„Faulheit gibt es überhaupt nicht“

Wer anstehende Aufgaben aufschiebt, gerät schnell in einen Teufelskreis – so wie KR-Mitglied Stephanie, die wissen möchte, wie sie da wieder rauskommt. Ich habe mit einem Psychoanalytiker und einem Arbeitspsychologen gesprochen und gelernt, dass nicht alles, was nach Aufschieberitis aussieht, auch tatsächlich eine ist.

Profilbild von Susan Mücke
Reporterin für Leben und Alltag / Chefin vom Dienst

KR-Mitglied Stephanie erledigt Arbeitsaufgaben immer erst, wenn wirklich kaum noch Zeit bleibt. Am schwersten fällt es der 42-Jährigen, neue Projekte anzufangen. Die Medienpädagogin an der Technischen Universität Berlin entwickelt Online-Module für Weiterbildungskurse und muss sich dafür häufig in sehr trockene Themen einarbeiten. Sie macht dafür zwar detaillierte Pläne, hält sich aber fast nie daran.

„Ich zerstreue mich stattdessen, lese im Internet. Auch meine Frage an dich ist in so einem Moment entstanden“, erzählt sie mir am Telefon. Stephanie hat ein Gefühl dafür entwickelt, wie weit sie das Aufschieben treiben kann: „Wenn der Druck gerade groß genug wird, fange ich an, pragmatisch zu denken, kann Kompromisse machen und entscheide mich, diesmal doch keine neuen pädagogischen Methoden zu entwickeln, sondern beim Bewährten zu bleiben. Dann kann ich auch loslegen und fertigwerden. Ich habe dann die besten Ideen.“ Das ist aber keine gute Lösung.

Stephanie wünscht sich, ihre Zeit im Vorfeld besser zu nutzen, strategisch vorzugehen und nicht gefühlt chaotisch. Sie möchte wissen, was bei Aufschieberitis hilft. Als ich Stephanie frage, wie ihr Alltag aussieht, berichtet sie, dass ihr Tag um 5 Uhr morgens beginnt. Sie pendelt 100 Kilometer zur Hochschule, hat ein kleines Kind und kann sich ihre Arbeitszeit relativ frei einteilen. Sie arbeitet zu 50 Prozent im Homeoffice.

Chronische Aufschieber gelten häufig als Faulpelze, werden schnell als unmotiviert und willenlos abgestempelt. Ich habe neulich einen interessanten Artikel gelesen, dessen Autor, ein Psychologieprofessor aus Chicago, hingegen schreibt: „Faulheit gibt es überhaupt nicht. (Aber unsichtbare Barrieren schon.)“ Diese Barrieren haben nichts zu tun mit Motivation, Leidenschaft oder moralischer Aufrichtigkeit, wie Devon Price sagt. Sondern sind häufig die Angst davor, nicht gut genug zu sein, oder die Verwirrung darüber, was die ersten Schritte einer neuen Aufgabe sind. Price eröffnet damit einen anderen Blick auf Prokrastinierer.

Auch der Berliner Psychoanalytiker Hans-Werner Rückert kennt sämtliche Facetten des Aufschiebens. Er hat 23 Jahre lang die psychologische Studienberatung der Freien Universität Berlin geleitet und viele hundert Studenten in seiner Praxis betreut, die damit zu kämpfen hatten. Er hat Workshops und Seminare dazu geleitet und sich viele Jahre lang mit den Barrieren und tiefer liegenden Konflikten beschäftigt, die uns davon abhalten, in die Gänge zu kommen.

Das sagt der Psychoanalytiker

Rückert sagt: „Wir alle schieben Dinge auf. Projekte, die wir immer schon mal machen wollten, etwa den Keller entrümpeln oder die Festplatte aufräumen, und die wir dann doch nicht erledigen. Krankhaft wird das Aufschieben dann, wenn man die Kontrolle über sein Verhalten verliert.“

Viele Aufschieber:innen machen zunächst etwas anderes, bevor sie anfangen, treffen vorbereitende Maßnahmen. „Früher wurden Bleistifte angespitzt, heute vielleicht Detailpläne erstellt. Das kann so viel Zeit in Anspruch nehmen, dass sich die Betroffenen um die eigentliche Arbeit nicht mehr kümmern können“, sagt der Diplom-Psychologe. Mit dem Anfertigen von Plänen bringen sich Aufschieber:innen aber in Zugzwang. „Sie berauben sich der Freiheit, die sie durch das Aufschieben anschließend wiedererlangen“, sagt Rückert.

