Es war noch nie so aufregend, einfach und billig, einen Einstieg in die klassische Musik zu finden

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Leben und Lieben

Es war noch nie so aufregend, einfach und billig, einen Einstieg in die klassische Musik zu finden

Sieben Jahre Klavierunterricht, zwei Eltern, die in einem Profi-Orchester spielen, und trotzdem hat mich klassische Musik lange nicht interessiert. Durch das Internet habe ich dann meinen ganz eigenen Zugang zu dieser Musik gefunden, und damit bin ich nicht allein. Das kann jeder, diese Musik gehört nicht nur den wenigen Eingeweihten. Wie es geht, beschreibe ich in meiner Klassik-Serie.

Profilbild von Gabriel Yoran

Als ich neun war, kamen meine Eltern monatelang ungewöhnlich spät von der Arbeit nach Hause. Sie waren dann jedes Mal völlig erledigt und ächzten nur: „Mahler!“ Das musste etwas wirklich Schlimmes sein, dachte ich mir damals, „Mahler“.

Meine Eltern waren Profimusiker im Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt (heute hr-Sinfonieorchester). Meine Mutter ist Harfenistin, mein Vater Cellist. Und als ich neun war, hat das Orchester alle zehn Sinfonien des österreichischen Komponisten Gustav Mahler auf CD aufgenommen. So ein Projekt dauert Monate, vielleicht Jahre, und es geht an die Substanz.

Ich komme zwar aus einer Musikerfamilie, fand aber selbst erst spät zur klassischen Musik. Ich weiß, wie es ist, diese Musik nicht zu verstehen. Nach sieben Jahren widerwillig absolviertem Klavierunterricht haben meine Eltern entnervt aufgegeben: Du musst nicht mehr zum Unterricht gehen, haben sie gesagt. Aber wenn du jetzt aufhörst, wirst du es bereuen. Ich war vierzehn. Natürlich habe ich aufgehört, und natürlich habe ich es bereut.

Denn heute ist das Entdecken von klassischer Musik, auch jenseits der großen Namen, eines meiner Hobbys: Ich empfehle seit Jahren mehr oder weniger unbekannte Stücke auf Twitter, und nachdem ich darauf jahrelang meist gar keine Reaktion bekam, änderte sich das schlagartig diesen Sommer. Mehrere Leute baten mich um Playlists, über die sie einen Einstieg in die Klassik finden konnten. Diese vielfach geteilten Playlists wiederum führten zu dem Angebot der Krautreporter, hier eine kleine Einführung zu schreiben.

Ich bin kein Musikpädagoge, kein gelernter Musikvermittler, aber habe durch meinen frühen Kontakt mit der Klassikwelt keine Berührungsängste mit Konzertsälen und Opus-Nummern. Gleichzeitig weiß ich aber, wie nervig es sein kann, zu etwas gezwungen zu werden, was man nicht mag, wie sich die Klassikszene selbst ein Bein stellt mit ihren Hörgewohnheiten, und da ich ziemlich genau nachzeichnen kann, wie ich von völligem Desinteresse zu großer Begeisterung kam, unternehme ich eben diesen kleinen Versuch, euch in diese Welt hineinzuhelfen.

Dank Smartphone und Musikstreaming steht dir eine ganze Welt offen

Es war noch nie so aufregend, einfach und billig wie heute, einen Einstieg in die klassische Musik zu finden. Heute kannst du dich für rund zehn Euro im Monat durch praktisch die gesamte Musikgeschichte hören. Und das überall. Dank Smartphone und Musikstreaming steht dir eine ganze Welt offen, und niemand kann dich stoppen.

Meine Eltern kennen natürlich die Meilensteine der Klassik in- und auswendig, sie haben sie ja selber oft genug geübt und gespielt. Ich habe als Kind und Jugendlicher mit ihnen viel Zeit in Konzertsälen verbracht, die Namen der Komponisten auf den Notenblättern meiner Eltern und in den herumfliegenden Programmheften gelesen und so diese Meilensteine auch kennengelernt. Aber dann entdeckte ich eine komplett neue Welt.

Mit dem Siegeszug der mp3, der mit der Sharingplattform Napster Ende der 1990er begann, bekam ich plötzlich Zugriff auf Musik, die zwar eindeutig für Sinfonieorchester geschrieben war, aber die Namen der Komponisten – und Komponistinnen! – sagten mir nichts. Wie konnte das sein? Konfrontierte ich meine Eltern mit meinen Fundstücken, waren die Reaktionen meist die gleichen: Ich erfuhr im Wesentlichen, bei wem der Komponist „gefrühstückt“, also abgeschrieben, hat. Warum das nur ein „Epigone“ Mozarts war, also eine wenige talentierte Copycat. Warum man dies oder das „zu Recht“ nicht kennt. Der einzige Zugang, den meine Eltern zu der Musik haben, die sie noch nicht kennen, ist durch den – meist abschätzigen – Vergleich mit dem, was sie schon kennen. Alles andere ist entweder „noch vor Bach“, „ein Schüler Beethovens“, „im Stile von Wagner“ und so weiter. Nichts kann für sich stehen, alles ist in Wirklichkeit immer auf etwas anderes bezogen. Die Klassiker der Klassik sind sozusagen so klassisch, da kann nichts gegen anstinken. Was natürlich nicht stimmt.

