Es war 3.30 Uhr morgens. Ich war auf dem Weg nach Hause von der Junggesellinnenfeier meiner besten Freundin. Früher am Abend hatten wir gefeiert, uns Essen liefern lassen, Cocktails und Sekt getrunken und uns dann zur Bar „The Piston“ aufgemacht. Wir kamen gegen 23.30 Uhr dort an und tanzten wie verrückt zu MGMT, David Bowie, Blur und The Strokes. Ich bestellte einen halben Liter Steamwhistle-Bier am Tresen und trank dann für den Rest der Nacht Wasser.
Es war höllisch heiß draußen; perfektes Sommerkleidwetter. Ich trug ein kleines hellblaues Kleid mit meinen weißen Segeltuch-Keds. Ich fühlte mich stark und sexy und feminin.
Die Stimmung in der Bar war perfekt. Dutzende glücklicher Menschen tanzten und summten und sangen und lachten. Ein paar Jungs haben den ganzen Abend über mit mir geflirtet, und jedes Mal habe ich ihnen höflich gesagt, dass ich nicht interessiert bin, und dass ich hoffe, dass sie den Rest des Abends genießen. Sie nahmen diese Ansage mit Respekt auf und gingen zurück zum Tanzen, Trinken oder Quatschen mit ihren Freunden. Ich war glücklich, voller Kraft und in Frieden mit der Welt. Ich tanzte und fühlte mich großartig und musste keine gruseligen Männer abwehren, die mich betatschen wollten. Wie schön, einem Mann Nein sagen zu können und ihn mühelos meine Wünsche respektieren zu lassen. Was für eine Zeit zum Lebendigsein! Vielleicht wurde es tatsächlich besser.
Meine Freunde und ich verließen die Bar gegen 2.45 Uhr. Wir machten spontan einen Stopp bei McDonalds. Mir fiel auf, dass McDonalds jetzt die Kalorien für jedes einzelne Gericht auf der Speisekarte auflistet. Ich missbillige das ausdrücklich, habe meinen Freunden gesagt – während wir auf unser sündiges nächtliches Vergnügen warteten.
Ich habe eine McDonald's Poutine (ja, das gibt es!) mit der künftigen Braut geteilt; ich kenne sie, seit wir beide kleine Mädchen waren. Sie ist eine wunderbare Frau geworden, die mit mir durch Dick und Dünn gegangen ist. Ich mag sie sehr und kann es kaum erwarten, dass sie diesen Herbst ihre ebenso schöne Verlobte heiratet. Albern, betrunken, verschlafen blödelte die Gruppe herum, während wir da saßen und unsere fettigen Siegesmahlzeiten genossen.
Im Sommer laufe ich gern die 30 Minuten nach Hause
Wir verlassen McDonalds und unsere Wege trennen sich. Alle außer mir übernachten in der Wohnung der Cousine der künftigen Braut; die Cousine lebt – wie ich – in Toronto. Ich wohne in der Nähe und freue mich darauf, in meinem eigenen Bett zu schlafen. Ich umarme alle, und wir machen schon mal Pläne, uns morgen zum Brunch zu treffen. Jemand fragt mich, wie ich nach Hause komme. Ich kann gut laufen, antworte ich. Ich laufe ständig nach Hause. Es sind etwa 30 Minuten zu Fuß, und ich liebe es, im Sommer zu laufen; besonders in warmen Sommernächten wie dieser. Ich bin schon dutzende Male allein nach Hause gegangen. Ich denke kaum noch darüber nach. Jemand sagt mir, ich soll ihnen gleich eine SMS schreiben, wenn ich zu Hause bin. Das sage ich zu. Und gehe nach Westen, immer der Bloor Street entlang.
Es ist so spät, dass mein Freund wahrscheinlich schon wach ist und seinen Tag beginnt. Er lebt vorübergehend in Europa, der Zeitunterschied beträgt sechs Stunden. Ich schreibe ihm eine Nachricht. Er antwortet. Wir chatten aufgeregt hin und her; er wird in weniger als zwei Wochen wieder nach Toronto zurückkommen, nachdem er in den letzten zweieinhalb Monaten zum Arbeiten weg war. Ich erzähle ihm, wie viel Spaß die Nacht gemacht hat und dass er das Einzige war, was fehlte. Er sagt mir, dass er meine dummen, betrunkenen Texte liebt.