KR-Leserin Ulrike, die selbst darunter leidet, rät deshalb: „Gar nicht planen, sondern die wichtigen Dinge sofort machen. Aufschieberitis potenziert sich mit jedem einzelnen Aufschieben.“ Zumal bei kreativen Aufgaben ein Plan häufig auch gar nicht hilft. Und KR-Leser Christoph sagt: „Kreiere eine Kultur des Erledigens. Alles, was keine zehn Minuten dauert, einfach gleich machen. Auch erste Schritte von großen Projekten. Verheddere dich nicht im Schreiben von To-do-Listen. Oft ersetzt das die eigentliche Arbeit.“

Hans-Werner Rückert sagt: „Viele Studierende, die aufschieben, erklären, dass sie nicht in der richtigen Stimmung gewesen seien, ihnen die richtige Inspiration für die Abschlussarbeit fehlte. Damit lügen sie sich in die eigene Tasche. Denn wenn eine Aufgabe wirklich wichtig und dringlich ist, erledige ich sie, egal wie die Rahmenbedingungen sind.“

Andere, wie auch Stephanie, meinen, sie bräuchten den Kreativitätsschub am Ende. „Aber auch das“, sagt Rückert, „ist eine selbstwertdienliche Lüge. Sie holen sich damit den Kick und das gute Gefühl, das Adrenalin verschafft. Sagt man sich nur oft genug, dass man auf den letzten Drücker die besten Ideen hat, wirkt die Autosuggestion. Und das Gehirn sorgt dafür, dass einem zwei Wochen früher tatsächlich kein vernünftiger Satz einfällt. Die Ergebnisse sind aber nachweislich schlechter.“

Aufschieben kann viele Funktionen haben. Hans-Werner Rückert rät, sich einmal folgende Fragen zu stellen:

  • Wann habe ich angefangen zu verschieben?
  • Was würde ich machen, wenn ich nicht aufschieben würde?
  • Was ist das Gute für mich am Aufschieben?

Prokrastinieren kann beispielsweise einen sozialen Gewinn bringen. Wer aufschiebt, tarnt sich häufig als Workaholic, was bei manchen Mitmenschen als schick gilt, pflegt lange To-do-Listen als Statussymbol. Oder erzeugt Aufmerksamkeit bei seinen Freunden, etwa mit der Räubergeschichte, wie er trampend gerade noch rechtzeitig den Flug nach Bali geschafft hat. Was doch viel spannender klingt, als die Geschichte, wie er pünktlich zu Hause losging und mit dem Bus zum Flughafen fuhr.

Häufig dient das Aufschieben auch dem Selbstschutz. Aufgeschoben werden Dinge, die Angst oder Unlust auslösen, Aufgaben, die zuwider oder zu komplex sind. Rückert sagt: „Wenn ich selbst einen hohen Anspruch an mich habe, die Aufgabe aber erst in der Nacht vor Abgabeschluss erledige, kann ich hinterher immer behaupten, dass sie natürlich viel besser geworden wäre, wenn ich mehr Zeit gehabt hätte. So bleibt mein Selbstbild intakt.“ Die geheime Funktion dahinter: Mir bleibt etwas erspart. Indem ich davon ausgehe, ohnehin zu scheitern, verkleinere ich aber meine eigenen Handlungsoptionen systematisch. Auf mittlere Sicht ruiniere ich aber völlig meine Selbstachtung.

Die gute Nachricht: Genauso, wie man Aufschieben gelernt hat, kann man es auch wieder verlernen. Der Psychotherapeut hat eine Liste mit praktischen Ratschlägen für leichte bis mittelschwere Aufschieber erstellt, die, wie er sagt, „bei gut zwei Dritteln der Betroffenen über einige Monate ganz gut funktioniert“. Hier sind die fünf wichtigsten Punkte:

  1. Mache eine Liste von all dem, was du erledigen musst, vergiss dabei Freizeit und Vergnügen nicht. Streiche dann alle Dinge, die du ohnehin nie machen wolltest.

  2. Lege deine eigenen Ziele, Werte und Prioritäten fest. Setze dir realistische Ziele. Und prüfe, ob deine aufgeschobenen Vorhaben damit ausreichend übereinstimmen.

  3. Schätze den Zeitaufwand, bis du dein Projekt erledigt haben wirst und verdoppele dann die veranschlagte Zeit. Verlege die Deadlines, die du einhalten willst, um eine Woche nach vorne.

  4. Fange an, auch wenn du dich nicht motiviert fühlst.

  5. Belohne dich. Wenn dich das Erledigen der Aufgabe selbst nicht befriedigt, iss hinterher eine Praline oder höre deine Lieblingsmusik. Vermeide es, dich damit zu belohnen, dass du anschließend etwas tust, das leichter oder bequemer ist. Denn das ist eine negative und keine positive Belohnung.

Das sagen die KR-Leser

Auch die KR-Leser haben von ihren Erfahrungen berichtet und eine Reihe Ratschläge beigesteuert. „Man könnte es sich zur Angewohnheit machen, jedes neue Projekt damit zu starten, eine erste kleine bis mittelgroße praktische Aufgabe zu erledigen – noch vor Erstellen eines Plans“, rät KR-Leserin Annika. Und Christian fährt gut mit der Devise: „Eat the frog first (Fang mit der unangenehmsten Aufgabe an).“ Dagmar sucht sich einen Tag in der Woche, an dem sie sich zwei Stunden am Stück im Kalender blockt und einträgt: „Telefonisch nicht erreichbar.“ Sie sagt: „Ich zwinge mich, in dieser Zeit nicht in die Mails zu schauen. Dann kriege ich das hin, Aufgaben, die mich nerven zu erledigen.“

