Ich dachte eine Zeit lang, Harald Juhnke sei schwarz. Dass ich mich irrte, erkannte ich erst spät. Die Erleuchtung brachte mir ausgerechnet das Rampenlicht. Es schien auf die Bühne, auf diesen älteren, braunhaarigen Herrn mit Seitenscheitel. Er trug einen schwarzen Smoking und ein rotes Einstecktuch und redete mit irgendwem. Ich stand unten im Saal und war geschockt. DAS ist Harald Juhnke? Der Mann, von dem meine Eltern ständig sprachen? Was ist seine Aufgabe auf der Bühne? Warum war ausgerechnet sein Name in aller Munde? Und: Wer ist der andere Typ, den ich für Harald Juhnke gehalten hatte?
Ich kannte Harald Juhnke nicht. Ich war zwar fast acht Jahre alt, aber die Protagonisten der deutschen Unterhaltungsindustrie spielten in meinem Hannoveraner Vorstadtleben eine sehr untergeordnete Rolle. Ich fand Fußball gut, Rudi Völler, und C64. Doch „Halat Junke“ – so nannten ihn meine Eltern – sollte in mein Leben treten und mich prägen. Ich weiß, es klingt wie ein billiger Simpsons-Witz auf Kosten koreanischer Einwanderer. Aber so war es. Das erste Mal, als ich von Harald Juhnke hörte, hieß er Halat Junke.
Meine Erinnerung an diese Geschichte setzt ein, als mich mein Vater in die Innenstadt fuhr – abends. Die Dunkelheit und die spärlich beleuchteten Straßen faszinierten mich. Es war für mich ein Ausflug in die Welt der Erwachsenen. Ich hatte keine Ahnung, wohin wir fuhren, aber es war mir egal. Ich war draußen, quasi nachts, in der Innenstadt.
Ich hatte keine Ahnung, wofür genau wir das machten
Die nächste Erinnerung: Ich stehe in einem großen Raum, eine Art Foyer, mit vielen anderen Kindern und ihren Eltern. Fremde Erwachsene sammeln uns Kinder ein und stellen uns auf. Wir laufen in Reih und Glied, links herum, rechts herum, im Kreis. Es fühlte sich ein bisschen an wie Kindergeburtstag, nur ohne Geschenke und Luftballons. Auch einige andere Kinder aus der koreanischen Schule waren für diese Aktion auserwählt worden und marschierten mit.
Eine Sache fand ich besonders doof: Wir sollten uns an den Händen halten, zwei Kreise bilden, einen inneren und einen äußeren – und dann immer abwechselnd auf einem Bein seitlich hin- und herwippen. Hätte ich mehr Chuzpe gehabt, hätte ich an dieser Stelle wohl gesagt: Leute, so nicht! Aber ich war sieben Jahre alt. Ich kannte das Wort Chuzpe nicht, und Mut hatte ich auch keinen. Also wippte ich mit.
Ich hatte keine Ahnung, wofür genau wir das alles machten. Ich wusste nur: Es war für die „Halat Junke Show“. Irgendwann kam Musik dazu. Bei den Proben lief das Lied „One hundred Children“ über die Boxen. Wir hatten den Text vorher zum Lernen bekommen. Er war auf Englisch, was mich in die Bredouille brachte, weil ich mit sieben noch kein Englisch sprechen konnte. Aber ich bekam es irgendwie hin. Dann kam die erste Probe auf der Bühne: Groß war sie, von grellen Scheinwerfern erleuchtet, unten Menschen an Tischen. Wir gingen raus, liefen in Schlangenlinien und sangen:
„One hundert Children, BRAVE Boys and Girls,
we come from Nations from all over the World,
one hundert children, marching along,
one hundert children singing their Song“
Auf einmal singen viele andere Kinder mit
Aber was war das? Da sang noch jemand. Andere Kinder. Es kam aus den Boxen. Der Song, den wir die ganze Zeit gehört hatten, lief während unseres Auftritts. Und es war laut. Uns hört man gar nicht. Ich weiß noch, wie empört und etwas verstört ich auf der Bühne umherirrte. Dass ich mich gefragt habe: Warum nehmen die nicht gleich die Kinder, deren Gesang aus den Boxen tönte? Warum singen wir mit, wenn man uns dann doch nicht hört?
Das Prinzip des Playbacks war mir bis dahin nicht geläufig gewesen. Auch merkwürdig: Warum singen wir von „One hundert Children“, wenn wir in Wahrheit nicht mal 50 Kinder waren? Ich fand es irgendwie unehrlich. Ein wenig Erleichterung spürte ich aber auch: Ich kann mich beim Auftritt nicht lächerlich machen, wenn ich mich versinge, dachte ich. Hört ja keiner.