Meine Eltern sind beide Berufsmusiker

Meine Eltern sind beide Berufsmusiker © Privat

Aber warum ausgerechnet klassische Musik? Klassik ist doch Alte-Leute-Musik, heißt es, ein steifes, elitäres Unterfangen und sterbenslangweilig. Die Klassikszene bedient sich einer verrückten Geheimsprache, und wenn man nicht weiß, was Allegro, Adagio und Sonate bedeuten, wenn man mit Opus-Zahlen und Tonarten nichts anfangen kann, dann kann man es auch gleich lassen.

Ist Klassik nicht das, was einem schon als Kind im Musikunterricht ausgetrieben wird? Peter und der Wolf, Peter und der Wolf, noch ein Peter, noch ein Wolf. Klassik ist auf jeden Fall das, wo man nicht weiß, ob man klatschen darf oder nicht. Klassikkonzerte sind schweineteuer, und die Musik ist völlig überholt. Außerdem hab ich keine passenden Klamotten. Und dies sind nur einige wenige der Ressentiments, auf die ich gestoßen bin, als ich mich für diesen Beitrag umgehört habe.

Klassik hören kostet Zeit

Die Klassikszene ist nicht ganz unschuldig an dieser Wahrnehmung, aber elitäres Gehabe ist kein Spezialproblem der Klassik. Frag mal jemanden, der sich damit auskennt, ob dies oder das noch Hip-Hop ist oder schon Pop, der wird dir auch was erzählen. Die Grenzen zwischen den Genres werden überall streng bewacht. Das Kennergehabe ist im Techno mindestens so schlimm wie in der Klassik, und die Türpolitik ist im Berghain strenger als in der Philharmonie.

Dennoch ist die Klassik kein Breitensport. Klassikhörer haben höhere Bildungsabschlüsse und verdienen im Schnitt mehr als der Durchschnitt. Der Zusammenhang ist relativ klar: Klassik hören kostet Zeit. Man kann es schlecht nebenher machen, zumindest nicht so richtig. Wer also kaum Freizeit hat, weil Arbeit und Familie einen voll in Anspruch nehmen, wer also keine Muße aufbringen kann, für den wird es schwer mit der Klassik.

Barbara Hallama, die für iTunes, Google Music und Klassik Radio gearbeitet hat, sagt, dass wir früher erst von neuer Musik gelesen und sie dann angehört haben. Wir haben CDs gekauft und dann lange das Cover angeschaut und das Booklet gelesen, bevor wir überhaupt irgendwo waren, wo man sie abspielen kann. Heute ist es umgekehrt: Ich kann auf Streamingdiensten Musik entdecken, ohne erstmal irgendetwas über die Künstler, das Genre oder sonst etwas wissen zu müssen.

Empfehlungsalgorithmen machen es möglich. Erst im Nachhinein kann ich mir dann die Hintergründe anlesen, weitere Stücke des gleichen Komponisten entdecken, Hörhilfen in Anspruch nehmen und so weiter. Das Musikstreaming macht, dass tatsächlich die Musik wieder im Vordergrund steht und weniger ihr sozialer Kontext, die Distinktionsakrobatik der Meinungsmacher in den jeweiligen Genres oder die Verwertungsinteressen der Musikindustrie.

Wir können uns heute allein auf das konzentrieren, was Klassik so besonders macht: Es gibt wahrscheinlich keine menschliche Regung, kein noch so zartes oder starkes Gefühl, das nicht in die Form klassischer Musik gebracht worden wäre. Oder anders gesagt: Es gibt wahrscheinlich nichts, was du nicht irgendwo in der klassischen Musik wiederfinden kannst.

Musik kannst du wie eine Sprache lernen

Aber: Einfach nur durchs Zuhören erschließt sich einem die klassische Musik nicht. Die romantische Vorstellung, Musik sei eine universelle Sprache, die jeder versteht, ist nämlich falsch. Berthold Seliger schreibt in dem 2017 erschienen Buch „Klassikkampf“: „Hören wir uns sakrale Flötenmusik aus Neuguinea an oder haitianische Voodoo-Ritualmusik, oder den aserbeidschanischen Mugham eines Alim Quasimov. Verstehen Sie diese ‚Sprachen‘?” Seligers Fazit ist ernüchternd: „Jedes Kind weiß, dass man eine Sprache lernen muss, dass man eine Sprache nicht ohne Weiteres versteht.“

Auch wenn es in Sonntagsreden immer wieder gesagt wird: Musik ist eine Sprache, die man lernen muss – wenn sie überhaupt eine Sprache ist. Denn wir können in Musik nicht diskutieren, wir können in Musik keine Verfassung schreiben, nicht mal eine Pizza bestellen. Und bei klassischer Musik gilt erst recht: Das Hören muss man lernen.


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Krautreporter

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Mitgeholfen haben bei diesem Artikel Holger Schulze und Ivo Zedlitz. Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.

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