Ich biege links von der Bloor Street ab und laufe auf der Brock Street nach Süden. Eine Straße im Wohngebiet scheint mir sicherer als eine Hauptstraße, weil es keine aggressiven betrunkenen Idioten geben wird, die von den Bars nach Hause gehen. Ich schreibe weiterhin meinem Freund. Ich höre eine Autotür hinter mir. Ich denke nicht viel darüber nach. Ich gehe weiter und höre jemanden hinter mir gehen. Ich fühle mich kurz beunruhigt, nehme aber an, dass es nur jemand ist, der nach Hause geht und zufällig in der Nähe wohnt.
Du erzwingst eine Umarmung und fasst mich an den Po
Du tauchst in meinen Augenwinkeln auf. Du gehst jetzt direkt neben mir. Du sagst Hallo und fragst mich, wie ich heiße. Ich sehe dich an. Du bist wahrscheinlich ein paar Jahre jünger als ich und ein paar Zentimeter kleiner als ich. Du siehst extrem normal aus. Du könntest ein Mitarbeiter oder Klassenkamerad oder Teamkollege von mir sein. Ich bin erst beunruhigt, aber ich bin schon mal mit solchen Situationen umgegangen. Ich halte an, wende mich dir zu und erkläre dir, dass ich dir meinen Namen nicht sagen werde. Ich sage dir, dass ich will, dass du mich in Ruhe lässt. Ich sage dir, dass ich mich bei dir unwohl fühle. Ich bitte dich, geh weg.
Du lässt nicht locker. Du zeigst auf meinen Unterarm und sagst mir, dass du mein Tattoo magst. Du weißt es nicht, aber meine Tätowierung ist eine persönliche Erinnerung, um mir selbst dankbar zu sein. Ich musste hart arbeiten, um von Leuten zu genesen, die mich so behandeln, wie du es jetzt tust. Du fragst mich, ob du mich mal umarmen kannst. Ich sage dir, dass es keine Umarmung gibt und dass du mich einfach in Ruhe lassen sollst. Ich sage dir, dass du mir Angst machst, weil ich allein bin und es spät in der Nacht ist.
Du scheinst neben dir zu stehen, bist nervös und aufgeregt. Du lässt mich nicht in Ruhe. Ich gerate jetzt in Panik und habe große Angst. Ich sage dir, wenn du mich nicht in Ruhe lässt, rufe ich die Polizei. Du sagst mir, dass alles in Ordnung ist, keine Sorge. Du sagst mir, du kannst mich nach Hause fahren, wenn ich will. Ich sage dir, ich will nicht, dass du mich nach Hause fährst. Du fragst mich, ob ich dir die Hand schütteln kann. Ich gebe nach und sage dir, dass ich dir die Hand schütteln werde, aber du musst mich in Ruhe lassen. Ich gebe dir die Hand. Du nimmst mein Handgelenk und willst, dass ich deine Genitalien berühre. Ich breche aus deinem Griff aus, du erzwingst eine Umarmung und fasst an meine linke Arschbacke. Ich schubse dich weg und sage dir, dass du von mir weggehen sollst, sonst schreie ich, aber ich habe zu viel Angst zu schreien, weil ich die Situation nicht eskalieren lassen will. Ich habe keine Ahnung, ob du eine Waffe hast oder wie stark du bist. Ich weiß nicht mal, ob jemand nah genug ist, um meinen Schrei zu hören.
Wie ein Alptraum, aus dem ich nicht entrinnen kann
Du lässt von mir ab. Du gehst etwa fünf Meter weiter. Dann kommst du wieder auf mich zu und umarmst mich wieder und greifst meinen Arsch. Ich fühle mich, als wäre ich das Opfer einer Art Mutprobe, die deine Freunde dir aufgezwungen haben. Ich habe nicht mal das Gefühl, dass du es genießt. Du scheinst impulsiv, verwirrt; verwirrt über das, was du tust. Ich glaube, du entschuldigst dich sogar einmal. Ich bemühe mich, dich wieder loszuwerden und versuche herauszufinden, wie ich mein Telefon benutzen kann, um die Polizei zu rufen, aber ich kann nicht klar denken. Du gehst wieder weg, aber dann kommst du wieder auf mich zu, und es fühlt sich wie ein Alptraum an, dem ich nicht entkommen kann.
Ich fange schließlich an, dich anzuschreien, damit du mich in Ruhe lässt. Du sagst mir, dass es dir leidtut und dass du besoffen bist. Du sagst mir, dass du einfach über die Straße pinkeln gehst. Du gehst über die Straße pissen. Du kommst wieder auf mich zu, und ich habe Angst vor dem, was du als nächstes tun wirst. Zum Glück entscheidest du, dass du genug hast. Ich habe dich gelangweilt. Mit mir macht es keinen Spaß. Vielleicht hat mein Geschrei dir Angst gemacht, erwischt zu werden. Du rennst vor mir weg in Richtung Bloor Street.
