Luise Meier
Luise Meier, geboren 1985 in Ost-Berlin, ist freie Autorin. Sie hat Philosophie, Kulturwissenschaften, Literaturwissenschaften und Sozial- und Kulturanthropologie in Berlin und Frankfurt (Oder) studiert. Außerdem hat sie kulturkritische Essays zu Kapitalismuskritik und Frauenbewegung geschrieben. Gerade ist ihr Buch „MRX Maschine“ erschienen. Dahinter verbirgt sich ein wütender Aufruf, Marx als Zündschnur zu gebrauchen.
„Aber ich muss meine Zwecke durch dick und dünn verfolgen und der bürgerlichen Gesellschaft nicht erlauben, mich in eine money-making machine zu verwandeln.“
MEW Band 29, S. 570
In diesem Satz, der sich in einem Brief von 1859 an Joseph Weydemeyer („Weiwi“) findet, begegnet uns Marx anders, als wir es von seinen wissenschaftlichen und journalistischen Schriften her gewohnt sind. Er schreibt als Theorieproduzent, als Theoriearbeiter, als Individuum, das selbst in Verhältnisse eingebunden ist, die es zu analysieren und umzuwerfen gilt. Hier steht nicht die Klarsicht, die logische und wissenschaftliche Argumentation im Vordergrund, die ein neutraler, übermächtiger Geist absondert, sondern der Kampf, der einer solchen Klarsicht in der Praxis der Einzelnen vorausgeht, nachfolgt und in sie eindringt. Da spricht eine Person, auf die die Ansprüche einprasseln, die sich aus seiner gesellschaftlichen Position als bürgerlicher Intellektueller zwangsläufig ergeben.
Dass Marx sich hier nicht gegen das Kapital oder den Kapitalismus wehren zu müssen meint, sondern gegen die bürgerliche Gesellschaft, legt den Finger auf die Wunde, die woanders als bürgerliche Moral, Ideologie oder Verblendung benannt wird. Die Frage, die mitschwingt, lautet, wie ist es möglich, innerhalb der falschen Verhältnisse auf einen richtigen Gedanken zu kommen. Und anders herum gedacht: Das Denken muss manisch um den Umsturz der falschen Verhältnisse kreisen und diesen vorantreiben, um sich selbst die Verhältnisse zu schaffen, in der es so etwas wie Wahrheit gewinnt. Deswegen ist der Satz nicht als Zustandsbeschreibung formuliert, sondern als „Aber …“, als dauernder Einspruch, als selbstgesetzte und immer noch andauernde Aufgabe. Als mitlaufender, eingeschriebener und fortzuschreibender Auftrag – bis überübermorgen.
Frigga Haug
Frigga Haug, geboren 1937, ist Soziologin und emeritierte Professorin an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik. Sie gilt als Grand Dame des marxistischen Feminismus. Haug gibt die Zeitschrift „Das Argument“ mit heraus und ist Redakteurin sowie Mitherausgeberin des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus. Das Wörterbuch ist angelegt auf 15 Bände mit über 1.500 Begriffen (neun Bände sind bislang erschienen).
„Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.“
MEW Band 3, S. 5ff
Die Dritte Feuerbachthese zieht sich durch mein Leben wie eine Art Leitmotiv als Aufforderung im Politischen, bei Praxis- und bei Theoriekritik. Dass beides zusammengehöre, die Veränderung meiner selbst und dabei die Arbeit an der Veränderung von Gesellschaft, ließ mich selbstbewusster atmen. Sollten meine Fragen nach meinem eigenen Wollen und Begehren, nach dem, was mich zusammenhielt, nicht egoistisch und kleinbürgerlich sein, sondern zum großen Ziel der Veränderung der Umstände, also der gesellschaftlichen Verhältnisse gehören, dem ich mich wagemutig verschrieben hatte?
Ich las die Feuerbachthesen immer wieder. Erst sehr spät, nach langen Erfahrungen in Lehre, in Theorie und Praxiskritik begriff ich wirklich, dass Lernen, Selbstveränderung und Veränderung der Umstände nicht einfach als glückliches Wachstum zu erfahren sind. Und dann erst verstand ich, dass revolutionäre Praxis sich nicht auf die Teilnahme an einem blutigen Aufstand bezieht, wie ich zunächst angenommen hatte. Sondern dass die Veränderung der kriegerischen, ungerechten, profitgetriebenen kapitalistischen Gesellschaft nicht von außen und nicht auf einen Schlag geschehen kann, sondern dass unsere Gewohnheiten, unsere individuellen Taten, unser Hoffen und Begehren selbst einbezogen sind, sodass das Projekt der Befreiung der Menschen die Selbstbefreiung aus unserem Gewordensein einschließt. Erst zusammen fasst Marx dies als revolutionäre Praxis.
Rolf Hosfeld
Rolf Hosfeld, geboren 1948, ist Autor und Kulturhistoriker. Nach dem Studium promovierte er mit einer Arbeit über den Dichter Heinrich Heine. Er war unter anderem Redakteur der marxistisch-leninistischen Vierteljahresschrift „konsequent“ und Feuilletonchef der Wochenzeitung „Die Woche“. Hosfeld hat die Marx-Biographie „Die Geister, die er rief“ verfasst, die in mehrere Sprachen übersetzt worden ist. Heute leitet er das Lepsiushaus in Potsdam, das sich der deutsch-armenisch-türkischen Geschichte widmet.
