Das Erstaunlichste an der ganzen Angelegenheit mit den Mohammed-Karikaturen war, dass danach eine Sache nicht passierte. Das sehe ich erst heute, 18 Jahre später.
Im Herbst 2005 hatte die dänische Zeitung Jyllands-Posten mehrere satirische Zeichnungen über Mohammed, den wichtigsten Propheten des Islam, abgedruckt. Auf einer dieser Zeichnungen war etwa zu sehen, dass er statt eines Turbans eine Bombe als Kopfschmuck trug. In einigen mehrheitlich islamischen Ländern gingen deswegen Zehntausende auf die Straße. Dänische Botschaften brannten, Kirchen in Nigeria wurden verwüstet. 100 Menschen starben auf der ganzen Welt bei diesen Unruhen. Der von so vielen beschworene Krieg der Kulturen schien in der Grøndalsvej 3, der Redaktionsadresse von Jyllands-Posten, in der beschaulichen 30.000 Einwohner-Stadt Viby begonnen zu haben. Bis heute steht der Zeichner der Karikaturen unter Polizeischutz.
Dänemark wurde 2005 von einer konservativen Regierung geführt. Im Parlament saß aber auch die Dansk Folkeparti, die Dänische Volkspartei. Diese Partei setzte Muslime mit einem „Krebsgeschwür“ gleich und bezeichnete ihre Religion als „Terrorbewegung“. In die erste Wahl nach der Mohammed-Krise zog die Volkspartei mit einer offen islamophoben Agenda und hätte deutlich an Stimmen gewinnen müssen. Alles war ja so gekommen, wie es die Volkspartei den Dänen jahrelang gepredigt hatte: Wir sind anders als die. Multikulti kann nicht klappen. Es ist ein Kampf. Wir müssen uns wehren.
Aber die Partei gewann nur einen Sitz dazu. Einen einzigen.
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Dieser Text erschien das erste Mal vor fünf Jahren, ist aber immer noch wichtig und interessant. Deswegen haben wir ihn grundlegend aktualisiert.
Aus der Situation heraus betrachtet, in der Europa heute steckt: kaum zu glauben. Aber es stimmt. Der Durchbruch sollte der dänischen Volkspartei erst zehn Jahre später gelingen. Es brauchte dafür ein anderes, ein viel größeres Ereignis.
Autoritäre Parteien und Neo-Nazis haben gerade wieder Oberwasser, in Deutschland, Schweden, Italien, Ungarn und Polen etwa. Die Debatten über Geflüchtete, Verbrennungsmotoren, Cancel Culture und den radikalen Islam nützen ihnen. Die Rechten hatten immer schon vor, ihre Themen gezielt zu setzen. Das haben sie geschafft.
Der Aufstieg der Rechten begann lange vor der Flüchtlingskrise
Viele schauen auf diese Debatten wie ein Reh auf das herannahende Autolicht in einem dunklen Wald. Sie spüren unmittelbar die Gefahr, und weil ein Wagen nach dem anderen durch die Bäume schießt, weil eine Debatte die nächste jagt, bleibt keine Zeit für die wichtigste Frage: Woher kommt eigentlich diese gottverdammte Straße in dem Wald?
Die rechten Parteien und Bewegungen sind stärker geworden durch die Debatten über Flucht und Migration – aber ihr eigentlicher Aufstieg begann lange zuvor, am 15. September 2008 in New York.
An diesem Tag musste die Investmentbank Lehman Brothers schließen, und es brach sich eine Krise Bahn, die der Westen seit 80 Jahren nicht mehr erlebt hatte. Eine Krise, die den Boden ebnete für das grassierende Misstrauen gegenüber denen „da oben“. Denn die Krise zeigte den Bürgern, dass ihre Banker gierig waren, ihre Experten blind und ihre Politiker unfähig und machtlos, die Krise abzuwenden.
Für jene, die damals die Nachrichten nicht verfolgt haben, muss sich diese These wie eine Provokation lesen. Was haben gierige Banker mit NS-Anspielungen eines Björn Höckes zu tun? Aber es gibt einen direkten Zusammenhang.