Mit uns auf der Bühne stand nun ein großer schwarzer Mann, den ich zuvor noch nicht gesehen hatte, und der gemeinerweise auch nicht zu den Proben gekommen war. Er stand regungslos in der Mitte herum, während wir ihn umkurvten und ja – auch umwippten. Seine Stimme war sehr tief, warm und auffällig angenehm. Aha, das ist also Halat Junke. Kann echt gut singen, dachte ich.
Die Erinnerung spielt einem ja so manchen Streich. Ich glaube, dass wir mehrmals vor Publikum auftreten mussten, bevor der echte große Abend der TV-Aufzeichnung kam. Vielleicht gab es aber auch nur eine Generalprobe. Auf jeden Fall weiß ich noch, dass mich meine Mutter nach einem Auftritt belustigt beiseite nahm. Sie sagte, ich solle doch bitte vermeiden, mich auf der Bühne am Hintern zu kratzen.
Sie verwendete sicher andere Worte, aberdie Botschaft war klar: Puhl dir nicht am Po rum, wenn du im Rampenlicht stehst. Eine Message, die ich seitdem in mir trage. Ich hatte tatsächlich gedacht, dass es keiner sehen würde. Hinten in der Ecke, direkt beim U-Turn an der Box würde es schon keiner bemerken. Falsch gedacht. Zum Glück war es nicht der ganz große Fernsehauftritt.
Der große schwarze Mann war nicht „Halat Junke“
Das nächste Gelächter brach aus, als ich zu erkennen gab, dass ich glaubte, der große, schwarze Mann sei Harald Juhnke. Meine Eltern klärten mich auf: „Nein, das ist nicht Halat Junke, DAS ist er!“ Und dann zeigten sie auf einen hellhäutigen, älteren Herrn im Anzug. Ich verstand die Welt nicht mehr. Aber der macht doch überhaupt nichts, dachte ich enttäuscht.
Der dunkleMann, der nicht Harald Juhnke war, hatte mich mehr beeindruckt. Er strahlte so eine Ruhe und Souveränität aus und gehörte zu der Art von Menschen, bei denen man sich schlecht vorstellen kann, dass sie in der Lage sind, schnelle Bewegungen auszuführen. Was damit zusammenhängen könnte, dass er sich auf der Bühne kaum vom Fleck bewegte. Das war ja unser Job.
Vor der großen Samstagabend-Aufzeichnung hatte ich nur einen Gedanken: Kratz dich nicht am Hintern. Ich trug meine schwarzen adidas-Fußballschuhe, eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und meinen Lieblings-Nicki-Pulli mit weißen, roten und blauen Streifen – natürlich in die Hose gesteckt. Und dann ging’s los. Wir Kinder liefen Polonaise ohne Anfassen, wippten hin und her, bildeten Kreise und sangen lauthals zum Playback. Der dunkle Mann stand da im Rampenlicht wie eine Lichtfigurund sang mit seiner geschmeidigen Stimme eine wichtige Botschaft an alle Erwachsenen.
„Don’t blow up the world, don’t kill all the flowers
Today this is your world, tomorrow it’s ours
Leave us pure water and forest uncut
Think of tomorrow, leave something for us.“
Den Dialog habe ich bis heute nicht vergessen
Der Auftritt verlief ohne weitere Vorkommnisse. Unter Applaus marschierten wir von der Bühne. Der falsche Harald Juhnke verbeugte sich, zeigte anerkennend mit der rechten Hand in unsere Richtung, bis der echte Harald Juhnke klatschend ins Bild kam und anerkennend mit seiner linken Hand in Richtung des Sängers deutete. Dann folgte der Dialog, den ich bis heute auswendig kann.
Harald Juhnke (der echte): THANK YOU!
Harald Juhnke (der falsche): THANK YOU!
Harald Juhnke (der echte): THANK YOU, MR. KAMAHL!
Mr. Kamahl: Thank You.
Harald Juhnke: Is this all your Children? Sind das alles ihre Kinder?
Mr. Kamahl (lacht): I am not that strong!
Harald Juhnke: So stark isser nicht, meint er.
(Gelächter)
Harald Juhnke: Na, kann ja noch kommen, ist ja noch jung … Ah, wen ham wa denn da?
(Vier Kinder laufen auf die Bühne.)
Harald Juhnke: Ja, kommt mal her. Darf ich mal (nimmt das Mikrofon von Mr. Kamahl)
Ja, wer bist denn du?
Kind 1: Steffen Riggert (Schreibweise womöglich nicht korrekt)
Harald Juhnke: Und wo kommst du her?
Kind 1: Aus Hannover.