„Die Bourgeoisie hat bewiesen, was die Tätigkeit des Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge.“
Das Manifest der Kommunistischen Partei. MEW, Band 4, S. 465
Der das schrieb, hatte noch zehn Jahre zuvor in einer Welt gelebt, deren Geschwindigkeit durch die Postkutsche bestimmt war. 1847, als das kommunistische Manifest entstand, verfügte Preußen bereits über 3.200 Kilometer Eisenbahnlinien. Es hatte fast etwas Unheimliches an sich, in welchem Maße und mit welcher Geschwindigkeit der menschlichen Welt Kräfte zuwuchsen, die den gesamten Erdball in einen Zustand der permanenten industriellen, wirtschaftlichen und kommunikativen Revolution zu versetzen schienen.
Marx hielt diese plötzliche und geradezu überpharaonische Gewalt und Stärke des Kapitalismus für so fragil, dass er ihr keine lange Lebensdauer zutrauen wollte. Grandiose Scharfsichtigkeit stand bei ihm manchmal fast zwangsläufig neben irrationalen Heilserwartungen. Sein antinomisches Denken verführte ihn vor allem dazu, Widersprüche, die sich in einem Prozess des Trial and Error als auflösbar erweisen konnten, grundsätzlich für unauflösbar zu erklären. Das bedeutet aber nicht, dass die Widersprüche, die er in der modernen Welt entdeckte, nicht existierten.
Nadja Rakowitz
Nadja Rakowitz, geboren 1966, ist Geschäftsführerin des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte, einem Berufsverband, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht. Zuvor arbeitete sie am Institut für Medizinische Soziologie in Frankfurt am Main. Sie ist Mitglied der Marx-Gesellschaft, hat ihre Doktorarbeit zum Thema „Einfache Warenproduktion“ geschrieben und kritisiert die politische Ökonomie des Öffentlichen Gesundheitswesens.
„Aber innerhalb der bürgerlichen, auf dem Tauschwert beruhenden Gesellschaft erzeugen sich sowohl Verkehrs- als Produktionsverhältnisse, die ebenso viele Minen sind, um sie zu sprengen. (Eine Masse gegensätzlicher Formen der gesellschaftlichen Einheit, deren gegensätzlicher Charakter jedoch nie durch stille Metamorphose zu sprengen ist. Andrerseits, wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichoterie.)“
Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Band 42, S. 93
Dieses Zitat aus einer Vorarbeit zum „Kapital“ gefällt mir deshalb so gut, weil hier deutlich wird, dass Geschichte ein von Menschen gemachter und zu machender Prozess ist und dass die anzustrebende klassenlose Gesellschaft einerseits eine grundsätzliche Änderung der jetzigen Gesellschaft notwendig macht, die nicht von alleine kommen wird. Andererseits wird hier aber auch gesagt, dass es in der jetzigen so verkehrten Gesellschaft dennoch schon Anknüpfungspunkte für diese andere, befreite Gesellschaft gibt, dass es hier also nicht um eine Utopie und nicht um ein Entweder-Oder von Reform und Revolution geht.
Bini Adamczak
Bini Adamczak, geboren 1979, ist Autorin, Wissenschaftlerin und Aktivistin. In ihrem Kinderbuch „Kommunismus“ erklärt sie in Anlehnung an Karl Marx den Kapitalismus und verschiedene, meist gescheiterte Versuche des Kommunismus. Das Buch ist zuletzt auch auf Englisch erschienen und sorgte in den USA für eine Kontroverse, vor allem aufgrund der zahlreichen Besprechungen in konservativen, christlich-fundamentalistischen und rechtsradikalen Medien.
„Könnten die Waren sprechen, so würden sie sagen, unser Gebrauchswert mag den Menschen interessieren. Er kommt uns nicht als Dingen zu. Was uns aber dinglich zukommt, ist unser Wert. Unser eigner Verkehr als Warendinge beweist das. Wir beziehn uns nur als Tauschwerte aufeinander.“
Das Kapital, S. 97f
In jeder Ökonomie muss darüber gesprochen werden, wer, was, wie, wann, in welcher Zeit und Menge produziert, zirkuliert, distribuiert, konsumiert. Welche Bedürfnisse sollen befriedigt werden durch welche Arbeiten? Je größer die Arbeitsteilung, umso umfassender und stetiger dieses Gespräch. Allein, es gibt keine Parlamentsdebatten, keine Volksentscheide, keine Räteversammlungen, in denen über die gesellschaftlichen Bedürfnisse und die Bedingungen ihrer Befriedigungen beratschlagt und entschieden würde. Dennoch muss dieses ökonomische Gespräch stattfinden.
Und es findet statt, aber es sind nicht die Menschen, die sprechen, sondern die Waren. Und sie führen ihn nicht in der menschlichen Sprache, sondern in ihrer eigenen, der Warensprache. Es ist eine totalitäre Sprache, die die globale Ökonomie auf ein einziges Prinzip, abstrakte Arbeitszeit, reduziert. Und es ist eine Sprache der toten Arbeit, eine tote Sprache, die aber im Gegensatz zu Latein gesprochen wird, eine Zombiesprache, die über das Leben der Lebenden entscheidet. Die Ware spricht, das ist ihr Fetisch, ihre Warenfetischsprache. Würden wir die Waren fragen, ob sie sprechen können, so würden sie sich wie Weinbergschnecken in ihre stofflichen Körper zurückziehen und so tun, als wären sie nur bloße, unvertrackte Dinge, unfähig auch nur Pieps zu machen, geschweige denn über die Geschicke der menschlichen Wirtschaft zu entscheiden. Und das ist ihre Ideologie. Wenn wir die Ware fragen, ob sie sprechen kann, dann schweigt sie. Und dann und nur dann lügt sie.
Produktion Vera Fröhlich, Fotoredaktion Martin Gommel (Aufmacherbild: Wikipedia / John Mayall)