Thomas segmentiert alle Aufgaben, die zur Aufschieberitis führen, visuell, zum Beispiel mit Post-its: „Und immer dann, wenn ich einen Punkt erledigt habe, belohne ich mich mit dem Wegwerfen einer Teilaufgabe. Das zeigt Fortschritt, was wiederum motiviert.“ Anne hat es ein- oder zweimal durchgezogen, eine Aufgabe rechtzeitig zu erledigen und dann gemerkt, wie viel weniger Stress es ist. Das hat ihr geholfen. (Alle Tipps und Erfahrungen der KR-Leser findet ihr in meinem nächsten Newsletter, den ihr am Ende des Artikels abonnieren könnt.)

Das sagt der Arbeitspsychologe

Doch nicht immer ist dem Problem auf diese Weise beizukommen. Verschiebungsprozesse können auch ein Zeichen dafür sein, dass es in anderen Lebensbereichen Probleme gibt.

„Womöglich liegt das Problem auch gar nicht in einem selbst, sondern in den Umständen, wie Arbeit und Alltag gestaltet sind“, sagt der Arbeitspsychologe Johannes Hoppe.

Der 33-Jährige hat mit zwei Kollegen von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg untersucht, warum Studierende ihre Abschlussarbeiten nicht rechtzeitig abgeben. Mit dem Ergebnis, dass es häufig gar nicht an den Charaktereigenschaften des Einzelnen liege, sondern daran, dass Aufgaben unklar gestellt sind und das Ziel nicht klar definiert ist. Als ich ihm am Telefon von KR-Mitglied Stephanie berichte, wird er hellhörig, als es um deren Arbeitsbedingungen geht. Er sagt: „Ich würde ihr Aufschiebeproblem einmal aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Sie prokrastiniert womöglich gar nicht, sondern sollte einmal ihre Arbeitsumstände überprüfen. Kinder, Homeoffice, Pendeln sind eigentlich Klassiker, die sehr häufig zu ungesundem Arbeitsverhalten führen.“

Hoppe sagt: „Arbeitgeber sind auch dafür verantwortlich, die Arbeit so zu gestalten, dass die Menschen gesund arbeiten können. Häufig geben sie Wahlmöglichkeiten – lassen aber nur die Wahl, wie sich die Arbeitnehmer selber ausbeuten können und nicht wirkliche Mitsprache hinsichtlich Ressourcen und Zeit, die benötigt werden.“ Die so Arbeitende gerät in einen Teufelskreis: Arbeitet sie zu lange, schläft sie womöglich schlecht, ist am nächsten Tag müde, braucht mehr Pausen, um sich zu erholen, schafft dann nicht alle Aufgaben und so weiter.

Hoppe sagt, dass man sich in einer solchen Lage ruhig gönnen soll, eine Stunde im Internet zu surfen, weil es dem Körper guttut. Das darf man nicht mit Prokrastinieren verwechseln. „Lieber drei Stunden kreativ sein, als sieben Stunden rumhängen.“ Die Arbeitszeiten muss man sich so legen, dass man besser damit zurecht kommt.

„Mütter im Homeoffice neigen dazu, sich mehr auszubeuten. Sie kümmern sich um die Kinder, während parallel Aufgaben reinkommen. Bei Frauen ist Freizeit auch fragmentierter als bei Männern, die zwar weniger frei haben, dafür aber am Stück, was besser ist. “ Der Psychologe verweist hierbei auf die Studie der Hans-Böckler-Stiftung von 2019, nach der Mütter, die sich ihre Arbeit selbst einteilen können, eine Stunde in der Woche mehr arbeiten und sich zusätzlich anderthalb Stunden mehr um die Kinder kümmern, als die mit festen Arbeitszeiten.

Bevor du den Fehler nur bei dir selbst suchst, solltest du dich also auch fragen, ob die Arbeit – oder die Arbeitsbedingungen – tatsächlich zu dir passen.


Mit bestem Dank an alle KR-Leser, die sich beteiligt haben: Silke, Günter, Anne, John, Caroline, Jerome, Maria, Karina, Rike, Ulrike, Nina, Walter, Walburga, Jan, Antje, Julia, Susanne, Anselm, Dagmar, Elina, Matthias, Anna, Thomas, Simon, Martyna, Julia, Dana, Boris, Frank, Andrea, Volker, Annika, Joseas, Klas, Marina, Barbara, Jacob H., Christoph, Daniel, Karin, Christian, Marieke, Arch, Stefanie, Stefan, Susanna, Lizzy, Ulrike, Alexander, Merle, Martin, Michael, Peter, Alfons, Emeline, Stefan, Wolfgang, Michael, Deborah, Micha, Knut, Regina, Phil, Uta, Jessica, Harry, Nicole, Anne, Barbara, Simon, Max, Anne, Carsten, Thomas, Ruth, Anne, Hans-Joachim, Achim, Sabine W., Sarah, Kim, Maike, Ursula und an Stephanie für ihre Frage.