Harald Juhnke: Aus HANNOVER! Ein Hannoveraner!
(Applaus)
Harald Juhnke: Ja und meine Süße, wie heißt denn du?
Kind 2: Fahrnas Gharabaghi (Schreibweise womöglich nicht korrekt)
Harald Juhnke: Und wo bist du her?
Kind 2: Aus dem Iran.
Harald Juhnke: Aus dem Iran!
(Applaus)
Harald Juhnke: Jetzt komm du mal her. Bitte. Wie heißt du?
Kind 3: Vivian Berhane (Schreibweise womöglich nicht korrekt)
Harald Juhnke: Und wo bist du her?
Kind 3: Aus Eritrea.
Harald Juhnke: Aus Eritrea!
(Applaus)
Harald Juhnke: Und du mein Süßer. Wie heißt du?
Kind 4: Frank Joung
Harald Juhnke: Und wo kommst du her?
Kind 4: Aus Korea.
Harald Juhnke: Aus KOREA KOMMT ER!
(Applaus)
Harald Juhnke: Frank, und weißt du denn auch, wie ich heiße?
Kind 4: Ja, Harald Juhnke.
(Gelächter)
Harald Juhnke: Jahaha. Danke schön!
(Applaus, Abgang der Kinder und Mr. Kamahl)
Harald Juhnke: THANK YOU, Mr. KAMAHL! Thank you! Ein Applaus für Mr. Kamahl!
Puh, das war gerade noch mal gutgegangen. Nicht auszudenken, wie unangenehm es gewesen wäre, wenn meine Eltern mich nicht vorher noch aufgeklärt hätten, wer wirklich Harald Juhnke war. Wobei ich mit meinem Auftritt hinterher gar nicht zufrieden war. Ich fand, dass ich peinlich genuschelt hatte, und später beim Lächeln entblößte ich meine Zahnlücken. Es war mir unangenehm.
Natürlich hatten all unsere Freunde und Bekannten „Wie wär’s heut’ mit Revue?“ gesehen. 1984 saß die Familie Samstagabend um 20.15 Uhr noch gemeinsam vor dem Fernseher. Nachbarn sprachen uns an, in der Schule war es Thema – ich stand meistens stumm da und ließ das Lob über mich ergehen.
Ein Jahrzehnt später holte mich das Thema wieder ein
Über die Jahre geriet mein Auftritt bei Harald Juhnke in Vergessenheit. Erst als ich meinen 18. oder 19. Geburtstag feierte, kam das Thema wieder auf. Ich wollte gerade mit meinen Jungs losziehen, als meiner Mutter – durch welche Assoziation auch immer – mein kurzer Dialog mit Harald Juhnke in den Kopf schoss. „Frankjoung … Haha Halat Junke …“, sagte sie. Meine Freunde waren höchst interessiert: Wie? Was? Harald Juhnke?”
Und ehe ich mich versah, hatte meine Mutter schon die VHS-Kassette herausgekramt und in den Videorekorder gesteckt. Ich hockte genervt und stinksauer auf der Treppe im Flur, während ich die Klänge von „One hundred Children“ vernahm, Mr. Kamahls Gesang, mein genuscheltes „Frankjoung“ – und das Gejohle meiner Kumpels. Sie kriegten sich den ganzen Tagüber nicht mehr ein. Immer wieder tönte es: „AUS KOREA KOMMT ER!“, „Frank, und weißt du denn auch, wie ich heiße? Ja, Harald Juhnke!“ HAHAHA.
Als mir irgendwann der Kragen platzte und die andere realisierten, dass ich bei diesem Thema keinen Spaß verstehe, sagte mein Kumpel Ronaldo einen Satz, der für mich auf lange Sicht alles veränderte: „Mann, sei doch stolz drauf: Du durftest den Schlussgag machen!“
Aus dieser Perspektive hatte ich es noch nie gesehen. Die vermeintliche Peinlichkeit transformierte sich plötzlich in etwas ganz anderes: ein Privileg. Ich hatte mich nicht lächerlich gemacht, sondern andere zum Lächeln gebracht. Nach und nach erkannte ich, wie lustig die Begebenheit doch war, dass ich in einer Samstagabendshow mit Harald Juhnke auf der Bühne stand. Ich konnte den Auftritt nun annehmen als interessante Anekdote in meiner Biografie.
Irgendwann habe ich mir die Show als Erwachsener noch einmal angesehen und war verblüfft, wer da noch alles aufgetreten ist: Ingrid Steeger moderierte, die Weather Girls performten „Raining Men“, Opernsänger Peter Hofmann sang Poplieder und Milva tanzte mit Harald Juhnke Tango.