Ich klappe auf dem Bürgersteig zusammen und breche in Tränen aus. Ich habe in meinem Leben viel geweint, aber nie so. Ich hatte schon mal Angst, aber noch nie so. Ich kann nicht glauben, was gerade passiert ist. Erst gestern hatte ich darüber geschrieben, dass ich mich zum ersten Mal in meinem Leben endlich wohlfühlte, allein zu sein mit meinen eigenen Gedanken. Endlich. Nach 15 Jahren der Flucht vor der Wirklichkeit eines anderen sexuellen Übergriffs. Ich konnte endlich allein sein. Um die Einsamkeit zu genießen. Um mich zu amüsieren. Keine Angst zu haben.
Du warst der klischeehafte Fremde an einem dunklen Ort
Und dann kamst du. Du und dein Klischee von dem, was die Leute denken, was sexuelle Gewalt ist. Alle meine früheren Verletzungen wurden von Leuten begangen, die ich von Orten kannte, die mir vertraut waren; du warst der klischeehafte Fremde an einem dunklen Ort. Bei allen meinen früheren Verletzungen dauerte es Tage, Monate oder Jahre, um sie zu erkennen; sie waren nicht schwarz und weiß. Ich wusste sofort, was du tust und dass es falsch war.
Und als ob du nicht genug wärst: Während ich auf dem Bordstein sitze und versuche, meine Gedanken zu sammeln, hält ein anderes Auto neben mir. Ein älterer Mann steigt aus und hockt vor mir auf der Straße und fragt mich, ob es mir gut geht. Er sieht härter aus als du. Er sieht aus, als könnte er obdachlos sein. Oder vielleicht lebt er in seinem Auto. Er hat eine Tasse vom Schnellrestaurant Tim Hortons. Er bietet mir die Tasse an und sagt, dass Tee drin ist. Er sagt, er hat heute Geburtstag. Das ist lustig. Mein Geburtstag war Mittwoch. Er fragt mich, ob er mich nach Hause fahren soll. Ich sage ihm Nein, und dass ich nicht mit ihm reden will, weil mir gerade etwas Beängstigendes passiert ist, und ich werde ein Taxi rufen. Er fasst mich nicht an, aber er geht nicht.
Ich habe keine Ahnung, ob er wirklich versucht, mir zu helfen, oder ob er nur darauf wartet, an die Reihe zu kommen. Ich schaffe es, ein Uber-Taxi auf meinem Handy zu bestellen. Es ist nur eine Minute entfernt. Gott sei Dank. Ich glaube, dass dieser neue Mann mir in einer Minute nicht allzu viel antun kann. Am Ende bietet er mir seinen Führerschein an, wenn er mich nach Hause fahren darf, damit ich weiß, dass er mir nicht wehtun wird. Ich versuche, meinen Freund anzurufen. Der Anruf wird nicht angenommen. Das Uber-Taxi kommt. Mein Freund ruft an, während ich die Tür öffne. Ich breche wieder zusammen und der Uber-Fahrer hört mir zu, wie ich meinem Freund erkläre, was passiert ist, unkontrolliert schluchzend. Der Fahrer sagt mir, dass es ihm leidtut, dass das passiert ist. Ich weiß nicht, wie ich mit ihm und meinem Freund gleichzeitig reden soll. Mein Freund steht unter Schock. Ich stehe unter Schock. Unterbewusst bete ich, dass der Uber-Fahrer mich einfach nach Hause bringt und nicht in eine Gasse fährt und mich vergewaltigt.
Ich komme nach Hause. Ich stolpere in meine Wohnung. Mein Freund ist mitten in einer Arbeit und hat keine Zeit, aber er sagt mir, dass er mich liebt und dass wir so schnell wie möglich reden werden. Ich rufe meine Freundin an, die künftige Braut. Sie nimmt nicht ab. Ich rufe eine andere enge Freundin an. Sie nimmt nicht ab. Ich rufe meine Mutter an. Sie nimmt nicht ab. Ich rufe 911 an und berichte, was passiert ist, und die Frau am Telefon sagt mir, dass sie Polizisten zu meiner Adresse schickt, um aufzunehmen, was passiert ist. Ich fühle mich völlig verwirrt, dass Polizisten zu mir nach Hause kommen. Ich traue den Bullen nicht. Ich weiß, wie sie die Opfer oft behandeln. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.