Begonnen hatte die Krise auf dem Immobilienmarkt der USA. Die Banken gaben immer mehr Menschen, die eigentlich zu wenig Geld hatten, immer größere Kredite, damit diese sich Häuser kaufen konnten. Diese Kredite verkauften die Banken weiter, diese Käufer wiederum taten das Gleiche und irgendwann wusste niemand mehr, wer eigentlich hinter den Krediten steckte. Immer mehr Schuldner konnten nicht mehr zahlen. Zuerst erwischte es nur jene Banken, die sich auf Immobilien spezialisiert hatten, aber bald auch die riesigen Geldinstitute an der Wall Street und in Europa. Die Blase platzte, Millionen Menschen verloren ihre Häuser, ihre Jobs und ihre Ersparnisse, Legenden der US-Industrie balancierten am Rande des Ruins, und die Regierungen der Welt mussten mit Milliardengarantien die Banken retten. Sie wollten den kompletten Zusammenbruch des Finanzsystems verhindern. Am 5. Oktober 2008 war die Situation im Bankensystem in Deutschland so kritisch, dass der damalige Finanzminister Peer Steinbrück und Bundeskanzlerin Angela Merkel vor die Kameras traten und den Deutschen versicherten: „Die Spareinlagen sind sicher.“
Was als Garantie für das Geld der Bürger gedacht war – die sogar in dem Moment tatsächlich wirkte – erscheint heute als Bankrotterklärung. Es hätte nie so weit kommen dürfen, dass dieser Satz gesagt werden muss.
Nach Finanzkrisen gewinnen rechte Parteien im Schnitt 30 Prozent an Stimmen dazu, linke profitieren nicht
Menschen, die ihr Leben lang kein Gesetz gebrochen, immer gut gearbeitet hatten, die ihre Steuern zahlten und den Abbau ihres Sozialsystems mit Kanzler Schröders Agenda 2010 vielleicht nicht guthießen, aber doch die Notwendigkeit sahen – diese Menschen wurden nun zur Kasse gebeten, um die Fehler auszubügeln, die ein paar Tausend Millionäre in den Investmentbanken gemacht hatten. Vielleicht war das nötig, vielleicht war das wirklich der einzige Weg, einen Zusammenbruch zu verhindern. Mit Sicherheit war es aber unfair.
Das spürte jeder, selbst die Politiker in den Regierungen wussten es. In fast allen Demokratien des Westens hörten in den Monaten der Finanzkrise Millionen Bürger auf, ihren Volksvertretern in den Parlamenten zu vertrauen. Das System hatte sich gegen sie gewandt, jetzt wandten sie sich gegen das System. Sie begannen nach Alternativen zu suchen. Im Süden Europas wandten sie sich nach links, wählten in Spanien Podemos und in Griechenland Syriza, aber im Osten, Westen und Norden wandten sie sich nach rechts:
Die Forscher Manuel Funke und Christian Trebesch vom Kieler Institut für Weltwirtschaft haben sich in einer Studie von 2015 angeschaut, wie Finanzkrisen die Wahlen beeinflussen. Sie analysierten 800 Wahlen, 100 Finanzkrisen, 20 Länder, verteilt über 140 Jahre. Ein sehr guter Datensatz. Sie kamen zu dem eindeutigen Ergebnis: Rechts profitiert. Im Durchschnitt können rechte Parteien in den Jahren nach einer Finanzkrise ihren Stimmenanteil um 30 Prozent steigern.
Die dänische Volkspartei war Nachfolgerin einer Partei, die sich Ende der 1980er Jahre inmitten einer großen wirtschaftlichen Krise gegründet hatte. Verdoppeln konnte sie ihren Stimmenanteil aber erst im Frühjahr 2015, also in den Jahren nach der Finanzkrise. Die Schweizer SVP, für die unter anderen der aus Talkshows bekannte Rechte Roger Köppel im Nationalrat sitzt, konnte erst in dem Moment breitere Schichten erreichen, als die Schweizer Wirtschaft stagnierte und Firmen dicht machen mussten (in Folge einer Immobilienkrise!). Hitlers Partei, die NSDAP, kam im Mai 1928 auf schmale 2,8 Prozent, inmitten der Weltwirtschaftskrise waren es 1930 über 18 Prozent und später noch mehr.
Aber es geht noch weiter. Weil die rechten Parteien zulegen, verlieren die Regierenden an Stimmen, ihre Mehrheiten schrumpfen. Neue Parteien in den Parlamenten machen das Regieren generell schwieriger. Es reicht ein Blick auf die vertrackten Koalitionsverhandlungen nach der Landtagswahl in Thüringen 2019, um diese These zu bestätigen. Dort regiert gerade Bodo Ramelow mit einer Minderheitsregierung.
„Was wird nun aus uns?”
Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, sind besonders anfällig dafür, rechtsextreme Parteien zu wählen. Unabhängig voneinander zeigen das mehrere Studien. Die Region um Pirmasens in der Pfalz war bis in die 1990er Jahre bekannt für ihre Schuhindustrie, dann mussten aufgrund des Drucks ausländischer Wettbewerber viele Firmen schließen. Heute erreicht die AfD dort in einigen Wahlkreisen bis zu 15 Prozent. Hof und seine Nachbarstädte waren einmal Hochburgen der Textil-Industrie, heute sind sie Hochburgen der AfD. Und die Wende-Schocktherapie entkernte das stolze industrielle Herz Sachsens, die Region um Chemnitz, komplett. Da weinten gestandene Männer, als ihre Bagger und Maschinen in den frühen 1990er Jahren zerlegt wurden und sie ihren Schutzhelm zum letzten Mal in den Spind hängten. „Was wird nun aus uns?”, fragten sie sich.
Diese Frage führt ins Herz der Finanzkrise und des Rechtsrucks. Sie drückt das Gefühl aus, das Sozialwissenschaftler trocken-abstrakt als „ökonomische Unsicherheit“ beschreiben, das Gefühl, das man hat, wenn man 2009 in den Nachrichten sieht, dass Banken mit einer Bilanzsumme von Hunderten Milliarden Euro wanken und man auf der Arbeit mitbekommt, dass die Kunden der Firma lieber erstmal nichts Neues mehr kaufen. Wenn die von der Regierung in der Finanzkrise eingeführte Kurzarbeit vielen Angestellten die betriebsbedingte Kündigung erspart, aber eben nicht allen, und wenn zwar heute alles zu boomen scheint in diesem Land, aber die Löhne in Wirklichkeit nur in den exportstarken Branchen steigen.
Es geht um Angst. Die Wut kommt ganz allein.
Eigentlich verschwinden die Populisten nach zehn Jahren wieder
Geschichten aus der Zeit der Finanzkrise, die beides förderten, gab es genug. So wie die Geschichte von Emmely. Sie war Verkäuferin in einem Supermarkt und wegen der Unterschlagung zweier Pfandbons im Gesamtwert von 1,30 Euro ohne vorherige Abmahnung entlassen worden. Erst der Chef und dann der Rechtsstaat behandelten sie mit einer absurden Härte, während nur eine Handvoll Finanzkrisen-Banker sich jemals vor Gericht verantworten, geschweige denn ins Gefängnis gehen mussten.
Deswegen ist es auch kein Widerspruch, dass Deutschland zwar im Vergleich hervorragend durch die Krise gekommen ist, aber heute eine rechtsextreme Partei um die zwanzig Prozent in den Umfragen holt. Die AfD wurde nicht als Anti-Ausländer-Partei gegründet, sondern auf dem Höhepunkt der Eurokrise als eine konservativ-marktliberale Stimme gegen die „Vergemeinschaftung von Schulden“. Der fast vergessene Bernd Lucke, der AfD-Gründer, ist Professor der Ökonomie und kämpfte dagegen, dass Länder wie Griechenland mit (deutschen) Milliardenhilfen rausgepaukt wurden. Da ging es schon wieder um das Geld der Steuerzahler. Die Eurokrise war eine direkte Folge der Finanzkrise.
Natürlich gibt es einen Kulturkampf um die Frage, wie eine moderne Gesellschaft aussehen soll. Natürlich gewinnt die AfD, gewinnen Orbán und die Brüder Italiens heute, weil sie offen den Rassismus in den Köpfen vieler ihrer Wähler bedienen. Aber das Gefühl der Unsicherheit, das Gefühl des Kontrollverlusts, egal, ob eingebildet oder nicht, hat dafür den Boden bereitet, es hat die Menschen überhaupt erst auf die Idee gebracht, sich außerhalb des Systems umzuschauen.
Der 15. September 2008 spülte Parteien in die Mitte der Gesellschaft, die ein radikal anderes Land wollen.
Normalerweise, das haben die beiden Forscher Trebusch und Funke herausgefunden, verschwinden die populistischen Parteien wieder. Sie konnten auch da sehr genau ausrechnen, wie lange das dauert. Im Schnitt zehn Jahre. Diese Frist ist allerdings ist schon lange abgelaufen.
Redaktion: Esther Göbel; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel (Aufmacher: iStock / PeskyMonkey), Audioversion: Christian Melchert