Mir war gar nicht aufgefallen, dass wir verschieden waren
Und mir dämmerte, warum ich mit diesem Auftritt lange ein ungutes Gefühl verband, das ich nicht richtig fassen konnte: Es ging nicht nur um das Nuscheln. Mit meinen sieben Jahren fand ich, dass ich rüberkam wie jemand, der nicht richtig Deutsch beherrscht. Vielleicht empfand ich auch die Art und Weise, wie wir dafür beklatscht wurden, dass wir aus dem Iran, aus Eritrea oder Korea kommen, instinktiv unangemessen. Das Interessante ist: Bei den Proben war mir nie aufgefallen, dass wir Kinder ein bunter Haufen waren. Menschen mit schwarzen, braunen, blonden Haaren und allen möglichen Hautfarben.
Die Botschaft der Show war ja eine wohlgemeinte, aber letztlich wurde durch die Präsentationsweise mehr unsere Andersartigkeit betont als das, was wir mit allen anderen gemeinsam hatten.Wir stellten Kinder der Welt dar, aber in Wirklichkeit kamen wir aus Niedersachsen. Wir waren nicht zu Gast, wir gehörten dazu.
Auf dem Fernsehbildschirm sah ich mich dann aber fremder, als ich mich selber fühlte.
Ich kann mir bis heute nicht genau erklären, warum ich auf die Frage, woher ich komme, „Korea“ geantwortet habe. Ich glaube, weil die anderen Kinder auch das Herkunftsland ihrer Eltern genannt haben. Vielleicht, weil man es damals immer so gesagt hat und mir diese Erwartung schon bewusst war. Es waren andere Zeiten.
1984 gab es noch keine „Deutschen mit Migrationshintergrund“
Im damaligen Deutschland hat man noch nicht groß unterschieden, ob jemand eingewandert ist oder nur das in Deutschland geborene und aufgewachsene Kind von Einwanderern ist. Genau genommen komme nicht ich aus Korea, sondern meine Eltern. Ich bin in Hannover geboren. „Deutsche mit Migrationshintergrund” – die gab es damals noch nicht.
Ich würde die anderen, die mit mir auf der Bühne gestanden haben, gerne fragen, wie sie den Moment empfunden haben, woran sie sich erinnern und ob Harald Juhnke sie auch so begleitet hat wie mich. Ich möchte wissen, wie es den Kindern von damals, den „Halben Katoffln“, in den letzten knapp 35 Jahren in Deutschland ergangen ist. Was machen sie heute, und kennen sie noch den Text von „One hundert Children“?
Mr. Kamahl, das habe ich erst kürzlich gegoogelt, ist inzwischen 83 Jahre alt und singt immer noch. Was ich nicht wusste: Er ist ein bekannter Sänger aus Australien, aus Malaysia eingewandert, mit indischen Eltern, und hat mehr als zehn Millionen Alben verkauft. Ich werde ihn kontaktieren und nachfragen, ob er sich an diese deutsche Show Mitte der 80er Jahre in Hannover erinnert, an den großen deutschen Entertainer Harald Juhnke und an den kleinen deutsch-koreanischen Jungen, der den Schlussgag machen durfte.
Auf jeden Fall, da bin ich sicher, wird er sich an die Worte aus „One hundert Children“ erinnern:
„This is the song, I was singing one night
While I was thinking of wrong and of right
I thought of good things that still could be done
The marchers now number one hundred and one“
Wie wär’s mit einem großen Wiedersehen?
Ich würde mich freuen, wenn ich „Steffen Riggert“, „Fahrnas Gharabaghi“ und „Vivian Berhane“ (Entschuldigung für die womöglich falsche Schreibweise) und all die anderen wiederfinden könnte, die damals auf der Bühne standen. Daher mein Aufruf: Falls das jemand liest, der dabei gewesen ist, oder jemanden kennt, der dabei gewesen ist, schreibt mir doch eine Mail an: frank@halbekatoffl.de, Betreff: #100Children.
Vielleicht gibt es ja ein großes Wiedersehen, eine Reunion nächstes Jahr zum 35. Jubiläum, und wir marschieren wieder alle zusammen zu „One hundred Children“. Diesmal als Erwachsene.
Der Berliner Journalist Frank Joung ist Moderator des Halbe-Katoffl-Podcasts, einer Gesprächsreihe mit Deutschen, die nicht-deutsche Wurzeln haben. Es geht um Themen wie Integration (gähn), Identität (ach ja) und Stereotypisierungen (oha) – aber eben lustig, unterhaltsam und kurzweilig. Anekdoten aus dem Leben statt Theorien aus dem Lehrbuch.
Redaktion Esther Göbel, Schlussredaktion Vera Fröhlich, Bildredaktion Martin Gommel (Fotos: Youtube).