Es hat Jahre gedauert, mich von Übergriffen zu erholen
Ich will dich melden, weil ich dich nicht für mich behalten will. Ich will dich nicht verstecken. Ich will nicht verinnerlichen, was du getan hast, und ich schäme mich und fühle mich, als wäre es meine Schuld. Ich kann bereits meine innere Stimme hören, die mich für so eine verdammte Idiotin hält, weil ich dachte, es sei sicher, so spät nachts alleine nach Hause zu gehen. Alle anderen Übergriffe und Verstöße behielt ich für mich, bis sie durch mein Inneres faulten. Es hat Jahre gedauert, bis ich mich von ihnen erholt habe. Ich weigere mich, dass du dir Jahre von mir nimmst.
Meine Freundin ruft mich an. Sie sagt mir, dass sie mich lieb hat und es ihr leidtut und dass sie rüberkommen kann, wenn ich will, oder dass ich die Nacht bei ihr bleiben kann. Meine andere Freundin ruft mich an und sagt mir, dass sie sofort vorbeikommt. Meine Mutter ruft mich an und sagt, sie liebt mich und es tut ihr so leid, dass das passiert ist. Die Polizisten tauchen auf. Ich rede mit ihnen auf der Veranda meines Hauses, weil ich meinen Mitbewohner nicht wecken will. Die Bullen befragen mich. Ich erzähle ihnen von dir. Ich weiß es zu schätzen, dass einer der Polizisten weiblich ist. Sie ist diejenige, die mir die Fragen stellt. Sie macht mich nicht noch mehr zum Opfer, was eine angenehme Überraschung ist.
Ein paar Minuten nach dem Interview kommt meine Freundin in einem Uber-Taxi an. Sie umarmt mich und setzt sich neben mich auf meine Veranda. Ich halte ihre Hand, während ich weiter mit der Polizistin rede. Ich habe nie bemerkt, wie klein die Hände meiner Freundin sind, aber ich bin so dankbar, sie bei mir zu haben.
Als die Polizistin mir weiterhin Fragen stellt, trete ich einen Schritt neben mich und beobachte, wie ich mit den Bullen über dich rede. Ich habe mich immer gefragt, wie sich so was eigentlich anfühlt. Ich bin fasziniert von dem, was passiert. Ich möchte es mir aufschreiben.
Ich will nicht, dass du schlimmer wirst
Sprung zurück in die Realität: Ich erzähle ihr, wie du versucht hast, mich deinen Schwanz anfassen zu lassen und wie du meinen Arsch gepackt hast, als wäre es deiner zum Nehmen. Ich sage ihr, dass ich nicht genau weiß, in welcher Reihenfolge die Dinge geschehen sind, aber ich beschreibe alles, woran ich mich erinnere. Sie bittet mich, dich zu beschreiben. Das mache ich. Sie fragt mich, ob ich dich erkennen würde, wenn ich dich wiedersehe. Ich sage ihr, vielleicht. Ich weiß es nicht. Sie fragt mich, ob ich eine Anzeige erstatten möchte, wenn sie dich finden. Ich frage sie, ob ich das jetzt sofort beantworten muss. Sie sagt nein. Ich sage, ich will das jetzt nicht beantworten. Ich glaube nicht, dass unser Justizsystem Menschen wie dich rehabilitiert; ich denke, es macht alles noch schlimmer. Ich will nicht, dass du schlimmer wirst. Aber ich will auch nicht, dass du das noch mehr Leuten wie mir antust. Ich weiß, dass sie dich nie finden werden. Aber selbst, wenn sie es täten: Ich weiß nicht, was ich mir wünsche, dass mit dir geschehen soll.
Die Polizistin ist fertig mit ihren Fragen. Sie sagt mir, dass die Polizisten zurück zum Tatort gehen und schauen werden, ob es in der Nähe Kameras gibt, die Aufnahmen von deinem Auto oder deinem Gesicht oder deinem Nummernschild gemacht haben könnten. Sie sagt, dass mich jemand in den nächsten zwei bis drei Tagen anrufen wird, um mich auf dem Laufenden zu halten. Sie gibt mir die Telefonnummer der Opferberatung, der Toronto Police Victim Services.
Ich weiß, dass ich dort nicht anrufen werde. Ich habe bereits einen Therapeuten genau zu diesem Zweck. Ich weiß, wie es läuft. Ich werde darüber reden, darüber schreiben, darüber weinen und in meine Matratze boxen. Ich werde deswegen unter Schlaflosigkeit leiden, mir sagen lassen, dass ich tapfer bin, weil die Leute nicht wissen, was sie mir dazu sagen sollen. Mir wird es schon gut gehen. So wie immer.
Ich würde alles dafür geben, in dein Gehirn schauen zu können
Das ist der Unterschied zwischen uns beiden. Mir wird es gut gehen. Du hast mir gestern Abend kurz meine Kraft gestohlen. Du hast mich kurz wie ein Objekt behandelt. Du hast mich kurz daran erinnert, dass jeder Mann mich jederzeit töten kann, wenn er Lust dazu hat. Trotz alledem wird es mir gut gehen. Ich weiß, dass es nicht um mich geht. Ich weiß, dass es um dich geht. Ich weiß, dass ich das nicht verdiene. Ich weiß, dass das nicht meine Schuld ist. Ich weiß, dass verletzte Menschen andere verletzen. Ich weiß, dass du verletzt bist.
Ich weiß, dass du genau wie ich ein wertvolles neugeborenes Baby warst. Du bist von einem hilflosen Wesen zu einem neugierigen Kleinkind herangewachsen. Du hast es wahrscheinlich genossen, mit Spielzeugautos, Legos oder Murmeln zu spielen. Oder vielleicht mochtest du es, Festungen zu bauen, Blumen zu pflücken oder dich zu verkleiden.
Ich habe ein paar Fragen an dich, den Mann, der mich gestern Abend angegriffen hat. Ich würde alles dafür geben, um in dein Gehirn schauen zu können und deine Welt zu verstehen.
Was ist mit dir passiert?
Was hat dich zu einem Mann gemacht, der in die Körper von Frauen eindringt und sie verletzt?
Wer hat dir das angetan?
War es unsere Gesellschaft als Ganzes?
War es Pornografie?
Waren es Filme, Videospiele und Fernsehen?
War es ein missbräuchlicher Elternteil oder Großelternteil oder
Geschwister oder Lehrer oder Coach?
Wurdest du in der Schule schikaniert?
Hat dir jemand beigebracht, dass Frauen wie ich dir unsere Körper zur Verfügung stellen müssen?
Hat dich jemand davon überzeugt, dass Vergewaltigung und Gewalt und Aggression der einzige Weg sind, wie du als Mann befriedigt werden kannst?
Hast du noch nie Sex erlebt, der liebevoll, einvernehmlich und intim ist?
Glaubst du, dass es dir gut tun wird, wenn du mich zwingst, deinen Schwanz zu greifen?
Willst du nur vor deinen Freunden damit angeben?
Ist dir nicht klar, dass es sich so viel besser anfühlt, einen Menschen zu achten und zu respektieren, als ihn zu entmenschlichen?
Glaubst du wirklich, dass ich kein Mensch bin, nur weil ich eine Frau bin?
Behandelst du alle so?
Hat dich jemand so behandelt?
Wurdest du noch nie gemocht?
Hast du noch nie Liebe gespürt?
Ich bin so verdammt am Boden zerstört – für dich
Ich will es unbedingt wissen. Ich will so verzweifelt einen Weg finden, dir und all den anderen Jungs zu helfen, die sich in Männer wie dich verwandeln. Ich will verstehen, was sich ändern muss, damit du nicht das Gefühl hast, dass du das tun musst. Ich kann mir nicht vorstellen, wie dein Leben sein muss. Die katastrophale Weite der Traurigkeit und der Einsamkeit, die sich irgendwo tief in dir drin verstecken muss. Ich fühle diese Traurigkeit. Ich bin so verdammt am Boden zerstört – für dich.
Mir wird es gut gehen. Es könnte eine Weile dauern, aber mir wird es gut gehen.
Ich hoffe, du findest einen Weg, dass es dir gut geht.
Du verdienst keinen Frauenkörper. Aber du verdienst Liebe, Geborgenheit und Wärme. Ich hoffe wirklich, dass du diese Dinge irgendwo findest.
Mit freundlichen Grüßen.
Die Frau, die du letzte Nacht angegriffen hast
Danielle Sheahan ist Ingenieurin, Marketingstrategin und multidisziplinäre Designerin – mit dem lebenslangen Wunsch, anderen zu helfen. Sie hat ihren Artikel „A Letter To The Man Who Assaulted Me Last Night“ zunächst auf Englisch bei Medium veröffentlicht.
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin hat Vera Fröhlich den Text übersetzt. Redaktion Theresa Bäuerlein. Schlussredaktion: Rico Grimm. Bildredaktion Martin Gommel (Aufmacherfoto: unsplash / Ethan Haddox).